Trauben verängstigter Wettkämpfer hatten sich um die Zeltstadt versammelt, als Nylian zurückkehrte. Aidalos bahnte sich behutsam einen Weg durch die Menge, während Nylian mit gerecktem Kopf nach Yodda und Kat Ausschau hielt. Endlich entdeckte er Kats hellblonde Haare und im Näherkommen schließlich auch das karottenrote Gewirr auf Yoddas Kopf.
Er sprang aus dem Sattel. „Der Pass ist zu. Luftdicht versiegelt sozusagen.“
„Aber wie ist das möglich?“, fragte Kaithryn. „Berge bewegen sich doch nicht einfach so!“
Nylian sah sich um und senkte dann die Stimme. „Es muss ein Magier gewesen sein“, flüsterte er.
„Du meinst … jemand hat das absichtlich gemacht?“ Yodda wurde blass.
Nylian nickte und sah sich nochmal um. „Kommt, gehen wir irgendwo hin, wo es ruhiger ist.“
Er wollte das, was er entdeckt hatte, nicht inmitten der aufgeregten Menge besprechen. Zu leicht könnte es zu einer Massenpanik kommen.
Die drei Freunde suchten sich ihren Weg zum Rand der Zeltstadt und wanderten dann gemächlich auf den großen Mischwald im Herz des großen Tals zu. Aidalos trottete ihnen hinterher, wanderte aber bald zur Seite ab, um an einigen Grashalmen zu knabbern, völlig unberührt von der Tatsache, dass die Berge von einem mächtigen Zauberer verrückt worden waren.
„Der Pass ist versperrt“, berichtete Nylian. „Auf dem Weg steht jetzt ein großer Berg, es gibt kein Durchkommen. Nach allem, was ich sehen konnte, ist auf der Gegenseite des Tals das Gleiche geschehen, der Haupteingang ist verschlossen. Falls es noch andere Wege gab, so sind sie sicherlich ebenfalls versperrt. Dieses Rücken gestern war kein Naturphänomen, da war ein Wille am Werk. Jemand hat das hier geplant und uns eingesperrt. Ich glaube inzwischen, der Wettkampf war nur ein Vorwand.“
„Haikalos!“, zischte Kaithryn.
„Ich glaube nicht, dass er der Drahtzieher ist.“ Nylian schüttelte leicht den Kopf und runzelte die Stirn. „Er schien sich ehrlich auf den Wettkampf zu freuen. Ich denke eher, er wurde vom demjenigen, der hinter allem steckt, benutzt. Aber vielleicht kann er uns mehr sagen.“
Die beiden Frauen sahen sich um.
„Er war eben noch beim Tor“, murmelte Yodda.
„Er ist fort“, sagte Kaithryn, die das Tor im Gegensatz zu Yodda erblicken konnte. „Weit kann er nicht sein. Suchen wir ihn!“
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Sie spürten Haikalos schließlich in der Zeltstadt auf, wo der Elb eine wackelige Konstruktion aus Holzkisten erklettert hatte und versuche, die Aufmerksamkeit der Umstehenden auf sich zu lenken. Die allgemeine Verwirrung war jedoch so groß, dass nur einige wenige den blonden Elben überhaupt hörten, und selbst diese ließen sich allzu leicht ablenken. Überall ertönten nun laute Rufe, die weitere Hiobsbotschaften verkündeten: „Der Pass im Norden ist verschlossen!“ „Der Zwergentunnel ist verschüttet!“ „Einer hat versucht, über die Berge zu klettern, und ist zu Tode gestürzt.“
„Haikalos!“, rief Kaithryn, als die drei sich zu dem Elben vorkämpften.
„Wer? Ach, ihr drei. Ihr wart aus Helmsieg, oder nicht? Tut mir leid, ich kann euch nicht helfen, nach Hause zu kommen.“
„Ihr könnt es wenigstens versuchen.“ Katerkletterte den Kistenstapel, um sich nicht länger brüllend Gehör verschaffen zu müssen. „Lasst uns an einen ruhigeren Ort gehen!“
„Nein. Ich will die Leute beruhigen, bevor es noch zu Ausschreitungen kommt!“, erwiderte Haikalos.
