Sie jagten sie, trieben sie vor sich her wie ein Tier. Die Wölfe heulten laut.
Schon die zweite Nacht war Kaithryn unterwegs. Die Zeltstadt war längst außer Sicht. Sie wusste, dass die Wölfe sie in eine Richtung drängen wollten, nach Westen, wo das Lager der Magier lag. Sie hatte versucht, aus dem Ring der Treiber auszubrechen, doch es war hoffnungslos. Die Wölfe waren zu zahlreich. Wann immer sie die falsche Richtung einschlug, sprangen die dunklen Tiere vorwärts, knurrend und geifernd. Kat hatte sich mit Schwert und Feuer zur Wehr gesetzt, doch die Wölfe gaben nicht auf. Sie mussten unter der Kontrolle eines Alphas stehen, nichts anderes konnte die Wölfe dazu zwingen, sich todesverachtend ins Feuer zu stürzen, und doch wieder von Kaithryn abzulassen, wenn sie in die richtige Richtung floh, nach Westen.
Nun, am zweiten Tag der Treibjagd, war sie erschöpft und stolperte lediglich müde vorwärts. Die Wölfe hielten Abstand, waren für Kat zwischen den Baumstämmen nicht mehr zu sehen, doch sie hörte wieder und wieder ihr Heulen. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis: Was war aus Yodda geworden? Wo war Colum? Und was war mit Nylian? Wie sollte sie Imras Azmaek jemals Widerstand leisten, so ganz alleine? Wie mächtig war der Graf von Amrais bloß?
Es dauerte eine Weile, bis die Hilferufe zu ihr durchdrangen. Kat blieb wie angewurzelt stehen.
„Hilfe! Ist da jemand?“ Das dünne Stimmchen kam von links, wo es tiefer in den Wald hinein ging.
„Hallo?“, rief Kat.
„Hilfe!“, schrie die unbekannte Person mit hoher Stimme. Dann ertönte das raue Bellen der Wölfe und die Stimme ging zu einem wortlosen Schrei über.
Ohne nachzudenken zog Kat ihr Schwert und rannte los, die Wölfe, die sie beobachteten, stimmten lautes Geheul an.
„Hilfe!“, rief die Stimme wieder. Der Urheber bewegte sich, kam auf Kat zu. Sie hörte Wölfe vor sich und tastete nach einem Funken Feuer in ihrer Seele. Die Magie kam wie von selbst und erfüllte Kat mit neuer Energie. Sie schoss vorwärts.
„Hierher!“ Sie hob das Schwert, dünne Flammenzungen leckten über die Klinge und verteilten helles Licht im düsteren Wald. Eine Gestalt kam aus dem Halbdunkel herangelaufen, klein und grau, in ein unförmiges, weites Kleidchen gekleidet.
Es war ein Kind, der Kopf wirkte durch eine Mähne brauner Locken um ein Vielfaches größer, als er ohnehin war. Das Mädchen stürzte zu Kat und klammerte sich an ihr Bein.
Kat hielt an und richtete die Schwertspitze gen Dunkelheit. Gelbe, schmale Augen flackerten dort auf, die Wölfe knurrten. Kat hörte ihre Schritte, als die großen Wesen durch das Zwielicht strichen. Hier huschte ein grauer Körper durch einen dünnen Sonnenstrahl, dort wand sich ein dunkler Leib hinter einem Stamm hervor.
„Verschwindet!“, knurrte Kat durch die zusammengebissenen Zähne. Sie hielt das Schwert mit einer Hand und legte die andere auf die Schulter des Mädchens, zog sie mit sich. Sie durften sich nicht umzingeln lassen. Schritt für Schritt zog Kat sich zurück.
Die Wölfe griffen nicht an. Sie knurrten, sprangen schnappend nach vorne und funkelten Kat böse an, doch sie gingen nicht zum Angriff über. Kaithryn vermutete, dass Azmaek ihnen verboten hatte, die Wettkämpfer zu töten. Das ließ sie hoffen, dass auch Yodda und Nylian noch lebten, irgendwo.
Das Mädchen schluchzte jetzt unkontrolliert und klammerte sich an Kaithryn. Nach einem letzten Blick auf die Wölfe beugte Kat sich herunter und hob das Kind auf ihre Arme. Dann drehte sie um und eilte aus dem Wald, verfolgt von wütendem Geheul.
Eine ganze Weile lief sie keuchend durch das hohe Gras.
„Sie verfolgen dich nicht“, stellte das Kind fest.
Kaithryn hätte das Mädchen um ein Haar fallen gelassen. Sie hatte geglaubt, dass sie schlafen würde. Seit der Flucht hatte das Kind sich kaum gerührt, geschweige denn gesprochen. Inzwischen war es Abend.
„Natürlich verfolgen sie mich“, antwortete sie. „Aber ich glaube, sie dürfen mich nicht töten.“
„Mich hätten sie getötet, wenn sie es geschafft hätten“, murmelte das Mädchen ernst. „Du hast mich gerettet!“
Kaithryn lächelte dünn. „Gern geschehen.“
„Ich bin Aoi. Aoi Miako“, stellte sich das Kind vor.
