Nacht. Er war unter freiem Himmel. Fackelschein zuckte hinter den Blättern der Büsche, über ihm hing ein weißer Mond am Himmel. Es war kalt, eine feuchte modrige Kälte, die ihm bis ins Mark ging. Die Luft roch nach brackigem Wasser, Blut und Fäkalien, Fäulnis und Verzweiflung. Der Geruch der Verzweiflung war der Schwächste, doch es war ein durchdringender Gifthauch, den die zahllosen Verwundeten und Sterbenden in die Erde geschwitzt und den der gesättigte Boden wieder ausgestoßen hatte. Wie den Geruch, lernte Tarun auch die Farbe der Verzweiflung kennen. Es war die Farbe des heraufziehenden Morgens, ein stumpfes Grau mit einem goldenen Lichtstreifen hinter dem Wald, der ihm sagte, dass es Zeit war, wieder in den Fluss zu kriechen. Dort verbarg er sich im Röhricht. Im flachen Wasser liegend, atmete er durch ein Schilfrohr und wagte nur gelegentlich den Kopf über die Wasseroberfläche zu erheben, um zu lauschen, ob die Männer noch nach ihm suchten. Manchmal hörte er, wie das verzweifelte Flehen eines Verwundeten in einem Gurgeln endete und dann verstummte. Dann wusste er, dass die Männer noch da waren, die seine Reisegruppe überfallen und niedergemetzelt hatten. Sie suchten nach ihm mit der Beharrlichkeit von Bluthunden. Er sank wieder unter die Oberfläche, zu ermattet um das Schilfrohr zwischen den Lippen zu halten. Er streckte die Hand nach dem Rohr aus, seiner einzigen Verbindung zum Leben. Das Schilfrohr fiel auf sein Gesicht, lag auf ihm, erst federleicht, dann schwerer und schwerer, es drückte ihn unter Wasser, etwas Weiches umschlang ihn wie Tausende von Tentakeln. Er spürte, wie es sich fest um seinen Hals zog, ihn würgte. Er riss an den Tentakeln, kämpfte gegen sie an. Derweil stand sein Vater vor ihm, beobachtete ihn stumm, hob ihm drohend die Hände entgegen. In seinen verengten Augen stand ein warnender Ausdruck, seine Lippen murmelten unablässig, schweig, schweig, schweig …
Tarun erwachte jäh. Er setzte sich auf und fröstelte, als er sich an seinen Traum erinnerte. Sein Kopf schmerzte und in seinem Bauch rumorte der Hunger. Aber so elend er sich auch fühlte, zumindest lag er nicht halb tot im eisigen Wasser eines Flusses, an dessen Namen er sich nicht erinnerte. Jene Tage der Hölle lagen lange zurück. Oder?
Er legte sich wieder hin und schloss die Augen, versuchte sich zu beruhigen, um klar denken zu können. Es war das erste Mal, dass er in so klaren Bildern geträumt hatte. Um ein Haar wäre er zwischen dem Röhricht ertrunken. Doch im Sterben liegend stellte er fest, dass er weiterleben wollte. Unter all seiner Schwäche lag ein ungebrochener Lebenswille begraben. Es waren Ravena und ihre Bediensteten, die ihn noch rechtzeitig gefunden und mit nach Rocca d´Aquila genommen hatten. Er erinnerte sich, wie er sauber und gewärmt in einem Daunenbett erwachte, mit einem himmlischen Engel an seiner Seite, der ihm heiße Brühe einflößte. Ihre sanfte Stimme war wunderbar tröstlich, doch als sie ihn nach seinem Namen fragte, hatte er nicht antworten können. Nicht nur, dass ihm sein Name entfallen war – sein ganzes Sein geriet in Aufruhr, bei dem Versuch Worte zu formen. Seine Lippen zitterten und es schnürte ihm regelrecht die Kehle zu, während sie beruhigend auf ihn einsprach. »… lass dir nur alle Zeit, die du brauchst, mein Junge. Wir müssen nichts überstürzen. Ruh dich aus. Du bist noch so schwach wie ein neugeborener Welpe. Wenn du wieder kräftiger bist, kommt sicher auch deine Stimme zurück.«
Er hatte die Augen geschlossen und genickt. Doch weder seine Stimme noch seine Erinnerungen waren zurückgekommen.
