„Das war … unheimlich“, sagte Yodda in ihren Becher voll heißem Tee.
Inzwischen war es Nachmittag geworden, die fünf Reiter vermutlich lange fort, trotzdem war die Gruppe noch immer im Zelt. Es war nicht direkt Angst, die sie davon abhielt, nach draußen zu gehen, doch ihnen wurde unwohl bei dem Gedanken, durch das totenstille Lager zu schleichen. Außerdem brauchten sie Zeit, um das Gehörte zu Verdauen. Nylian war schließlich eingeschlafen, neben dem Feuer in sich zusammengesunken und auf seinen Rucksack gestützt. Yodda konnte es ihm nicht verdenken. Seitdem sie angekommen waren, hatte Nylian nur wenig Schlaf bekommen, wenn er überhaupt geschlafen hatte.
„Was meinst du?“, fragte Kat leise. „Die Reiter?“
Yodda nickte. „Sie tun vielleicht höflich, aber sie haben garantiert nichts Gutes vor. Dafür würde ich glatt meinen Kräuterbeutel verwetten. Allein schon, wie sie die Schwerter gezogen haben!“
Die Zwergin schüttelte sich und war von Herzen dankbar für den heißen Tee. Er half, die Kälte zu vertreiben, die sie bei der Erinnerung verspürte.
Kat riss einige platt getretenen Grashalme aus dem Boden. Das Zelt war auf der nackten Erde erbaut, sogar ein paar wilde Gänseblumen wuchsen in ihrer vorübergehenden Bleibe.
„Immerhin wissen wir jetzt definitiv, dass Haikalos mit der Sache nichts zu tun hat. Sie hätten ihn beinahe umgebracht! Aber was glaubst du, was der Graf von Amrais will?“
Yodda zuckte mit den Schultern. „Wenn nur die Wissenschaftler betroffen wären, würde ich sagen: Er will unser Wissen. Pläne, geheime Blaupausen, die neusten Ideen … bisher waren es immer Wissenschaftler außerhalb von Lirhajn, die uns ausspionieren ließen, sogar folterten. Aber warum nicht auch einer von uns? Oder warum kann der Graf von Amrais nicht ein Spion sein?“
„Gut, aber Krieger und Magier sind ebenfalls gefangen“, unterbrach Kat ihre Freundin sanft. „Also, was könnte der Graf von -“
Mit einem entsetzlichen Schrei fuhr Nylian in die Höhe. Beide Frauen sprangen auf und starrten den Elfen verschreckt an. Kat ließ zögerlich den Schwertgriff los, den sie instinktiv gepackt hatte.
Nylian blickte keuchend in die Flammen, dann sah er verstört um sich. Nur langsam schien er seine Freundinnen zu erkennen.
„Nylian!“ Yodda ging zu ihm. „Was hast du denn?“
„Ich … nur ein Alptraum …“ Die Hände des Elfen zitterten.
Yodda war beunruhigt. Nylian hatte wie ein Stein geschlafen, statt sich im Alptraum hin und her zu werfen. Doch als sie die Stirn ihres Freundes fühlte, war sie unter den hellblauen Haaren fieberheiß. Unterschieden sich selbst die Träume der Elfen von denen der Sterblichen?
„Ich habe von Kiirion geträumt. Wir haben nur zusammen am See gesessen“, stammelte Nylian und beantwortete damit unabsichtlich Yoddas unausgesprochene Fragen. Dann furchte der Elf die Stirn: „Es gibt hier keinen See, oder?“
„Du meinst, Helmsieg hat keinen See“, korrigierte Kat sanft. „Wir sind in den Amrais-Bergen, ich glaube, ein paar Seen gibt es hier schon.“
Nylian schüttelte verwirrt den Kopf. „Amrais … ja, ich erinnere mich. Nein, im Traum war ich in Helmsieg und es gab einen großen See außerhalb der Stadt. Wenn ich es mir recht überlege, könnte es auch ein Meer gewesen sein, aber nicht das Meer, wenn ihr versteht. Ich habe mit Kiirion gesprochen, aber plötzlich war er auf einem Boot und fuhr davon. Da ist mir alles wieder eingefallen.“
Yodda zog Nylian vorsichtig in die Arme. Der Elf lehnte den Kopf auf ihren und schloss einen Moment die Augen, bis sich seine Atmung beruhigt hatte. In der folgenden Stille hörten die drei Freunde plötzlich Schritte vor ihrem Zelt. Obwohl sie sich davon nicht beunruhigen lassen sollten, fuhren sie zusammen. Ein Schatten war auf der Zeltwand zu sehen, der in die Höhe wuchs und sich dem hinter der aufgehängten Decke verborgenen Eingang näherte. Yodda schlug die Decke zurück. Kat hatte das Schwert ihres Vaters weggesteckt und zog es nun wieder. Nylian griff nach dem Bogen.
