In den darauffolgenden Tagen konnte Toni nichts anderes machen, als in seinem Zimmer zu sitzen und sich selbst zu hassen. Sogar die wenigen Pflichtveranstaltungen seines Studiums, bei denen er vorher wirklich nur weggeblieben war, wenn er fast den Kopf unterm Arm getragen hatte, ließ er jetzt einfach sausen. Stattdessen saß er auf seinem Bett und starrte die Wand an, während in seinem Kopf immer und immer wieder das Gespräch mit Gregor abgespielt wurde und mit jedem Mal lasteten seine Vorwürfe schwerer auf Toni, bis er das Gefühl hatte, zerquetscht zu werden.
Gregor hatte definitiv den Nagel auf den Kopf getoffen mit allem, was er gesagt hatte. Toni war eindeutig ein Mistkerl und damit hatte er sich selbst ja schon vor Jahren abgefunden. Aber diese Worte dann noch von jemand anderem zu hören hatte noch einmal eine ganz andere Dimension, vorallem, weil sie auch noch von Gregor gekommen waren.
Wenn Tonis Gehirn grade eine Auszeit von seiner Dauerschleife nahm, dachte er darüber nach, wieso er Gregor gegenüber niemals so ein schlechtes Gewissen gehabt hatte, wie bei Lydia. Dabei hätte es Gregor nach diesem Herbst mit lauter Rumgeknutsche, Gefummel und Trockensex und den ganzen Gefühlen, die Toni dabei gehabt hatte, doch mehr als verdient.
Aber je mehr Toni sich mit dieser Frage auseinandersetzte, desto mehr wurde ihm bewusst, dass es vielleicht einfach daran lag, dass er Gregor nie wirklich kennengelernt hatte. Im Gegensatz zu Lydia, von der er beinahe alles wusste, von ihrer Schuhgröße über ihr Lieblingsessen bis hin dazu, dass sie lieber mit Füller schrieb, als mit Kugelschreiber.
Und was wusste er von Gregor? Dass er sich für seine alte Familie interessierte, dass er gerne Geschichten erzählte und, dass er sehr schnell wütend werden konnte. Wenig und eher oberflächliche Dinge. Aber um mit Gregor rumzumachen und das, was er tief in sich drinnen immer eingeschlossen hatte, einmal rauszulassen, hatte das ausgereicht. Und Gregor danach schnell wieder zu vergessen war Toni ja auch mehr als entgegengekommen, schließlich war da ja schon Lydia, wegen der er sich schlecht fühlen musste.
Ein Verhalten, das jetzt, nachdem Gregor ihn damit konfrontiert hatte, wie eiskalter Regen auf Toni niederprasselte und er sich unter der Bettdecke verkroch.
Nach dreitägiger Isolation und Selbsthass hatte Toni das Gefühl, verrückt zu werden. Natürlich hätte er Anna anrufen können, die ihm selbstverständlich und ohne nachzufragen seinen Freiraum gelassen hatte, aber das ging nicht, denn Toni war erst jetzt aufgefallen, dass er auch Anna gegenüber nie genug schlechtes Gewissen gehabt hatte, obwohl er mit ihr eigentlich in der gleichen Situation war, wie mit Lydia damals. Auch, wenn er sie nicht ganz so gut kannte, aber immerhin noch besser als Gregor.
Was seine Theorie wiederlegte. Vermutlich war es einfach egal, wie gut oder schlecht er die Menschen kannte, die er ausnutzte, er war einfach ein Mistkerl, der immer mehr abstumpfte. Und da alles mit Lydia angefangen hatte, hatte sie damm eben noch was von seinem schlechten Gewissen abbekommen, bevor es nach und nach verschwunden war.
Anna anzurufen stand also völlig außer Frage und so lange er sich nicht bei ihr melden würde, würde sie davon ausgehen, dass er weiterhin seinen Freirraum brauchte. Anna konnte ihn also nicht aus seiner Lage retten. Aber das taten dann seine Freunde, die irgendwann zu dritt vor der Wohnungstür standen.
"Man Alter, wir dachten schon, du bist tot!" rief Aaron und hieb Toni einmal auf die Schulter. "Noch nichtmals zurückgeschrieben haste!" fügte Julian gespielt vorwurfsvoll hinzu und erst in diesem Moment fiel Toni auf, dass er sein Handy schon drei Tage nicht gesehen hatte und der Akku inzwischen bestimmt auch leer war.