„Wir müssen wirklich an einem ruhigeren Ort sprechen“, antwortete Kaithryn. „Wir sitzen in einer Falle, und jemand hat das alles geplant.“
„Was?“ Haikalos wurde blass und sah sich nervös um. „Gut, gehen wir, sofort! Und sprecht leiser, verdammt!“
Nylian ritt ihnen auf Aidalos voraus und bahnte so einen Weg durch die Menge. Kaithryn, Yodda und Haikalos folgten im Laufschritt, bis sie wieder am Rand des Wäldchens angelangt waren. Das Stimmengewirr hinter ihnen war lauter geworden. Haikalos warf besorgte Blicke zurück.
„Wusstet Ihr etwas von dieser Sache?“, fragte Kaithryn als erstes und fixierte Haikalos mit einem scharfen Blick.
Der Elb schüttelte den Kopf: „Gewusst? Nein! Nein, auf keinen Fall! Ich hätte niemanden in eine Falle gelockt!“
„Das habt Ihr getan“, sagte Kat mit kalter Stimme. „Doch ich glaube Euch, dass es ohne Absicht und Wissen geschah. Darum müsst Ihr uns helfen.“
„Was immer ich tun kann!“, beeilte sich Haikalos, zu versichern. Er strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. „Ihr denkt wirklich, dass jemand das absichtlich getan hat? Warum, frage ich mich. Und wer?“
„Ein Magier“, meldete sich Nylian zu Wort. „Ein ausgesprochen mächtiger Magier noch dazu. Haikalos – weißt du, wer diesen Wettkampf veranstaltet? Kennst du ihn?“
Der Elb zögerte und dachte offenbar nach. „Nein, ich kenne ihn nicht. Ich habe immer nur mit Zwischenhändlern gesprochen – übrigens jedes Mal mit anderen und häufig waren es junge Burschen, die ohne Verständnis die Worte wiederholten, die man ihnen aufgetragen hatte – und auch der Name des Auftraggebers wurde nie genannt. Er soll ein Graf sein, nannte sich Graf zu Amrais.“
„Und das kam dir nicht seltsam vor?“, fragte Yodda scharf.
Haikalos zuckte mit den Schultern. „Ein wenig schon, aber solche Aufträge sind keine Seltenheit in meinem Beruf. Es geschieht häufiger, dass reiche Edelleute eine Veranstaltung organisieren und nicht wollen, dass man ihre Identität kennt. Sie tun es, um Frauen zu beeindrucken, ihre Konkurrenten auszuspionieren oder um das Volk zu beschäftigen. Viele lassen Wettbewerbe veranstalten, um selbst daran teilzunehmen und falschen Ruhm zu ernten. Das einzig Seltsame war der Standort und die Größe des Wettkampfs. Ein Wettbewerb, zu dem ganz Lirhajn eingeladen wurde, erschien mir nur wie eine Herausforderung an mich als Veranstalter.“
Die drei Freunde schüttelten entgeistert die Köpfe.
Haikalos hob entschuldigend beide Hände. „Hätte ich geahnt, dass etwas nicht stimmte, so hätte ich alles abgebrochen. Aber ihr müsst verstehen, dass die Wettkämpfe bis ins letzte Detail durchgeplant worden waren. Es gab keinen Grund, an der Ehrlichkeit meines Auftraggebers zu zweifeln.“
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„Ich glaube ihm“, sagte Yodda, nachdem Haikalos gegangen war, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Von ihrem Standpunkt nah beim Wald aus konnten Elf, Zwergin und Mensch sehen, wie sich die verschiedensten Wettkämpfer in der Zeltstadt sammelten. Ständig kamen neue Reiter von den weiter draußen gelegenen Lagerplätzen herbei. Keiner brachte gute Neuigkeiten, wie es schien.
„Ein Narr ist er trotzdem“, brummte Nylian unversöhnlich.
„Du bist zu hart“, versuchte Kat, ihn zu besänftigen. „Wer rechnet denn auch damit, dass jemand ganze Berge versetzt? Haikalos konnte unmöglich wissen, was geschehen würde.“
„Er ist aber auch nicht sonderlich gut darin, für Ruhe zu sorgen“, seufzte Nylian und bedachte das Gewirr in der Zeltstadt abschätzig.