Tarun öffnete die Augen. Der kalte, schmucklose Raum hatte sich nicht zu seinem Vorteil verändert, seit er das letzte Mal erwacht war. Noch immer hatte er keine Vorstellung davon, wo er sich befand. Vor dem Fenster waren Gitterstäbe und es lag außerdem zu hoch, als dass er hätte hinausschauen können. Die Kammer, in der er eingesperrt war, musste jedoch zum offenen Meer hin liegen. Das Rauschen der Wellen, die an den Strand schlugen, und das Kreischen der Möwen waren die einzigen Geräusche, die von draußen in seine Kammer drangen, abgesehen vom gelegentlichen Gepolter und den Flüchen des Mannes, der ihm sein Essen brachte.
Die zurückliegenden Ereignisse erschienen Tarun immer noch seltsam unwirklich; sooft er auch den Hergang überdachte und hinterfragte, – es kam ihm alles so unglaublich vor, dass er manchmal kurz davor stand, sich mit wütendem Gebrüll Luft zu machen.
Und einmal hatte er tatsächlich versucht, auf diese Weise mit seiner Hilflosigkeit und Angst fertig zu werden. In seinem Inneren hatte sich ein Schrei geformt, der von dort bis zum Himmel gereicht hätte, wäre er je ausgestoßen worden. Doch sein Verlangen sich zu artikulieren, hatte lediglich dazu geführt, dass in seinem Kopf wieder jedes scheußliche Dröhnen einsetzte, verbunden mit den wispernden und klagenden Stimmen, die er zu hassen gelernt hatte. Zu seiner Beschämung war er nach dieser Erfahrung zu mutlos, um es noch einmal zu versuchen. Wie sollte er auch Dämonen besiegen, die keine greifbaren Formen besaßen?
Wenn er ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass sein Traum ihn zu Tode ängstigte. Solange er sich nicht erinnern konnte, was sich tatsächlich ereignet hatte, war er hilflos diesen Ängsten ausgeliefert. Er konnte nichts, aber auch gar nichts tun - ein Gedanke, bei dem er sofort von Verlustgefühlen und Zorn übermannt wurde. Mann hatte ihm sein Leben genommen, und mochte auch das, was er im Gegenzug auf Rocca d´Aquila dafür bekommen hatte, sehr angenehm sein, so war es nicht dasselbe. Vielleicht hatte er Geschwister, die ihn vermissten, Eltern, die sich nach ihm die Augen ausweinten? Bei allen Heiligen, er hatte nicht die geringste Ahnung!
Doch dann erinnerte er sich an seinen Entführer und ihm fiel ein, dass der Geist wissen musste, wer er war und warum man ihn verschleppt hatte. Er musste versuchen, ihm auf irgendeine Weise diese Informationen zu entlocken. Nur wie? Seine Wachstafel war ihm schon lange abhandengekommen, seine Zeichen verstanden nur Ravena und Alessa. Seine Redeversuche klangen wie das Gestammel eines Schwachsinnigen und würden den Geist bestenfalls dazu verleiten, ihn auf der Stelle zu töten.
All das schoss Tarun durch den Kopf, während er wie gelähmt dalag, den Atem angehalten, das Herz pumpend wie ein Blasebalg. Aussichtslos, dachte er. Seine Lage war vollkommen aussichtslos.
