Vito scheute, bäumte sich auf und warf seinen unvorbereiteten Reiter ab, der mit einem unschönen Geräusch auf den Asphalt aufschlug und jämmerlich aufschrie. Sero hatte sich während des Fallens gedreht und war auf dem Knie aufgeschlagen; das laute Knacken hallte unheilvoll zwischen den Häusern nach und wehte durch die enge Straße. Rowan zog Agrippas Zügel zurück und sprang aus dem Sattel, während der Junge auf der Straße lag, sich krümmte und keinen Laut mehr von sich gab, doch das Gesicht schmerzerfüllt verzogen hatte. Sein Mund stand in einem stummen Schrei offen und Tränen liefen ihm über das Gesicht.
Der Prinz hockte sich neben seinen Knappen und strich ihn die Haare aus dem Gesicht.
»Ganz ruhig«, sprach er leise und sah sich dann um. Die Kinder, die den Ball in den Händen hielten, standen schockiert da, eines der kleinen Mädchen weinte und einige Erwachsene sammelten sich um den Unglücksort. Es regte Rowan auf, dass alle nur glotzten.
»Gibt es in diesem Ort denn keinen Arzt?«, brüllte er fast und ein gedungener Mann im Holzfällergewand nickte, wandte sich um und kam nach zwei Minuten mit einem Medicus wieder. Der kleine, hagere Mann hatte ein beruhigend freundliches Gesicht, ging neben dem verletzten Knaben in die Knie und redete beruhigend auf ihn ein.
»Das Pferd hat gescheut?«, wandte er sich an Rowan. Dieser nickte.
»Vito ist eigentlich sehr ausgeglichen. Doch der Ball hat ihn erschreckt. Mein Knappe war nicht vorbereitet, sich festzuhalten und ist gefallen.«
»Ziemlich unglücklich«, murmelte der kleine Mann und tastete Seros Bein ab. Dieser heulte vor Schmerz auf und drückte Rowans Finger, der seine Hand genommen hat. Der Junge schwitzte und weinte leise.
»Das tut jetzt ziemlich weh, das kann ich verstehen. Aber Euer Diener hatte Glück. Es ist ein glatter Bruch. Es wird heilen, wenn ich es schiene und fest einbinde.« Der Medicus blickte den Prinzen an, sah auf die Pferde und das Gepäck und seufzte leise.
»Reisen wird er aber vorerst nicht können, es tut mir leid.«
Rowan nickte. »Das tut jetzt nichts zur Sache. Könnt Ihr mir ein Gasthaus empfehlen?«
»Es gibt hier nur eins, mein Herr. Es ist nicht viel, aber es ist sauber.« Der Arzt wies einige der umliegenden Menschen an, ihm eine Trage zu bringen, den Wirt auf die Gäste vorzubereiten und den Weg freizumachen. Er hatte offenbar einiges an Autorität inne, denn die Leute gehorchten sofort, Sero wurde auf eine Bahre gehoben und in Begleitung des Medicus abtransportiert, während Rowan seine Pferde wieder einfing, die unruhig mit den Hufen scharrten. Die Kinder, die den Unfall durch ihr unschuldiges Ballspiel verursacht hatten, standen noch immer in einer Traube da und sahen bedröppelt aus. Sie waren noch ziemlich klein. Ältere Kinder wären längst davon gelaufen und hätten sich nicht geschert. So kannte es Prinz Rowan aus Isara.
»Mein Herr«, sprach ein kleiner Junge den Mann an. Dieser wandte sich zu ihm um.
»Das mit Eurem Diener tut uns leid. Dass der Ball das Pferd erschreckt hat.« Der Junge stotterte und die anderen Kinder versteckten sich förmlich hinter ihm. Rowan lächelte. Er war ihnen nicht gram, sie konnten ja nicht wissen, dass der Hengst aufschrecken würde.
»Er wird das überleben und wieder gesund werden. Ihr könntet mich allerdings zu dem Gasthaus führen, wenn ihr mir helfen wollt.«
Der kleine Junge lächelte breit und zeigte eine Zahnlücke, als er nickte.
Rowan führte die beiden aufgeregten Pferde an den Zügeln hinter sich her, während die Kindertraube vor ihm her tanzte. Die Kleinen lachten bereits wieder, denn Kinder grämten sich nicht lange mit unerfreulichen Dingen.