„Jetzt vergiss Haikalos bitte mal für einen Moment“, warf Yodda ein. „Wir haben dringendere Probleme. Wir sitzen nämlich auch in diesem Tal fest, falls du es nicht bemerkt haben solltest. Wir müssen hier raus!“
Kaithryn schwieg. Erst langsam drang die Gewissheit zu ihr vor, dass sie eingesperrt waren. Ihre Gedanken rasten. Was würde geschehen, wenn die Berge in ihrer jetzigen Position verharrten? Es gab keine Magier, die solche Mengen an Gestein transportieren könnten – außer einem einzigen, wie es schien. Selbst alle Magier im Tal zusammengenommen wären wohl nicht dazu fähig. Kaithryn sah zur Zeltstadt und versuchte, anhand der Zelte eine grobe Schätzung zu machen. Es waren etwa hundert Wohnzelte und somit auch hundert Wesen im Tal. Doch nur ein Bruchteil dieser Menge waren Magier. Wenn Magier, Krieger und Wissenschaftler zu gleichen Teilen nach Amrais geströmt waren, so würden sie auf etwa dreißig Magier kommen. Doch von der Anzahl der Anwesenden musste man Händler und Veranstalter abziehen, ebenso jene Menschen, die hergekommen waren, ohne am Wettkampf teilzunehmen. Es blieben im besten Fall vielleicht zwei Dutzend Magier übrig – Meister genauso wie Novizen. Unmöglich, mit einer so kleinen Gruppe die Berge zurückzuversetzen. Es sei denn … der geheimnisvolle Graf von Amrais musste doch auch unter ihnen sein, wie sonst hätte er wissen können, wann er das Tal verschließen konnte? Falls der Magier sich selbst ebenfalls eingeschlossen hatte, konnte man ihn finden und dazu zwingen, die Tore wieder zu öffnen.
„Woran denkt ihr?“, fragte Yodda.
„An den Winter“, sagte Nylian. „Wenn wir hier eingeschlossen bleiben, wo sollen wir dann Essen herbekommen? Die Berge sind karg. Es sähe vielleicht anders aus, wenn wir einen Wettbewerb der Bauern abgehalten hätten, aber so, wie es nun ist, haben wir nicht viel Zeit, um zu entkommen.“
Kaithryn erwähnte ihre Rechnung bezüglich der Zauberer und ihren wagen Plan, den Graf von Amrais zu finden.
„Ich denke nicht, dass er sich so leicht zwingen lässt“, meinte Yodda. „Wenn er so mächtig ist, wie du vermutest, besitzen wir nichts, um ihm zu drohen.“
„Was schlägst du dann vor?“, fragte Kat wütend.
„Wenn wir hundert Zwerge hier hätten, könnten wir uns bis zum Frühling durch den Berg graben“, sagte Yodda. „Leider sind wir nur wenige. Aber vielleicht können wir eine Treppe bauen, oder gleich einen riesigen Rammbock, um uns zu befreien. Wir haben immerhin die führenden Köpfe der Wissenschaft in Lirhajn hier, denen wird sicher etwas einfallen.“
„Dazu müssen die Leute erst einmal aufhören, wie kopflose Hühner im Kreis zu rennen!“, meinte Nylian.
Die Freunde sahen wieder zur Zeltstadt und erkannten erstaunt, dass sich das Chaos gerade legte. Die Menschen, Zwerge und Elfen waren am Südeingang zur Stadt zusammengelaufen und sahen auf etwas, das sich der Zeltstadt näherte. Als die Freunde den Blicken folgten, gewahrten sie eine kleine Prozession von Reitern auf schlanken, schwarzen Pferden.
„Was ist das denn?“, fragte Yodda.