Schwer atmend und unter leisem Ächzen zog Joran das gestohlene Boot auf den Strand. Er konnte nur hoffen, dass das Glück ihm hold blieb und sein Besitzer es nicht vor Tagesanbruch vermissen würde. Von einem Ende der Stadt zum anderen zu rudern hatte seinem geschundenen Körper einiges abverlangt und der Abend war weiter vorangeschritten, als ihm lieb war. Aber er hatte ganz sichergehen wollen, dass Theodora nicht noch einen zweiten Bewacher auf ihn angesetzt hatte. Der Erste war ein unerfahrener und nicht sonderlich heller Bursche gewesen. Es hatte Ash´abah keine Mühe gekostet, ihn zu überrumpeln. Der Bursche war schon beim Anblick des Dolches in seiner Hand kreidebleich geworden und hatte alles gestanden, was er wissen wollte. Inzwischen schlummerte der Unglückliche an Bord einer auslaufbereiten Galeere einer entbehrungsreichen Zukunft als Ruderer entgegen.
Trotzdem die unmittelbare Bedrohung ausgeschaltet war, ließ ihm eine nagende Stimme in seinem Kopf keine Ruhe und er fragte sich, ob er nicht etwas übersehen hatte. Es erschien ihm fast wie eine Beleidigung seiner Fähigkeiten, sich mit einem derart unerfahrenen Bewacher auseinandersetzen zu müssen. Es passte nicht zu Theodoras Gewohnheit, etwas dem Zufall zu überlassen. Wobei es ihr durchaus zuzutrauen war, dass all dies zu einem perfiden Plan gehörte, der nur dazu diente, ihn zu zermürben. Sie zwang ihn, in jedem wachen Augenblick über die Schulter zu sehen, was seiner ohnehin ständig im Wechsel begriffenen Gemütslage nicht zuträglich war. Seit er die Stadt betreten hatte, wurden die Phasen der Wut und das Gefühl der Ausweglosigkeit immer stärker und seine vage Hoffnung, sich endlich aus der Abhängigkeit befreien zu können löste sich auf, wie Nebel in der Sonne.
Während er über den Strand lief, packten ihn erneut die Zweifel daran, ob er seine Familie je wiedersehen würde.
Nur zu deutlich erinnerte er sich an den Tag, an dem sich sein kleiner Haushalt vor der Kirche San Nicolò versammelt hatte, um ihn gebührend zu verabschieden. Begleitet vom dröhnenden Klang der Kirchenglocken hatte er seine Mutter umarmt, die kleine Schwester liebevoll auf die Stirn geküsst, bevor er sich voller Tatendrang zum Hafen aufgemacht hatte, um sein Schiff zu besteigen. Eine aufregende Reise zu unerforschten Handelsplätzen lag vor ihm, ein Abenteuer, von dem er als reicher Mann heimzukehren gedachte. Nichts war jedoch so verlaufen, wie er es sich ausgemalt hatte. Im Gegenteil. Aus dem vielversprechenden jungen Kaufmann Joran Gianfranco Ferroni war Ash´abah, der Geist geworden, ein verachtenswerter Mann, der tiefer gesunken war, als er sich je hätte träumen lassen …
Reiß dich zusammen, ermahnte er sich selbst. Alles Jammern nützt ohnehin nichts. Du musst jetzt sorgfältig planen und darfst dir mit dem Jungen keinen Fehler erlauben.
Mit geübten Bewegungen überwand er die Umfassungsmauer, durchquerte einen verwilderten Garten und näherte sich der Hintertür des Hauses, in dem Raffi untergebracht war. Er klopfte zweimal kurz, worauf die Tür beinahe lautlos aufschwang. Joran schlüpfte ins Haus, während der Alte, der ihm geöffnet hatte, die Tür wieder verriegelte und sich zu ihm umwandte. »Hier war alles ruhig, Herr.«
»Gut.«
Sie standen in einer Küche, die nur dürftig von einem auf dem Tisch brennenden Talglicht erhellt wurde.
»Gib mir ein Licht «, befahl Joran. Der Alte schlurfte zum Tisch, entzündete ein zweites Talglicht und reichte es seinem Besucher.