Sie blieben lachend stehen und deuteten dem Prinzen, dass sie das Gasthaus erreicht hatten. Es war ein Fachwerkhaus mit Öllampen an der Eingangstür. Die Fassade war mit Efeu bewachsen, der winterhart und dunkelgrün war und die Fenster waren dunkel bis auf eines. Dahinter konnte der Prinz den Medicus mit einem dicken Mann reden sehen, der einen stattlichen Schnurrbart hatte.
Rowan bedankte sich bei den Kindern, die lärmend davon rannten, band die Pferde an einen Pfosten und betrat das Wirtshaus. Darin roch es nach etwas Gebratenem und es war warm. Der junge Mann spürte, wie seine kalten Finger zu kribbeln begannen, als er die Handschuhe auszog. Er betrat das Zimmer mit den beiden Männern, die sich zu ihm umwandten.
»Guten Abend, die Herren. Ich bin Kronprinz Rowan von Annwyn. Ist mein Knappe versorgt?«
Der Wirt wrang an seinem Geschirrtuch herum und der Arzt verbeugte sich leicht. »Königliche Hoheit. Mein Name ist Melon, zu Euren Diensten. Ich habe Euren Knappen auf ein Zimmer bringen lassen und werde gleich noch einmal zu ihm gehen, um sein Bein zu schienen. Er hat Glück gehabt, wenn man das so sagen kann. Wäre die Kniescheibe zertrümmert worden, wäre sein Bein womöglich für immer steif geblieben. So wird es heilen und er wird bald wieder wohlauf sein.«
Rowan nickte und kramte in seinen Taschen. »Ist es möglich, für die Dauer seiner Genesung das Zimmer zu mieten und ihn versorgen zu lassen?« Er blickte den korpulenten Wirt an, der nicht besonders helle zu sein schien. Er schien mit den Fragen überfordert zu sein und der Arzt ergriff wieder das Wort.
»Das wird sich regeln lassen, Königliche Hoheit. Ich werde mich um ihn kümmern, damit er wieder komplett gesund wird, macht Euch deswegen keine Sorgen.«
Der Prinz nickte wieder. »Gut. Hat das Zimmer zwei Betten? Wenn nicht, möchte ich noch ein weiteres für mich mieten und ich brauche jemanden, der sich um meine Pferde kümmert. Und ich würde sehr gern Abendessen ordern, nach Möglichkeit, um es im Zimmer einzunehmen. Geht das?«
Der Wirt verstand nun offensichtlich, dass der Prinz ihn bezahlen wollte für all das und nickte endlich. Er rief mit tiefer, dröhnender Stimme nach einem abgerissenen Burschen und schickte ihn zu den Pferden und verschwand dann in der Küche. Rowan schüttelte leicht den Kopf über dieses ungastliche Verhalten, doch der Arzt zog seine Aufmerksamkeit auf sich.
»Wenn Ihr mir folgen wollt, Königliche Hoheit, dann führe ich Euch zu Eurem Diener. Sicher wollt Ihr dabei sein, wenn ich mich um sein Bein kümmere.«
»Sehr gern, ja. Vielen Dank.«
Der alte Melon schmunzelte. »Ein höflicher Königssohn. Sowas kennt man von den trallischen Prinzen eher weniger.« Der hagere Mann stieg die Treppe hinauf und der Prinz, der das Gepäck bei sich trug, folgte ihm.
»Habt Ihr denn Erfahrungen gemacht mit dem trallischen Königshaus?«
»Ich habe lange Jahre in Thalea praktiziert und bin das eine oder andere Mal auf die Familie gestoßen, ja. Man soll nicht schlecht über seine Herrscher reden, doch die Prinzen sind … nun, offen gestanden sind sie ganz außerordentlich verwöhnt und verzogen.«
Rowan lachte leise. »Da sagt Ihr das gleiche, was meine Mutter über mich und meine Geschwister sagt.«
»Nun, aber offenbar hat Eure Mutter Euch Worte wie 'Bitte' und 'Danke' beigebracht. Die Söhne unseres Königs können nur nehmen und bedanken sich nicht. Sie bitten auch nicht, sie verlangen. Ich fürchte, wenn ich so frei sein darf, das in Eurer Gegenwart zu äußern, um das Wohl unseres Landes, wenn Prinz Feilan eines Tages König wird.«
Es schockierte Rowan, den alten Mann so reden zu hören. Würde ihn ein Vertreter des Königshauses, ein Angehöriger der royalen Wache oder ein königstreu gesinnter Spion hören, könnte man ihn wegen Hochverrates belangen, denn wie er schon sagte, man sprach nicht schlecht über die regierende Herrscherfamilie eines Landes. Und wenn ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft, ein hochgebildeter Arzt, solch ein Risiko gegenüber einem Vertreter eines fremden Königreiches einging, musste in Trallien ja einiges im Argen liegen mit der königlichen Familie.