Er hob beide Hände. "Tut mir Leid, tut mir Leid!"
"Das kannst du nur wieder gut machen, wenn du jetzt mitkommst zum Saufen!" sagte Julian und auch, wenn Toni nicht das Gefühl hatte, dass er einen lustigen Abend verdient hatte, hatte er inzwischen auch keine Lust mehr, sich die ganze Zeit nur schlecht zu fühlen. "Da bin ich natürlich dabei!" rief er deswegen, zog sich hastig die Schuhe an und riss seine Jacke von der Gaderobe. "Los geht's!"
Die ersten Stunden hatte Toni auch wirklich Spaß. Sie spielten abwechselnd Billard und Tischkicker und tranken sich dabei durch die Getränkekarte. Aber als der Pegel eine gewisse Höhe erreicht hatte, war Aaron plötzlich verschwunden und Linus und Julian hatten mehr Interesse dran, irgendwelche Frauen anzusprechen. Und wie so häufig, wenn Toni soetwas beobachtete und wieder einmal feststellen musste, dass Frauen ihn einfach nicht interessierten, verschwand seine gute Laune mit einem Schlag. Was natürlich auch Gregor in seinem inneren Theater wieder auf der Bühne auftreten ließ.
Toni akzeptierte, dass er sich jetzt gleich wieder richtig elend fühlen würde, aber er er hatte absolut keine Lust, das wieder zuhause auszuleben. Stattdessen setzte er sich auf einen Barhocker zwischen irgendwelche Leute, bestellte ein Bier und stützte dann die Stirn in die Hand. Er seufzte einmal tief und während er auf das Holz der Theke starrte, ging er den Katalog an Selbstvorwürfen Punkt für Punkt noch einmal durch.
Als er sein zweites Bier schon fast ausgetrunken hatte, sah er aus dem Augenwinkel, wie sich jemand auf den freien Hocker neben ihn setzte. "Hallo," sagte eine Stimme und Toni verdrehte innerlich die Augen. Er hatte zwar damit gerechnet, dass er irgendwann mal angesprochen werden würde, wenn er hier wie ein Häufchen Elend an der Theke herumsaß aber gleichzeitig auch gehofft, dass es niemals passieren würde.
Er hob den Blick zu demjenigen neben ihm und sein Herz setzte einen Schlag aus, als er sah, dass es Gregor war. Sofort hörte Toni damit auf, den Kopf aufzustützen und setzte sich gerade hin. "Hallo," erwiderte er, völlig sicher, dass das neben ihm gar nicht Gregor war und sein in den letzten Tagen überstrapaziertes Hirn sich das nur einbildete. Und als Gregor ihn dann sogar leicht anlächelte, war Toni restlos davon überzeugt, dass er nur eine Illusion war. Denn warum sollte Gregor sich nach dem, was er ihm vor vier Tagen an den Kopf geworfen hatte, neben ihn setzten, geschweige denn, ihn anlächeln?
"Ich hab dich hier sitzen gesehen und da dachte ich, ich sag einfach mal Hallo," sagte Gregor.
"O... okay," erwiderte Toni. Er merkte, wie er Gregor anstarrte und wandte den Blick ab. Er fühlte sich in seiner Gegenwart nicht besonders wohl und wäre am liebsten einfach abgehauen. Aber das ging ja auch nicht, also blieb er, wo er war und umklammerte lediglich sein Bierglas. Er hatte keine Ahnung, wie er sich jetzt verhalten sollte, aber das musste er eigentlich auch gar nicht. Schließlich hatte Gregor sich ja zu ihm gesetzt, also sollte der jetzt gefälligst irgendwas machen. Gregor machte auch was, aber die paar Sekunden Schweigen dazwischen, reichte schon aus, um Toni fast verrückt zu machen.
"Ein paar Straßen weiter gibt es n echt guten Club und ich dachte, ich frag dich einfach mal, ob du vielleicht mitkommen willst," meinte Gregor. "Denn vielleicht tanzt du ja noch genau so gerne wie früher."