Joran gab sich Mühe seine Schritte auf der Stiege zu dämpfen. Oben angekommen presste er ein Ohr gegen die Tür und lauschte. In Raffis Kammer war es still, doch das hatte nichts zu bedeuten. Der Junge verhielt sich die meiste Zeit auffallend ruhig. Vielleicht schlief er ja schon.
Joran öffnete die Tür und trat ein. Der Junge saß auf dem Strohsack, der ihm als Lager diente, und blickte ihn unverwandt an. Langsam hob er die rechte Hand und deutete auf eine Stelle des staubigen Fußbodens.
»Was soll das?«, fragte Joran unfreundlich.
Der Junge antwortete nicht, sondern deutete abermals auf den Boden und da entdeckte er die Buchstaben, die sorgfältig in den Staub gemalt waren.
Wer bin ich?
»Soll das ein Witz sein?«, grollte er. »Du wirst doch wohl wissen, wer du bist.«
Raffi schüttelte den Kopf und zuckte gleich darauf mit den Schultern.
»Du willst mich auf den Arm nehmen, was? Das lasse besser bleiben.«
Wieder ein Kopfschütteln.
»Antworte mir gefälligst, du kleiner Bastard. Ich habe nicht ewig Zeit.«
Ohne ihn aus den Augen zu lassen, glitt der Junge von seinem Strohsack, kniete sich auf den Boden und schrieb erneut in den Staub.
Kann nicht. Stumm.
Joran starrte ungläubig auf die Worte. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen und er musste sich beherrschen, um nicht laut aufzuheulen und das Schicksal zu verfluchen, und den Jungen gleich mit dazu, weil dieser auf eine Weise seine Pläne durchkreuzt hatte, die furchtbarer nicht hätte sein können.
Einmal mehr spürte er den verhassten Drang, zu beten, um Vergebung zu bitten, für seine unzähligen Sünden, und nur mit großer Anstrengung gelang es ihm, dieses sinnlose, dumme Gefühl zu bannen. Gott hatte ihm noch nie geholfen, hatte seine Gebete ungehört verhallen lassen.
»Du lügst«, sagte er langsam.
Raffi schüttelte energisch den Kopf und stieß dabei unartikulierte gurgelnde Laute aus.
Joran fuhr zurück. »Hör auf dich zu verstellen! Das zieht bei mir nicht.«
Der Junge verschränkte trotzig die Arme vor der Brust und starrte ihm, ohne zu blinzeln, ins Gesicht.
Joran presste die Fingerspitzen an die Schläfen, als könne er auf diese Weise seine Gedanken daran hindern, wie aufgescheuchte Fliegen durcheinanderzuschwirren.
»Niemand hat je davon gesprochen, dass mit dir etwas nicht stimmt. Und jetzt willst du plötzlich stumm sein? Wie ist das möglich?«
Natürlich blieb Raffi die Antwort schuldig und ihm dämmerte die grässliche Erkenntnis, dass der Junge ihn vielleicht gar nicht belogen hatte. Niemand den er kannte, brachte es fertig, aus freien Stücken wochenlang zu schweigen. Mit einer heftigen Bewegung wandte er sich um und ging zur Tür. »Ich bin gleich zurück.«
Joran eilte die Stiege hinunter und stürmte in die Küche, wo der Alte erschrocken von seinem Schemel hochfuhr. »Ich brauche eine von diesen Kisten, die du für deine Fische benutzt.«
»Draußen, Herr. Gleich … gleich neben der Tür stehen welche«, stotterte der Alte.
Joran schnappte sich das Talglicht, trat vor die Tür, griff sich die oberste der aufgestapelten Holzkisten und eilte damit zum Strand hinunter. Mit beiden Händen schaufelte er eine Lage Sand in die Kiste, setzte das Talglicht obenauf und kehrte ins Haus zurück. Wenig später stand er wieder in Raffis Kammer.