Der Medicus öffnete die Tür eines kleinen Zimmers, in dem zu Rowans Glück tatsächlich zwei Betten standen. Auf einem Tisch stand eine matt eingestellte Öllampe, die einen leichten Duft verströmte und ein Krug mit Wasser stand auf dem Nachtschränkchen. Sero lag halb schlafend, halb bewusstlos in dem schmaleren Bett in der Ecke, obwohl es der Prinz nicht übel genommen hätte, wenn man ihn in das größere gelegt hätte.
Er legte die Reisesäcke auf der Matratze ab und zog einen Hocker an das Bett mit seinem Knappen. Mit dem Finger strich er dem Jungen eine der blonden Strähnen aus dem Gesicht. Dieser brummte leise und öffnete matt die Augen.
»Königliche Hoheit … es tut mir leid … ich bin Euch eine Last«, murmelte er, doch Rowan schüttelte nur den Kopf.
»Mach dir keine Sorgen. Hier ist ein Arzt, der wird sich um dich kümmern und dann bekommst du nachher etwas zu essen. Doktor, bitte. Gibt es etwas, wobei ich Euch helfen kann?«
Der hagere, alte Mann trat neben dem Jungen an das Bett und blickte den Prinzen an. »Tatsächlich, Eure Hoheit, werden wir seinen Knochen einrenken müssen. Es ist ein glatter Bruch, doch wenn der Knochen nicht gerade zusammenwächst, wird er humpeln oder vielleicht nie wieder richtig gehen können. Es wird erforderlich sein, dass ich die Knochenteile richtig aneinanderfüge. Dazu müsst Ihr ihn festhalten, denn das wird ihm Schmerzen bereiten. Danach wird es ihm jedoch besser gehen.«
Rowan nickte und Sero machte ein unglückliches Geräusch. Seine Augen schwammen in Tränen, doch er nickte letztlich. Immerhin wollte er nicht den Rest seines Lebens ein Krüppel bleiben.
Der Arzt verließ das Zimmer erneut und kam einige Minuten später mit einem weiteren Krug Wasser und ein paar Tüchern wieder.
»Gehen wir es an, damit ich das Bein einschienen kann. Je schneller es ruhig gestellt wird, desto schneller wird sich der Junge erholen.«
»Es ist gleich alles wieder gut«, sagte der Prinz mit leiser Stimme zu Sero und legte seine Hände auf dessen Knie, um sie unten zu halten. Sero nickte und der alte Mann ließ seine Finger knacken.
»Haltet Ihn fest, bitte«, brummte er und legte seine Hände an das wunde Bein. Er ertastete die beiden Teile des gebrochenen Knochens und übte einen kurzen, starken Druck aus. Es knackte laut und Sero schrie gellend auf. Er zitterte und krallte seine Finger in den Stoff des Lakens.
»Schon vorbei. Alles ist gut. Das war es schon.« Melon lächelte den Jungen an, tränkte eines der Tücher in das heiße Wasser und legte es auf das wunde Bein, um den Schmerz zu lindern. Sero seufzte und entspannte sich wieder.
»Ich werde ein paar Kräuter holen, die er in einem heißen Sud zu sich nehmen muss, gegen die Schmerzen. Ebenso werde ich wundstillende Blätter auf das Bein legen. Die Schiene muss mindestens einmal am Tag gewechselt werden. Ich gehe doch recht in der Annahme, dass Ihr auf der Durchreise seid? Ich fürchte, die Reise wird sich um ein paar Tage verzögern, Königliche Hoheit.«
Der alte Mann trocknete sich die Hände ab und Rowan nickte.
»Ihr könnt Eure Reise nicht unterbrechen, nur weil ich mich verletzt habe, mein Prinz«, sagte Sero leise, als der Arzt das Zimmer verlassen hatte.
