Vor mir liegt ein Tunnel, von schwachem Fackelschein erhellt. Die Luft riecht muffig, nach Fackeln und Lilien. Der Boden ist uneben, die Decke mit Tropfsteinen behängt. Ich kann Fledermäuse in der Dunkelheit über mir riechen.
Auf leisen Pfoten tappe ich durch den Tunnel. Ich kann Misa riechen. Ebenso Comodos und Kian Jecri. Und Marc. Von dem gewundenen Tunnel führen keine Seitengänge ab, also konzentriere ich mich ganz darauf, leise und schnell zu laufen. Ich höre Schritte vor mir, von drei Menschen. Ich bin mir sogar sicher, Misas Schritte heraushören zu können.
Mein Herz schlägt so laut, dass ich fürchten muss, von Comodos bemerkt zu werden. Was mache ich eigentlich grade hier? Auch wenn Misa sich in Jecris Gewalt befindet, ist das noch kein Grund, sich kopflos in Gefahr zu begeben. Ich hatte länger abwarten müssen.
Aber es hilft nichts. Jetzt bin ich hier. Ich betrachte im Laufen die Holzkäfige, die hier überall verteilt stehen. In allen Größen und Formen. Wozu braucht Jecri die?
Schließlich erreiche ich eine Stelle, an der der Tunnel breiter wird. Es ist eine Art Höhle. In etwa zwanzig Metern läuft der Tunnel normal weiter. Die Verbreiterung scheint nicht natürlichen Ursprungs zu sein, sondern mit Dynamit oder Magie erschaffen.
In der Mitte der Höhle steht Kian Jecri. Hinter ihm der unglaublich große Schatten von Comodos, mit einer Fackel in der Hand. Misa steht regungslos neben Jecri und sieht unbeteiligt aus.
Jecri blickt auf etwas oder jemanden am Boden vor sich. Ich schiebe mich vor, bis ich um einen Holzkäfig herum spähen konnte. Auf einer Matratze am Boden liegt Marc, gefesselt. Seine rechte Hand ist in einen dreckigen, blutgetränkten Verband gewickelt. Jecri spottet ihm grinsend ins Gesicht: „Sieh nur, wer uns besuchen kommt! Deine bezaubernde Tochter. Ist das nicht wunderbar?“
Marc stöhnt und knurrt, doch er ist geknebelt und kann nicht antworten. Mein Nackenfell sträubt sich.
Jecri deutet in der Höhle herum: „Kein sehr schöner Ort, das tut mir leid. Vielleicht hätte ich einen Palast für euer Familientreffen mieten sollen. Aber das wäre so ... auffällig gewesen. Und immerhin soll Velaa doch durch einen Unfall sterben. Einen furchtbaren, absolut tragischen Unfall. Wie schade, dass sie ihren Wahlkampf nicht weiter führen kann, nicht wahr?“ Jecri senkt den Kopf und faltet die Hände vor der Brust, als würde er trauern: „Ihre guten Kollegen werden natürlich ihr Vermächtnis weiterführen. Ich habe vollstes Vertrauen in meine Freunde.“
Marc schnaubt. Misa reagiert nicht. Jecri lächelt breit: „Leider können sie nicht das Gleiche für die Unterstadt tun wie Velaa – sie war eben etwas ... Besonderes.“
Jetzt bäumt Marc sich gegen die Fesseln auf, aber Jecri schüttelt nur bedauernd den Kopf: „Streng dich nicht an, Marc. Comodos macht gute Knoten.“
Der Liger teilt seine Lippen zu einem breiten Grinsen, das seine spitzen Zähne offenbart.
Ich sehe zu Misa. Ist sie noch da - irgendwo in diesem Körper? Könnte sie mich hören, wenn ich sie rufe? Oder ist auch ihr Geist gefangen?
„Weißt du, Marc.“, sagt Jecri nachdenklich. „Ich glaube, ich will dir die Ehre zugestehen, meiner Hochzeit beizuwohnen.“
Marc hört auf, gegen die Fesseln zu kämpfen und starrt Jecri aus geweiteten Augen an. Ich lege die Ohren an: Was meint Jecri jetzt damit?
Mit einem Lächeln legt Jecri einen Arm um Misas Schultern und beugt sich zu ihrem Ohr. Doch der Magier spricht so laut, dass Marc ihn hören kann, und meine geschärften Sinne nehmen die Worte ebenfalls wahr: "Übe doch schon einmal den Hochzeitstanz, Misa, meine Liebe."
Mir bleibt die Luft weg. Nein. Nicht Misa! Mein Fell sträubt sich vor Entsetzen. Misa dagegen hebt gehorsam die Arme und bewegt sie durch die Luft. Mechanisch setzt sie einen Fuß vor den anderen. Sie tanzt, mit ausdruckslosem Gesicht.
Ein tiefes Knurren entweicht meiner Kehle. Jecri wird ihr das niemals antun! Nicht, solange ich lebe!
Doch Comodos hört mich. Mein Knurren hat mich verraten. Der Liger dreht sich zu mir um und mein Herz setzt einen Schlag aus. Jecri sieht mich ebenfalls und winkt Comodos, mich zu töten. Ohne zu zögern fällt der Liger auf alle Viere und hetzt auf mich zu. Ich ducke mich und sprinte dann vor ihm weg. Comodos' Knurren füllt den Tunnel aus. Meine Pfoten kratzen über den Stein. Jecri lacht und Marc kämpft mit aller Macht gegen die Seile um seine Arme und Beine.
Und Misa tanzt.