Misstrauisch beäugte der Junge die sandgefüllte Kiste, die Joran vor ihm auf den Boden gestellt hatte.
»Zieh einen Strohhalm aus deiner Matratze und dann schreib«, befahl er. »Bist du von Geburt an stumm?«
Raffi strich den Sand sorgfältig glatt, wählte einen festen Strohhalm und schrieb: Nein.
»Seit wann bist du es dann?«
Es geschah vor fünfzehn Monaten.
Unwillkürlich rechnete Joran nach. Die Zeit stimmte. Die ersten Gerüchte vom spurlosen Verschwinden der geheimen Reisegesellschaft waren vor vierzehn Monaten aufgetaucht. Die Männer schienen sich von einem auf den anderen Tag einfach in Luft aufgelöst zu haben, – und mit ihnen Raffaele, einziger Sohn und Erbe des Hauses Badoer. Seltsamerweise hatte sein Vater, Pietro Badoer, jedoch so getan, als sei alles in bester Ordnung. Nach Badoers Angaben befand sich sein Sohn auf seiner ersten eigenständigen Handelsreise. So etwas konnte dauern, das wusste jeder Venezianer und so war die Sache bald wieder in Vergessenheit geraten.
»Wie kam es dazu?«, frage Joran weiter. »Was ist geschehen?«
Raffi zuckte die Schultern, glättete den Sand und schrieb: Ich kann mich nicht erinnern.
»Wie bitte?«
Ich weiß nicht, was passiert ist.
»Großer Gott«, flüsterte Joran. Er fühlte sich wie gelähmt, auf eine Art betäubt, die tief ging und sehr schmerzhaft war.
Du weißt, wer ich bin. Sag´s mir.
Joran schnaubte. »Was kann dir ein Name schon nützen.«
Vielleicht hilft er mir, mich zu erinnern. Du willst doch, dass ich mich erinnere, oder?
Joran starrte den Jungen für die Dauer mehrerer Herzschläge an, während er seine nächsten Schritte abzuwägen versuchte. Vielleicht konnte der Name etwas bewirken, konnte verschüttete Erinnerungen zurückbringen. Vielleicht gab er damit aber auch den einzigen Trumpf aus der Hand, den er hatte. Er lächelte schmallippig. »Ich habe keinen Namen für dich.«
Dann lass mich in Ruhe, du schleimige Made.
Joran schlug zu, schnell und hart. Die Ohrfeige warf den Jungen nach hinten, und er prallte mit einem keuchenden Laut gegen den Strohsack.
»Sag mir, wie du nach Rocca d´Aquila gekommen bist«, verlangte er, leise, scharf und in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
Raffi hob in einer hilflos wirkenden Geste die Hände.
»Schreib!«
Raffi rappelte sich auf und sah sich suchend nach seinem Strohhalm um. Da er ihn nicht fand, benutzte er seinen Zeigefinger, um die Worte in den Sand zu kratzen.
Gleiche Antwort. Ich weiß es nicht.
»Und diese Frau? Diese Burgherrin. Sie muss dir doch etwas erzählt haben. Frauen reden für ihr Leben gern …«
In Raffis Augen blitzte es auf. Sprich nicht respektlos von meiner Mutter!
»Sie ist nicht deine Mutter«, grollte Joran. »Wenn sie das behauptet, hat sie gelogen! Deine Mutter ist tot.«
Raffi machte eine zornige Handbewegung. Sag mir die Wahrheit! Du weißt, wer ich bin! Was willst du von mir und wozu hast du mich verschleppt?
Joran spürte nichts anderes als Wut; einen Zorn, der aus Hilflosigkeit geboren war und ihn beinahe auffraß. Er trat so heftig gegen die Sandkiste, dass der Junge erschrocken zurückfuhr.