»Denkt an den Auftrag Eures Vaters, des Königs. Was wird er sagen, wenn Ihr meinetwegen wochenlang wegbleibt? Setzt Eure Reise ohne mich fort. Ich kann ohnehin nicht reiten.«
Rowan befeuchtete eines der Tücher mit dem kalten Wasser aus dem Krug, der auf dem Nachttisch stand und wischte seinem Knappen den Schweiß aus dem Gesicht.
»Vielleicht tue ich das, wenn ich sicher bin, dass du hier gut versorgt wirst. Doch es schadet nicht, wenn ich ein, zwei Tage hier bleibe.«
»Es tut mir wirklich leid, Prinz Rowan. Ich bin so ein Trottel. Nicht einmal reiten kann ich. Ich bin Euch nur eine Last, kein guter Knappe. In Kriegszeiten wäre es nur gerecht, wenn Ihr mich aussetzen würdet.«
Der Prinz lachte. »Unsinn. Du bist fleißig und tüchtig. Dass du vom Pferd gefallen bist, war ein Unfall. Das hätte ebenso mir passieren können.«
»Nicht auszudenken ...«, murmelte der Junge. Rowan reichte ihm einen Becher mit Wasser, als der Arzt das Zimmer wieder betrat und begann, eine Schiene um das verletzte Bein anzulegen. Sero zitterte und keuchte, als der Arzt den Verband festzog, doch anschließend seufzte er erleichtert.
»So. Hier sind einige Kräuter, Königliche Hoheit. Brüht ihm später, bevor Ihr Euch zur Nachtruhe legt, noch einen Tee daraus auf und gebt ihm diesen zu trinken, damit er ruhig und schmerzlos schlafen kann. Morgen früh werde ich wieder vorbei kommen, um die Kräuter in der Schiene zu wechseln. Ich bekomme Euren Knappen schon wieder auf die Beine.«
Der alte Mann überreichte Rowan ein Beutelchen mit streng riechenden, aromatischen Kräutern und verneigte sich noch einmal höflich.
»Ich wünsche Euch einstweilen eine gute Nacht.«
»Vielen Dank, Doktor«, verabschiedete Rowan den hageren Mann und schloss die Tür hinter diesem.
Drei Tage vergingen, bevor Sero Rowan so weit hatte, dass dieser die Reise allein fortsetzte. Der Knappe hielt seinen Herrn dazu an, weiterzureiten, da er von seinem Vater den Auftrag hatte, dem trallischen König seine Aufwartung zu machen. Was er nicht konnte, wenn er in einem Dorf an einer Wegkreuzung mitten auf einer unendlichen Wiese festhing.
Melon, der Medicus, kam täglich und versorgte Seros wundes Bein. Rowan genoss die paar Tage in einem richtigen Bett, auch wenn Sero die erste Nacht vor Schmerz jammerte und ihn kaum schlafen ließ. Selbst der aromatische Kräutertee linderte die Schmerzen in dem frisch gebrochenen Knochen nicht ab.
Rowan versorgte seinen Knappen, brachte ihm Essen, half ihm beim Waschen und wechselte das nassgeschwitzte Bettzeug. Handlungen, die Sero sehr verlegen machten, da es sich eigentlich nicht gehörte, dass ein Angehöriger eines niedrigeren Standes von einem Königssohn versorgt und bedient wurde. Doch der Prinz wollte von seinen Bedenken nichts hören.
»Wir zwei haben gerade nur einander und ich bin für dich verantwortlich. Ich lasse diese merkwürdigen Wirtsleute nur ungern an deine Krankenpflege. Schlimm genug, dass du mich immer wieder dazu drängst, dich hier allein zu lassen.«
»Ich bleibe bei dieser Meinung, mein Herr. Ihr solltet weiterreisen. Sonst war es umsonst, dass wir überhaupt hergekommen sind.«
»Du hast ja Recht ….«
»Dass Ihr das sagt, Prinz. Ich möchte, dass Ihr aufbrecht. Ich bitte Euch. Es kann noch Wochen dauern, bis ich wieder gehen, geschweige denn reiten kann und solange könnt Ihr unmöglich warten.«
Rowan nickte. Er wusste das.
