Für mich begann der Tag wie jeder andere Schultag sonst auch. Meine Mutter brüllte einmal quer durch das Haus, weil meine Schwester Lilli das Badezimmer blockierte, mein Vater fluchte, weil seine Morgenzeitung durch den Regen draußen nass geworden war und ich erwachte aufgrund des Tumults geschlagene 10 Minuten vor meinem Wecker.
So war es fast jeden Morgen. Selbst in den Ferien, die heute zuende gingen.
Verschlafen und nicht ganz Herr meiner Sinne trabte ich in mein eigenes Badezimmer, das Gott sei Dank nur zugänglich war, wenn man durch mein Zimmer ging - was ich durch konsequentes Türen-Abschließen verhinderte.
Täte ich das nicht, würde mein Nashorn von Schwester jeden Morgen mein Bad in Beschlag nehmen und meine Mutter durch mein Zimmer brüllen.
So weit sollte es niemals kommen!!
Durch die gewonnene Zeit zog ich meine Dusche etwas in die Länge, putzte mir in Ruhe die Zähne und machte mir, zumindest versuchsweise, die Mühe, meine strubbeligen Haare etwas in Form zu bringen.
Der Junge, der mich durch den Spiegel hindurch anblickte, blieb dennoch absolut durchschnittlich. Die dunklen Haare waren zu lang und immer irgendwie unordentlich, das Gesicht war blass und unspektakulär, Lippen und Lächeln nichts, was einen anderen Menschen aus der Ruhe bringen könnte und die Nase meiner Ansicht nach etwas zu groß. Das einzige an mir, dass ich wirklich mochte, waren meine grünen Augen und meine Figur. Ich war zwar nicht wirklich groß, aber schlank.
Eine Tatsache, die in meiner Familie nicht selbstverständlich war, wenn ich mir meine Eltern und meine Schwester betrachtete. Die hatten alle einige Kilos zuviel auf dem Rippen.
»Kommst du, Benny? Sonst wird dein Frühstücksei kalt.«
Die Stimme meiner Mutter drang zu mir, als ich gerade meinen Rucksack für den Tag packte.
»Ich komme.«, rief ich, zog meine Tür zu und verriegelte sie. Ich hatte, seit meine Schwester unerlaubt an meinen Laptop gegangen war und einige wichtige Dateien gelöscht hatte, angefangen, sie abzuschließen und alles relevante elektronische Zeugs mit Passwörtern zu sichern. Denn Lilli hatte vor nichts Respekt, wenn sie ihren Willen nicht bekam.
Alte Zicke.
»Na du Nerd, bist du auch schon da, ja?« Meine Schwester hockte, angemalt wie ein Fastnachtsclown, am Küchentisch und stopfte sich mit Nutella-Toasts voll. Ich verzog den Mund. Warum meine Mutter ihr nicht mal etwas Vernünftiges hinstellte... so war es kein Wunder, dass Lilli mit 15 soviel wog wie ein Junge in meinem Alter und 15 Zentimetern mehr an Körpergröße. Sie wog ja jetzt schon mehr als ich.
»Na du Fressmaschine, hast du schon alles an Süßkram vernichtet?«, konterte ich darauf, nahm Platz und begann, mir ein Brötchen mit Frischkäse zu schmieren.
»Pffff...«, machte Lilli bloß und futterte weiter. Insgeheim war es gut, dass sie mit dieser LmaA-Einstellung durchs Leben ging, denn sie war trotz ihrer Pfunde selbstbewusst, aber für ihren Körper war das nichts. Und ich konnte mir kaum vorstellen, dass ihr Schwarm an unserer Schule, Roman König, Interesse an ihr haben würde, solange sie Kleidergröße 48 trug. Roman war in meinem Jahrgang und er umgab sich mit den hübschesten Mädchen, die an der Schule zu finden waren.
Insgeheim hatten meine Freunde und ich aber den Verdacht, dass er vom anderen Ufer war und das auf diese Art zu überspielen versuchte. Beweise gab es dafür keine, aber ich zog Lilli gern damit auf.
Ihr Gesicht und ihre Versuche, Roman in Schutz zu nehmen, waren einfach zu köstlich, denn sie beschied ihm einen Charakter, wie er ihn niemals in 1.000 Jahren haben würde. Er war kein freundlicher und nachdenklicher Junge, er war ein Schürzenjäger, der Jagd auf Weiber machte und sie danach fallen ließ wie eine heiße Kartoffel. Aber woher sollte meine Neuntklässlerin von Schwester das auch wissen?
Sie war nie mit ihm auf einer Klassenfahrt und hatte dann das Zickentheater erlebt, wenn er ein Mädchen aus der Klasse oder der Jugendherberge nach dem anderen flachgelegt hatte und die sich anschließend um ihn stritten.