»Verdammt«, brüllte er. »Was willst du hören? Dass ich dich angelogen habe? Ja, zum Teufel, das habe ich! Aber nicht, weil es mir Spaß macht, sondern weil ich genauso ein … ein Opfer bin wie du. Und ich hasse es! Ich hasse es mehr, als du dir vorstellen kannst!«
Raffi blieb ganz ruhig. Jorans Zornesausbruch prallte von ihm ab, ohne dass sich auch nur etwas an seinem Blick änderte.
Joran resignierte. Er spürte, wie wenig Sinn es hatte, weiter auf den Jungen einzureden. Die fehlende Erinnerung zerstörte seine Pläne auf eine Weise, mit der er nicht gerechnet hatte.
Aber das stimmt doch gar nicht, wisperte die Stimme des Versuchers hinter seiner Stirn. Niemand verliert einfach sein Gedächtnis. Schlag ihn. Füge ihm Schmerzen zu, bis er nicht anders kann, als dir zu sagen, was du wissen musst.
Sei still, antwortete er in Gedanken.
Aber warum? Hast du Angst vor der Wahrheit?
Die lautlose Frage ließ Joran zusammenzucken. Er war sich nicht sicher. O nein, er war ganz und gar nicht sicher. Mit einem wütenden Knurren stürmte er aus der Kammer und schlug die Tür krachend hinter sich zu.
Tarun blieb aufgewühlt und verblüfft zurück. Er verstand wenig von dem, was er gerade gehört und erlebt hatte, aber er begriff immerhin, dass der Geist keineswegs so selbstsicher war, wie er tat. Die Blicke, mit denen sein Entführer ihn gemessen hatte, hatten ihm verraten, dass der Mann unbedingt etwas von ihm wissen wollte. Und dieses Wissen war offensichtlich wichtiger, als der Geist zuzugeben bereit war. Nur, worum ging es dabei?
Fröstelnd schlang Tarun die Arme um sich. Unwirklich, dachte er. Das war das Wort, welches ihm die ganze Zeit durch den Sinn gegangen war. Die ganze Situation war unwirklich. Nicht falsch oder fremdartig; es war nur, als bewege er sich Schritt für Schritt in eine Welt hinein, die ihm hätte vertraut sein müssen, die sich von dem Leben auf Rocca d´Aquila jedoch so völlig unterschied, dass es einfach keine Bezugspunkte mehr gab. Der Geist hatte gesagt, seine Mutter sei tot, eine Information, die ihm der Zorn entlockt hatte, die aber deshalb kaum weniger wertvoll war. Der Geist kannte ihn, kannte seinen Namen, wusste, zu wem er gehörte. Er hatte einen Vater, vielleicht eine ganze Familie mit Brüdern und Schwestern, Onkeln und Tanten und sie mussten hier an diesem Ort sein, an den der Geist in verschleppt hatte.
Tarun griff nach dem Talglicht und sah sich erneut in seinem Gefängnis um. Das Fenster war noch immer vergittert und zu hoch angebracht, um hinaussehen zu können. Auch die Möblierung hatte sich nicht auf wundersame Weise verändert. Es gab den Strohsack, einen Nachttopf und eine Kiste, die erbärmlich nach Fisch stank und die als Tisch herhalten musste. Verbittert ließ Tarun sich auf seinen Strohsack fallen und gab sich den Rachefantasien hin, die ihm durch den Kopf schossen. Dazwischen stellte er immer wieder Überlegungen an, wie er seine Flucht bewerkstelligen konnte. In den vergangenen Tagen hatte er schon mehr Pläne geschmiedet und verworfen, als er zählen konnte, hatte die Handlungsabläufe für alle möglichen nur denkbaren Fälle gleichsam verinnerlicht - nur um festzustellen, dass ein entscheidendes Detail seiner Pläne einfach nicht eintreten wollte. Weder der Geist noch der Alte, der ihm sein Essen brachte, vergaßen jemals, die Tür hinter sich zu verriegeln.