»Nun gut. Ich werde mich darum kümmern, dass du hier gut versorgt wirst, solange ich weg bin. Und auf dem Rückweg nach Annwyn komme ich wieder hier vorbei und hole dich ab. Was sagst du dazu?«
Sero lächelte. »Ich hoffe, dann seid Ihr in Begleitung einer schönen Prinzessin.«
»Ich bin schon froh, wenn ich lebend zurückkehren kann. Schlaf jetzt etwas. Ich werde mit dem Wirt und dem Arzt sprechen.« Er zog die leichte Decke über die Beine des Jungen, der erschöpft aussah und verließ dann das Zimmer.
Unten im Gastraum traf der Prinz auf den Wirt, der Balthur hieß und gelangweilt Gläser polierte. Stimmengewirr herrschte im Schankraum, da sich die Männer des Dorfes nach getaner Arbeit dort trafen, um ein gemeinsames Bier zu nehmen. Es roch nach Rauch und die Luft war warm und stickig.
»Balthur, was würde es mich kosten, meinen Knappen auf unbestimmte Zeit hier einzumieten?«
Der schnurrbärtige Mann zuckte mit den Schultern. »Habt Ihr vor, Eure Reise ohne den Knaben fortzusetzen?« Jeder wusste, dass der Prinz nur auf der Durchreise war, deswegen nickte Rowan nur und der Mann fragte: »Habt Ihr Gold?«
Rowan seufzte innerlich. »Natürlich habe ich Gold, sonst würde ich ja nicht fragen. Also?« Er hatte nur wenig Geduld mit Menschen, die so eine lange Leitung hatten. Dörfler hatten etwas an sich, das Rowan ungeduldig werden ließ.
»Das Zimmer, Verpflegung, Wasser … ich denke, fünf Taler sollten für einen Monat reichen. Mehr, wenn es länger dauern soll. Aber Ihr könnt die Rechnung auch begleichen, wenn Ihr zurückkehrt. Was Ihr besser tun solltet, da der Junge das sonst abarbeiten muss.«
»Ich werde auch eines meiner Pferde hier lassen, also würden noch Stallgebühren anfallen, nehme ich an?«
Der Wirt nickte. »Natürlich. Ich würde einen weiteren Taler für das Tier berechnen. Beliebt Euch das nicht?«
Der Prinz nickte. »Gut. Ich kann noch nicht sagen, wie lange meine Reise dauert, deswegen ...« Rowan legte ein kleines Beutelchen mit Münzen auf den Tresen. Es war sicher zu viel, doch das kümmerte ihn gerade wenig. »Außerdem braucht mein Knappe die nächsten Tage Pflege, solange sein Bein verletzt ist. Wäre es möglich, hier im Dorf vielleicht eine Pflegekraft zu bekommen oder könnte ich Eure Gemahlin dafür anstellen?«
Der Prinz klärte mit dem schnauzbärtigen Wirt alles ab und wusste schließlich den Jungen versorgt. Er würde den Arzt bitten, in den nächsten Wochen regelmäßig nach Sero zu sehen, damit man sich vernünftig um ihn kümmerte.
Als er sich zu einem Abendmahl an einen der Tische im Schankraum setzte, bemerkte er die Blicke der Männer, die ihn argwöhnisch ansahen. Sie waren es nicht gewöhnt, dass ein königlicher Prinz unter ihnen weilte und hatten Vorbehalte gegen ihn, das konnte er sehen. Das einfache Volk dachte oft, dass die Mitglieder der königlichen Familien keine normalen Menschen waren, obwohl sie aßen, tranken, schliefen und ihre Notdurft verrichten mussten wie jeder andere auch.
Prinz Rowan beschloss, sie bis auf ein höfliches Grüßen zu ignorieren und ließ seinen Blick auf das prasselnde Kaminfeuer fallen. Wenn er ohne Sero ritt, kam er vielleicht schneller voran und war bereits in zwei Tagen in Thalea. Er war immerhin ein geübterer Reiter als sein Knappe. Und dann musste er noch zusehen, dass der König von Trallien, Thedosio, ihn auch empfing.
»Königliche Hoheit? Macht es Euch etwas aus, wenn ich mich setze?« Der Angesprochene hob den Kopf und erblickte den hageren Dorfarzt Melon, der seine Arzttasche in den Händen hielt und nach Kräutern duftete.