Die Gestalt hielt an.
„Hallo?“, fragte jemand mit leiser Stimme. Ein Mann. „Wir sollen alle zum Wald kommen, um uns zu besprechen. Alle, die nicht darauf warten wollen, dass dieser Graf neue Boten sendet. Sag jemand anderem Bescheid und komm dann mit.“
Die Gestalt wartete einen Moment ab. „Hallo?“
„Ja“, antwortete Kat. „Wir haben es gehört.“
„Wir? Wie viele sind in dem Zelt?“, fragte der Unbekannte, zuckte dann aber mit den Schultern. „Ich weiß leider auch nicht mehr.“
Die drei Freunde tauschten stumme Blicke. Kat steckte das Schwert wieder weg.
„Wir kommen“, antwortete Yodda ebenso leise.
Das totenstille Schweigen im Lager war nur ein Deckmantel für die leise schleichenden Gefangenen, die sich unbemerkt versammelten wie Füchse unter dichtem Wiesennebel.
~ ⁂ ~
Vereinzelte Grüppchen lösten sich aus der Zeltstadt und krochen auf die Wiesen, wie Regentropfen auf einer Fensterscheibe dem Wald zuströmend. Die Sonne musste gerade untergehen, doch sie war hinter dichten, grauen Wolken nicht zu sehen. Das Licht schwand zusehends, der Wind war scharf und kalt. Es waren keine lauten Geräusche zu vernehmen, nur das Flüstern der Gräser und schließlich das Rauschen der Blätter im Wind. Lautlos wie Gespenster versammelten sich die gefangenen Wettkämpfer am Waldrand.
Dort, auf einem kleinen Erdhügel, stand eine hochgewachsene Gestalt und erwartete sie. Es war ein Feuerelb mit blutrotem Haar und Haut in der Farbe von gebranntem Ton. Er hatte vergleichsweise kurze Ohren und glimmende, violette Augen – dunkler als die Augen Cirdrims gewesen waren. Kat fühlte sich trotzdem an ihren alten Meister erinnert. Der Unbekannte strahlte eine Aura von Macht aus. Er war definitiv ein Magier, was auch seine Kleidung zu bestätigen schien: Er trug eine schwarze Kluft mit roten Akzenten unter einem dunklen Mantel, der von einer Kette aus lila Stahl zusammengehalten wurde. In einer Hand hielt er, wie als letzten Beweis, einen langen Stab aus schwarzem Eisen mit darin eingelassenen, violetten Kugeln, drei in einer Fassung aus Metall, die oberste in einem Käfig aus dünnen Stangen, die an Klauen erinnern.
„Wo ist bloß Colum?“, fragte Nylian und sah sich um.
Kaithryn konnte nicht antworten. Sie waren noch nicht am Waldrand angelangt, trotzdem spürte sie den Blick des Magiers auf sich ruhen. Er sah sie direkt an und seine Augen schienen zu brennen. Dann machte der Feuerelb eine Bewegung mit der Hand.
Kaithryn stolperte, denn plötzlich gewahrte sie etwas, das vor ihr im Gras lag. Das schwache Licht schimmerte auf Silber. Sie trat nach vorne und kniete sich ins Gras, um den Gegenstand aufzuheben. Es war eine winzige Flöte aus Silber, nur so lang wie Kats Finger, aber fein gearbeitet und vermutlich auch funktionsfähig. Eine schwarze Kordel war um den Hals des Instruments geschlungen und befestigte die Flöte wie einen Anhänger an einer Kette. Es war ein Amulett.
Kaithryn hob die Flöte auf und sah nach vorne. Der Magier hielt ihren Blick gefangen und streckte eine Hand aus. Mit steifen Bewegungen setzte Kaithryn sich wieder in Bewegung. Sie hörte die verwunderten Stimmen ihrer Freunde, doch konnte sie keine Worte ausmachen. Sie war wie in einem Traum gefangen, schlafwandelte durch die Reihen der Versammelten und nach vorne auf den Zauberer zu, ohne den Blick von seinen violetten Augen zu lösen.
Dann stand sie plötzlich vor ihm und tat einen zitternden Atemzug. Was tue ich hier?, fragte sie sich. Der Gedanke war wie Eiswasser, das ihr Bewusstsein überspülte. Ihr Geist setzte sich zur Wehr, als sie erkannte, dass sie gelenkt wurde wie eine Marionette. Sie sah auf die Flöte, die sie in beiden Händen hielt, und dann wieder in die violetten Augen. Sie konnte sich nicht aus dem Bann befreien.