Warum machten Frauen das? Warum waren sie immer wieder der Meinung, dass sie allein durch Sex den Charakter und das Wesen eines Mannes würden ändern können? Was war denn Sex schon? Ein völlig natürlicher, bio-chemischer Vorgang, ausgelöst durch einen Trieb, den jeder Mensch in sich hatte... also nichts Besonderes. Und für Roman König war es nur ein Sport.
Doch für meine naive Schwester war er der Prinz in der silbernen Rüstung, sein Motorrad war das edle Ross und er hatte nicht nur den Namen, sondern auch die Seele eines Königs. Dass die meisten Könige der Geschichte grausame Despoten waren – na ich muss nichts weiter dazu sagen, oder? Lilli war und blieb dumm, was das anging. Sollte sie doch gegen die Wand laufen, wenn sie das unbedingt wollte.
Mir sollte es egal sein, ich machte mir nichts aus der Liebe und sie sich nichts aus mir. Ich war 18 und so unberührt wie ein Kind nach der Geburt. Außerdem haderte ich mit mir selbst, weil sich bei mir einfach kein Interesse für Frauen einstellen wollte. Stattdessen erwischte ich mich immer häufiger, wie ich nach dem Sportunterricht den Jungen beim Umziehen zusah. Ich hatte einen schwerwiegenden Verdacht, was los war und doch wollte ich es nicht wahrhaben.
»Ihr solltet dann, ihr Beiden, sonst wird es knapp.« Meine Mutter drückte uns die Lunchpakete in die Hand. Lilli murrte bloß, weil Apfelstücken statt Schokolade darin waren, doch ich lächelte und gab meiner Mutter einen Kuss.
»Bis später, Mum. Komm jetzt, Moppel, beweg deinen Arsch.«
Lilli und ich fuhren meistens mit dem Fahrrad zur Schule und zumindest einen Teil des Weges auch gemeinsam. Auf halber Strecke trafen wir wie immer auf ihre beste Freundin Emilia und Lilli blieb oft einen Moment stehen, um zu Atem zu kommen. Emilia war im Gegensatz zu meiner Schwester eine wirkliche Elfe, bei der man Angst haben musste, dass man sie zerdrückte, wenn man sie berührte.
Ich stoppte wie immer kurz, um sie zu begrüßen und mir entging auch dieses Mal nicht, dass ihre Wangen rot wurden. Ich schätze, sie mochte mich, aber ich konnte das nicht erwidern. Nicht so, wie sie es gern wollte.
»Morgen, Emilia. Bleibt nicht so lange stehen, sonst bekommst du sie gar nicht mehr vom Fleck, ok?« Ich lächelte und das Rosa auf Emilias elfenbeinfarbener Haut wurde stärker.
»Ja, ich pass schon auf, dass wir nicht zu spät kommen, Benny...«, hauchte sie.
Ich hob die Hand zum Gruß und setzte meinen Weg fort. Der Himmel war noch immer bewölkt, aber zum Glück regnete es nicht mehr. Die Pfützen ließen alles ungemütlich und kalt wirken, aber etwas anderes konnte man Ende Oktober auch nicht mehr erwarten.
Schon als ich an der Schule ankam, merkte ich, dass irgendetwas anders war als sonst. Es wirkte alles viel sauberer und es roch auch besser, als hätte der Hausmeister eine Extraschicht Putzen eingelegt. Keiner der Papierkörbe auf dem Schulhof, die gerne von den jüngeren Schülern umgekippt wurden, enthielt auch nur ein Fitzelchen Unrat, das Laub war zusammengerecht wurden. Im Gebäude selbst waren alle Fußmatten sauber und auch hier die Mülleimer leer. Plakate, die vor den Herbstferien noch nicht da hingen, zierten nun die Wände und zeigten die Dinge, die verschiedene AG’s fabriziert hatten.
Was war mir entgangen? Wurde vor den Ferien eine Ankündigung gemacht? Ich zermarterte mir das Hirn auf dem Weg zum Vertretungsplan und merkte nicht, dass ich direkt auf eine Person zusteuerte. Als ich das tat, war es schon zu spät und ich rammelte voll in sie rein. Strauchelnd versuchte ich, das Gleichgewicht zu halten und drohte schon, zu fallen, als ein paar Hände mich daran hinderten.
»Sorry, ich...«, setzte ich an, sah hoch und mir stockte der Atem. Der Typ, der mich festhielt, war so irrsinnig attraktiv, dass ich vergaß, was ich sagen wollte.
»I’m sorry, that was my fault. I stood right in your way.« Er stellte mich wieder aufrecht hin und betrachtete mich mit einem Lächeln. Er hatte mir im Weg gestanden? Wohl eher bin ich blindlings in ihn hineingerannt. Und warum sprach er englisch mit mir?