»Nein, bitte, Doktor. Setzt Euch. Ihr wollt nach Sero sehen? Ich habe ihn vorhin schlafend zurückgelassen.«
»Wie geht es ihm?«
»Die wundstillenden Kräuter scheinen ihm zu helfen. Er schläft schon viel ruhiger.«
»Das ist gut. Ich werde dennoch gleich noch mal zu ihm gehen und seinen Verband wechseln. Ist es Euch recht, wenn ich mich anschließend wieder zu Euch geselle?«
»Nein. Ich würde mich freuen, denn ich muss Euch noch um etwas bitten.«
Der hagere Mann nickte und ließ den Prinzen allein, der in der Zwischenzeit sein Abendessen – Eintopf, Brot und ein Stück Braten – serviert bekam. Er ließ sich das gute, heiße Essen schmecken und versuchte, das Gelächter und Gerede der Dörfler auszublenden. Diese sprachen über ihre Tätigkeiten als Bauern und Holzfäller und über Tratsch in der Dorfgemeinschaft, der Rowan nicht wirklich interessierte.
Er war müde, da es anstrengte, sich um seinen Knappen zu kümmern. Der Junge war zwar ein Leichtgewicht, aber täglich sein verschwitztes Bettzeug zu wechseln, ihn zu waschen und durch die Gegend zu tragen, wenn er den Abort aufsuchen musste, ging auch auf Rowans Knochen. Durch das Bein, das bei jeder Bewegung Schmerzen verursachte, konnte er kaum etwas selbst machen. Und Melon hatte das auch verboten. Das Bein musste so ruhig wie möglich gehalten werden. Rowan machte sich Sorgen und fühlte sich unwohl bei dem Gedanken, Sero hier allein zu lassen bei Leuten, die er nicht kannte und von denen er nicht wusste, ob er ihnen trauen konnte. Der einzige, bei dem er ein gutes Gefühl hatte, war der alte Arzt.
Als hätte sein Gedanke ihn herbeigerufen, nahm der alte Mann wieder an Rowans Tisch Platz, als dieser gerade den letzten Bissen Brot verzehrte.
»Die Schwellung des Beines ist bereits etwas zurückgegangen. Doch bis er es wieder belasten kann, werden noch mindestens drei Wochen vergehen, bis zur vollen Genesung vermutlich noch etwas länger.« Melon orderte sich einen Krug Bier und etwas Brot, während Rowan sein Geschirr ordentlich zusammenstellte.
»Was mich zu einem Anliegen bringt, Doktor. Sero hat mich davon überzeugt, meine Reise fortzusetzen und ich werde morgen aufbrechen. Ich habe mit dem Wirt bereits vereinbart, dass seine Gemahlin und seine Nichte sich um ihn kümmern, doch ich würde mich besser fühlen, wenn ich wüsste, dass Ihr täglich nach ihm seht. Wäre das möglich? Ich bin natürlich gern bereit, nach meiner Rückkehr Eure Auslagen zu erstatten.«
Der Mann machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Das ist nicht nötig. Solange es notwendig ist, ist er mein Patient und ich würde ohnehin nach ihm sehen. Wenn es Euch natürlich lieber wäre, könnt Ihr mich bezahlen. Später.«
Rowan nickte. »Es wäre mir in der Tat lieber. Ich stehe nicht gern in anderer Leute Schuld.«
»Das tut Ihr nicht, Königliche Hoheit. Als Arzt ist es meine Pflicht, Kranke und Verletzte zu versorgen. Doch natürlich muss ich essen.«
Wie auf das Stichwort kam der Knabe, der im Dienst des Gasthauses stand und brachte dem hageren Doktor die bestellte Mahlzeit.
Rowan lenkte seinen Blick wieder in das warme Kaminfeuer, während der Alte sein Mahl verzehrte. Sein Kopf war leer und fasziniert vom Spiel der Flammen, bis ihm etwas einfiel. Melon hatte zu Anfang erwähnt, er hätte einmal in Thalea gelebt. Vielleicht kannte er Geschichten über die verschollene Prinzessin. Deswegen war er ja hier, deswegen hatte er die Reise nach Trallien überhaupt erst angetreten, deswegen hatte sich sein Knappe überhaupt erst verletzt.