Toni fühlte sich immer mehr im falschen Film konnte aber gleichzeitig nicht verhindern, dass er wütend wurde. Was dachte Gregor eigentlich, wer er war? Erst warf er ihm diese ganzen Sachen an den Kopf und fragte ihn danach, ob sie tanzen gehen wollten?! Es dauerte einen Moment, bis Toni sich wieder unter Kontrolle hatte. "Also, ich hab mich damit abgefunden, dass ich ein Mistkerl bin! Und, dass du völlig Recht hast mit allem, was du mir letztens gesagt hast! Und jetzt..."
"Ich habe auch gesagt, wir machen einen Schnitt und vergessen alles, was gewesen ist!" unterbrach Gregor ihn. "Und da wir uns wegen Xenia und Anna sowieso ständig sehen werden, dachte ich eben, wir könnten ab jetzt versuchen, miteinander klarzukommen.
Die ganze Situation war inzwischen so absurd, dass Toni der Mund offen stehenblieb und er erst einen Moment brauchte, um die Fassung wiederzugewinnen.
Er hatte keine Ahung, was in Gregor gefahren war aber ihm wurde klar, dass er eigentlich jedes Recht hatte, sich ihm gegenüber so merkwürdig zu benehmen wie er wollte. Und auch, wenn Tonis Theorie am Ende vermutlich falsch war, war er es Gregor doch irgendwie schuldig, ihn ein wenig besser kennenzulernen. Er atmete einmal tief ein. "Ok, also, ich komm gern mit. Aber ich muss eben mal meine Freunde suchen und ihnen sagen, dass ich abhaue." Er rutschte vom Hocker, bevor Gregor noch irgendwie reagieren konnte und genoss die wenigen Momente allein, bis er Linus und Julian schließlich an einem Tisch in der Ecke gefunden hatte. In dieser Zeit schaffte Toni es einigermaßen, wieder auf den Boden zurückzukommen.
Seine Freunde waren viel zu sehr mit den beiden Mädels an ihrem Tisch beschäftigt um sich lange mit Toni aufzuhalten. Sie hoben beide lediglich die Hand zum Abschied und nickten einmal in Tonis Richtung und dann war er entlassen. Aber Toni kannte das ja schon und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Das aber schnell verschwand, als er zurück zur Theke ging. Vielleicht erwartete ihn da ja gleich auch noch Xenia und auf die Turteleien zwischen ihr und Gregor war Toni absolut nicht scharf.
Aber bei Gregor standen lediglich ein ihm völlig unbekannter Kerl und eine völlig unbekannte Frau, die Gregor als Laurenz und seine Freundin Lisa vorstellte und die einen ganz netten Eindruck machten.
Der Club war sehr gut besucht, die Musik gefiel Toni und die Getränke waren auch nicht ganz so teuer. Und da die Situation immer noch merkwürdig war, stieg er von Bier auf Wodka Red Bull und Cocktails um und das half ihm, dass es sich bald wieder normal anfühlte, neben Gregor auf der Tanzfläche herumzuhampeln.
Sie redeten während der ganzen Zeit kein Wort miteinander und kamen sich auch nicht in die Quere und das war für Toni auch völlig in Ordnung. Aber als der Club um vier Uhr schloss und sie sich zu viert auf den Weg zur Bushaltestelle machten, da wurde ihm bewusst, dass er Gregor nicht besser kennenlernen würde, wenn er einfach weiterhin gar nichts machte.
Also räusperte er sich einmal. "Sag mal, wann hast du eigentlich Geburstag?"
"Am 8. November," antwortete Gregor überrascht. "Und du?"
"30. März," sagte Toni, aber er war noch nicht fertig. "Wenn du im November Geburstag hast, was bist du denn dann für'n Sternzeichen?"
Gregor lachte. "Skorpion, glaube ich, aber mir ist dieses Zeug völlig egal. Warum fragst du?"
Toni zuckte mit den Schultern. "Einfach so."
Gregor lachte immer noch, als er fragte: "Und was bist du für ein Sternzeichen?"
"Widder," erwiderte Toni. "Und ich glaube auch nicht an dieses Zeug." Innerlich hakte er auf der Liste, die er grade gemacht hatte, Geburstag und Sternzeichen ab; beides Dinge, die er von Lydia wusste und jetzt auch von Gregor.