Da hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf, sanft und leise, als wollte man ein scheues Tier nicht erschrecken: „Du bist stark, Novizin.“
Sie erschrak trotzdem.
Der Magier verzog den Mund zu einem schwachen Lächeln. „Dir fehlt es an Erfahrung, doch du besitzt große Stärke. Wer ist dein Meister?“
Kat konnte nicht antworten. Sie dachte an Cirdrim und der Zauberer ihr gegenüber nickte leicht. Ein Schatten legte sich über das terrakottafarbene Gesicht, als Kat an Cirdrims Tod zurückdachte.
„Dein Verlust tut mir leid“, sprach der Magier in Gedanken. Er richtete den Blick auf das Flötenamulett, das sie noch immer in den Händen hielt. Ihre Beine zitterten plötzlich. Sie ließ sich auf die Knie sinken und reichte dem Zauberer das Amulett wie eine teure Gabe. Er nahm es entgegen und streifte sich die Kette über den Kopf. „Ich danke dir, Kaithryn.“
Damit gab er sie frei. Keuchend und verwirrt stolperte Kat nach hinten, den Hügel hinunter, und taumelte gegen jemandem. Hände umfassten ihre Oberarme.
„Kat!“ Yoddas Gesicht erschien vor ihr. „Was ist denn los?“
Kaithryn schüttelte den Kopf und atmete tief durch. Die Benommenheit verflog. Sie erkannte, dass Nylian sie aufgefangen hatte.
„Es geht schon wieder“, murmelte sie leise und sah nach oben. Der Magier stand auf dem Hügel, beachtete sie nicht weiter und breitete die Arme aus. Sofort kehrte Stille ein.
„Ich bin Imras Azmaek“, verkündete der Zauberer. Seine Stimme, nun laut im Nachtwind hallend, klang nicht viel anders als sie in Gedanken geklungen hatte. Die langen, blutroten Haare wiegten sich im Wind wie die Stränge eines Weidenbaums. Eine dünne Strähne aus geflochtenem Haar verlief über die Stirn des Magiers wie ein Diadem. „Ich bin hier, um zu helfen. Der Unbekannte, der sich Graf von Amrais nennt, hat euch hier eingesperrt. Ich kann euch leider nur versprechen, dass er nichts Gutes vorhat. Seine genauen Pläne kenne ich nicht, doch ich bin ihm schon länger auf der Fährte. Er arbeitet schon lange im Verborgenen, warum er ausgerechnet hier und heute ins Licht tritt, kann ich euch nicht sagen. Eines ist gewiss: Wir müssen entkommen. Das können wir nur gemeinsam, deswegen bin ich hier. Ich kann diese Berge zurückversetzen, doch nur, wenn ich die nötige Macht dafür bekomme. Dabei müsst ihr mir helfen. Und außerdem“, hier richtete Azmaek seinen brennenden Blick direkt auf Kat, Yodda und Nylian, „müssen wir den Grafen finden und töten. Denn er ist mitten unter uns.“
~ ⁂ ~
Ein Aufschrei ging durch die Menge. Nylian sah mehrere der Umstehenden, die einander misstrauische Blicke zuwarfen. Die aufsteigende Panik war selbst für Wesen ohne magische Begabung spürbar.
„Bewahrt Ruhe!“ Azmaek verschaffte sich mit lauter Stimme Gehör. „Ich kann den Grafen aufspüren.“
Es wurde wieder still, doch ein leises Flüstern war zu hören, wie der Wind in den Blättern.
„Ich bin ein Aurasichtiger“, verkündete Azmaek. „Und ich kenne die Aura dieses selbsternannten Grafen. Ich werde jeden hier untersuchen, deswegen musste ich euch versammeln.“
„Ein Aurasichtiger!“, flüsterte Kat aufgeregt. „Ich bin noch nie einem begegnet.“
„Das war irgendwie abzusehen“, flüsterte Nylian zurück. „Die besten Magier von Lirhajn haben sich hier versammelt. Wenn es Aurasichtige in unserem Land gibt, dann sind sie natürlich auch hier!“
„Ist er überhaupt aus Lirhajn? Er ist ein Feuerelb und hier gibt es keine Wüste!“, antwortete Yodda. „Und hat er nicht gesagt, dass er den Grafen verfolgt?“
Nylian zuckte mit den Schultern. „Jedenfalls ist es schon ein großer Zufall, dass ausgerechnet jetzt ein Aurasichtiger auftaucht, der uns helfen kann. Findet ihr nicht?“