»Doktor, darf ich Euch etwas fragen?«
»Natürlich, Eure Hoheit.«
»In meinem Heimatland kursiert das Gerücht, seine Majestät König Thedosio habe nicht nur Söhne, sondern auch eine Tochter, die man geraubt hatte, kaum dass sie geboren war. Ist an diesen Legenden etwas Wahres dran?«
Melon wischte sich Brotkrümel aus seinem ordentlichen Bart und nickte schließlich.
»Prinzessin Maiandra. Sie wurde in der Tat in einer Sommernacht vor achtzehn Jahren geboren. Doch sie verschwand spurlos, nur einen Tag nach ihrer Geburt und wurde nie wieder gesehen. Niemand weiß, was aus ihr wurde. Gerüchten zufolge starb das Kind. Andere behaupten, jemand hätte es gestohlen, um Lösegeld zu fordern. Die Königin verging vor Gram und starb ein halbes Jahr nach dem Verschwinden des Mädchens. Ich habe nie an den Tod des Kindes geglaubt. Doch was mit ihr geschah, kann ich nicht sagen. Der König heiratete kaum ein Jahr nach dem Tod der Königin eine andere Frau und die gebar ihm seine vier Söhne.«
»Hat der König denn nie nach seiner Tochter gesucht? Sofern man sie geraubt hatte?«
Der alte Mann brummte. »Nein, nicht dass ich wüsste. Ich hatte stets das Gefühl, dass ihm Mädchen nicht viel bedeuten. Der fremde Einfluss durch eine Vermählung scheint nicht gewünscht zu sein.«
»Ihr sprecht erstaunlich offen Eure Kritik aus.«
»Ist das in Annwyn nicht gewünscht, Eure Hoheit?«
Rowan lächelte. »Es ist nicht verboten, Kritik zu äußern. Doch ich habe gehört, dass Tralliens König nicht sehr zimperlich mit Leuten ist, die ihn angreifen.«
»Hier ist das möglich, auszusprechen, was einen stört. In Thalea hat das Königshaus so seine Spione, eine sehr engagierte Stadtwache und auch die Regierung Thaleas ist sehr streng. Wenn Ihr dort ankommt, achtet auf das, was Ihr tut, wenn Ihr nicht in Misskredit geraten wollt. Manchmal ist es besser, gewisse Dinge einfach zu ignorieren. Das könnte Euch Schwierigkeiten ersparen, wenn Ihr beim König vorsprecht.«
»Ihr macht mir Sorgen, was mich wohl dort erwartet.«
»Es liegt nicht in meiner Absicht, Euch zu beunruhigen. Ich möchte nur nicht verschulden, dass Ihr Probleme bekommt. Ihr scheint ein sehr offener Charakter zu sein und Thalea ist nicht so liberal wie es die Stadt Eures Königs zu sein scheint.«
Rowan nippte an seinem Weinkrug. So hatte er es sich nicht vorgestellt, dieses wilde und schöne Land zu besuchen. Dass er befürchten musste, in Schwierigkeiten zu geraten. Doch ihm war bewusst, dass es in einem fremden und so isolierten Land wie Trallien anders zugehen musste als in Annwyn.
»Nun, ich werde Euren Rat befolgen und mich unauffällig verhalten. Soweit es mir möglich ist. Ich weiß, dass mein Stand hier in diesem Land keinen Einfluss hat.«
Der Arzt nickte und die beiden Männer schwiegen eine Weile, während das Stimmengewirr der anderen Gäste lauter, munterer und bierseliger wurde. Man hörte deutlich, dass die Stunde bereits weit fortgeschritten war. Der Rauch der Tabakpfeifen wurde dicker.
»Nun, ich denke, es wird besser sein, wenn ich mich jetzt zurückziehe. Ich möchte morgen bei Sonnenaufgang aufbrechen.«
»Dann wünsche ich Euch schon jetzt eine gute Reise.«
»Vielen Dank. Und danke für Eure Hilfe, Doktor.«
Rowan stieg die Stiege hoch und öffnete leise die Tür zum Zimmer. Er wollte den schlafenden Jungen nicht wecken, doch dieser begrüßte ihn mit leiser, kratziger Stimme.