Nylian kniff die Augen zusammen: „Fünf Reiter, der in der Mitte trägt eine Flagge. Ich kenne sie nicht, eine Krone auf Purpur. Sieht so aus, als wären es Boten.“
„Dann lasst uns hören, was sie zu sagen haben!“ Kaithryn sprang auf. „Ich wette, die kommen von diesem Grafen!“
~ ⁂ ~
Sie erreichten die Zeltstadt nur knapp vor den Reitern und mischten sich unter das Volk. Yodda keuchte von dem Sprint über die Wiesen. Die Masse drängte sie nach vorne, fast hätte Yodda ihre Freunde im Gedränge verloren, doch Kat und Nylian legten ihr je eine Hand auf die Schulter.
Dann entdeckten sie plötzlich den Kistenstapel, den Haikalos wenig zuvor genutzt hatte. Geschickt kletterten die drei jungen Freunde hinauf.
Die fünf Reiter hielten vor der Menge an. Es waren Elfen oder Menschen, doch ihre Gesichter, Haare und Ohren wurden von großen, schmalen Helmen verborgen, die nur eine Lücke für die Augen ließen. Sie trugen Uniformen aus dunklem Grün, darüber Rüstungen aus rotem Metall – Blutstahl, vermutete Yodda – zusammengehalten von breiten, schwarzen Riemen. Für Krieger sah die Rüstung zu unpraktisch und sauber aus, es gab große Lücken zwischen den roten Platten, die dem Träger im Kampf zum Verhängnis werden würden. Derjenige in der Mitte trug eine Fahne, auf deren purpurnem Stoff eine goldene Krone prangte. Die schlanken, hochgewachsenen Pferde der Reiter waren lackschwarz und so dürr wie Gerippe. Yodda fragte sich unwillkürlich, ob die Reiter nicht auch Vampire sein könnten. Tatsächlich war kein Streifen Haut zu sehen, die Reiter trugen sogar Handschuhe. Reichte das für einen Vampir aus, um im Sonnenlicht zu wandeln?
„Ich bin ein Bote des Grafen von Amrais!“, verkündete der Flaggenträger mit lauter Stimme. Yodda spitzte die Ohren, doch falls der Reiter einen verdächtigen Akzent hatte, so wurde dieser von dem geschlossenen Helm hinreichend verzerrt. „Versammelte Wettkämpfer, ich muss euch bitten, Ruhe zu bewahren. Die Gestaltung dieses Wettkampfs mag ein wenig … erschreckend wirken, doch seid versichert, dass alles nach den Plänen eures Gastgebers geschieht. Die Wettkämpfe werden in einigen Tagen starten und so lange dauern, bis die Gewinner ermittelt sind. Wir bitten, jedwede Unannehmlichkeiten, die aus dieser Verzögerung entstehen, zu entschuldigen. Bitte kehrt nun in eure Zelte zurück und wartet hier, bis ihr über das weitere Vorgehen informiert werdet.“
Die Menge murmelte aufmüpfig. Yodda ließ den Blick über die vielfarbigen Köpfe wandern – ein äußerst ungewohnter Anblick für sie – und sah wieder nach vorne.
„Was denkt dieser Graf, wer er ist?“, rief jemand in der vordersten Reihe. „Er kann uns nicht einfach einsperren!“
Die Reiter richteten den Blick auf den Rufer. Auch Yodda, Nylian, Kat und die anderen Versammelten reckten die Hälse.
„Es ist Haikalos!“, erkannte Nylian als erster. Wenig später trat der Elb vor die Menge und war auch für Yodda klar zu sehen.
Der Organisator funkelte die Reiter an. „Ich will auf der Stelle wissen, was hier gespielt wird!“
Ohne ein sichtbares Zeichen, doch wie ein Mann, griffen die vier flankierenden Reiter nach den Schwertern an ihrer Seite und zogen die Waffen eine Spanne weit aus deren Scheiden. Das Klirren des Metalls ließ augenblicklich Ruhe einkehren.
„Geht in eure Zelte“, wiederholte der Flaggenträger mit ruhiger, lauter Stimme, die umso lauter wirkte in der plötzlichen Stille, „und wartet auf weitere Anweisungen.“
Haikalos machte ein paar stolpernde Schritte nach hinten und die Schwerter glitten mit leisem Sirren zurück. Fast sofort löste sich die Versammlung auf.