»Ich wollte dich nicht wecken, Sero. Es tut mir leid.«
»Das habt Ihr nicht, mein Prinz. Ich kann nur nicht den ganzen Tag schlafen. Ich langweile mich, ich muss es gestehen.«
»Lass' dir ein paar Bücher bringen, solange du nicht laufen kannst.«
»Und Ihr passt auf Euch auf, wenn Ihr allein reitet. Das müsst Ihr mir versprechen, denn Euer Vater wird mir das Fell über die Ohren ziehen, wenn Euch in meiner Abwesenheit etwas zustößt.«
Rowan entledigte sich seiner Kleidung und ordnete diese auf einem Stuhl. »Das wird es nicht. Ich bin doch nicht auf den Kopf gefallen.«
Der junge Prinz nahm auf seinem Bett Platz und dimmte die Öllampe, die nach wie vor das Zimmer mit einem leichten Duft erfüllte. Es roch auch nach den Kräutern, die in Seros Verband eingebunden waren und nach dem Kräutersud, den der Doktor für ihn aufgebrüht hatte, damit er die Schmerzen linderte.
Der Junge sagte zwar, er war nicht müde, doch er sah erschöpft aus. Seine blonden Haare waren unordentlich und er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Rowan hatte ein schlechtes Gewissen, ihn allein zu lassen in einem fremden Land, doch er konnte ihn unmöglich mitnehmen und er konnte ihn auch nicht zurückschicken.
»Erhol' dich. Ich bemühe mich, schnell zurückzukehren.«
»Und wenn Ihr keine Hinweise auf die angebliche Prinzessin finden könnt? Wer sagt, dass sie noch lebt? Vielleicht jagt Ihr einem Hirngespinst hinterher und werdet Jahre damit zubringen, bevor Ihr es aufgebt …«
»Melon versicherte mir, dass sie tatsächlich existiert, doch seit ihrer Geburt verschollen ist. Ich kann es nur versuchen. Und mach' dir keine Sorgen, bitte. Ich komme zurück. Ich lasse dich hier nicht versauern bei diesen Dörflern. Doch die werden sich gut um dich kümmern. Melon kommt jeden Tag und sieht nach dir. Du hast nur die Aufgabe, gesund zu werden. Mit einem kaputten Bein kannst du kein Ritter werden.«
Der Junge nickte im schummrigen Licht und Rowan zog die Bettdecke über seine Beine. Er gähnte, denn der Tag war lang gewesen.
»Ich wünsche Euch eine gute Nacht, mein Herr. Weckt mich bitte morgen früh, bevor Ihr aufbrecht.«
»Ich werde es mir überlegen. Ich glaube, du hast die Ruhe nötig. Schlaf jetzt wieder.«
Der Prinz drehte die Öllampe runter und löschte das Licht. Er seufzte, als er sich mit dem Gesicht in das weiche Kissen drehte und die Augen schloss.
Er würde schnell reiten, um schnell sein Ziel, Thalea, zu erreichen. Nur so konnte er gewährleisten, dass er auch zeitig wieder in seine geliebte Heimat Annwyn zurückkehren konnte.
Agrippa tänzelte über das Kopfsteinpflaster, als die erste Morgensonne über die Fachwerkhäuser kroch. Es war kalt und Rowan trug einen Schal und das dicke Wollcape. Sein Atem kondensierte, als er das kleine Proviantpaket in seinem Reisesack verstaute. Bis auf den schnauzbärtigen Wirt war noch niemand auf den Beinen und der Prinz hatte seinen Knappen schlafen lassen. Er hatte ihm eine kleine Nachricht hinterlassen, damit er nicht zu enttäuscht war. Außerdem hatte er ihm Geld dagelassen, für den Fall, dass Rowan nach den sechs Wochen, die er für Sero bezahlt hatte, noch nicht zurück war.
Es war besser so, schnell aufzubrechen. Denn Sero war voller Schuldgefühle wegen des Unfalls, als wäre es seine Absicht gewesen, sich das Bein zu brechen und flachzuliegen. Als hätte das nicht jedem geschehen können. Der Junge war loyal, vermutlich bis in den Tod. Es war besser, wenn Rowan bereits weg war, wenn er erwachte. So brauchte sich niemand schlecht zu fühlen.
»Komm, mein Junge«, flüsterte der Prinz, nahm Agrippas Zügel und stieg in den Sattel. Der Hengst wieherte leise und setzte sich mit hallendem Hufgetrappel in Bewegung.
»Auf nach Thalea.« Rowan gab dem Hengst die Sporen und jagte über die Straße in Richtung Norden.