„Kaithryn Ravn. Du kannst mich Kat nennen.“
„Oh, was für ein schöner Name! Wo gehst du hin, Kat?“
Kaithryn blieb kurz stehen, um das Kind auf ihrem Arm zurecht zu rücken. Aoi war zwar ungewöhnlich leicht für ihre Größe, aber auf Dauer wurde selbst das Gewicht zu schwer.
„Ich habe leider keine große Wahl. Ich gehe nach Westen.“
Aoi fuhr zusammen und rückte ein Stück von Kat ab, um sie mit großen Augen zu mustern. Ein Auge war hellgrün, das andere gelb. Kat hatte noch nie einen Menschen mit zwei verschiedenen Augenfarben gesehen.
„Du darfst nicht in den Westen gehen! Da sind böse Menschen und Elfen!“
„Meinst du die Magier?“ Kat blieb stehen. „Sie haben ihr Lager dort oben.“
Aoi nickte. „Sie sind böse!“
„Wie, böse? Ist Azmaek dort? Ein Feuerelb, mit einer silbernen Flöte als Amulett?“
„Ich weiß nicht“, sagte Aoi. „Ich war ganz kurz da, dann kamen die Wölfe und haben mich wieder gejagt.“ Tränen stiegen ihr in die zweifarbigen Augen. „Sie haben alle getötet in der Zeltstadt.“
„Warum jagen sie ausgerechnet dich?“, fragte Kaithryn leise. „Du hast noch keinen Beruf, richtig?“
„Ich war Spülerin!“, prahlte Aoi. „Ich hab Teller gespült!“ Sie schüttelte sich und strich über ihre dürren Arme, die aus den viel zu großen Ärmeln der grauen Jacke ragten. „Das Spülwasser ist ekelig!“
Kaithryn musste wider Willen lächeln. „Spülerin also? Ein ehrenwerter Beruf.“
„Was bist du? Eine Kriegerin?“ Aoi musterte Kats Schwert.
Sie seufzte. „Nein, Aoi. Ich bin eine Magierin.“
„Aber eine nette Magierin?“, fragte Aoi besorgt.
„Natürlich.“ Kat nickte. „Du sagt, wir sollten besser nicht in den Westen gehen? Dann suchen wir nach einem anderen Weg! Aber du musst allein laufen.“
„Mach ich!“ Aoi ließ sich absetzen und griff vertrauensvoll nach Kaithryns Hand. Mit dem Kind, das neben ihr her hüpfte, schlug Kaithryn den Weg zurück zum Wald ein.
Fast sofort erklang das vertraute Heulen wieder. Aoi zuckte zusammen und blieb wie angewurzelt stehen.
Auch Kat hielt an. „Das klingt nicht gut. Sie wollen, dass ich in das Lager gehe.“
„Und du machst, was sie wollen?!“, fragte Aoi entgeistert.
Kat fuhr sich über die Stirn und seufzte. „Ich habe keine Wahl, Kleine.“ Sie zückte ihr Schwert und fasste den Griff. „Na los!“, brüllte sie der aufziehenden Nacht entgegen. „Ich gehorche euch nicht! Kommt und holt mich!“
„Was tust du denn da?“, quiekte das Mädchen.
„Ich gehe nach Osten“, knurrte Kat durch zusammengebissene Zähne.
Das Heulen verstummte.
„Jetzt sind sie auf der Jagd“, flüsterte Aoi halblaut. „Sie jagen uns!“
„Sie jagen mich schon seit zwei Tagen!“
„Aber jetzt jagen sie richtig. Jetzt wollen sie töten.“
Kat wandte sich zu dem Mädchen um. „Weißt du … du kannst einem echt Mut machen.“
Aoi klammerte sich jetzt mit beiden Händen an Kats Finger. „Ich will nicht sterben!“
„Niemand wird sterben.“ Kat hob das Schwert in den Himmel und rief die Feuermagie. Flammen züngelten über das Schwert, das Licht erleuchtete die Wiesen um sie herum. Sie fühlte sich stark, jede Müdigkeit und Angst war verschwunden. Gelbe Augen von allen Seiten warfen den Feuerschein zurück.
„Kat, ich habe Angst!“, flüsterte Aoi und drängte sich gegen ihr Bein.
„Fürchte dich nicht.“ Kat konzentrierte sich und lenkte ihre Macht nach außen. Feuer schlug ringförmig um sie herum aus dem Gras, ein kniehoher Schutzkreis, in dessen Mitte die junge Frau und das Mädchen standen. Geduckt krochen die Wölfe näher, schwarze Schatten im hohen Gras.
Aoi quiekte und riss an Kats Hand. Sie wirbelte herum und schwang das Schwert. Mit weit aufgerissenem Maul und blitzenden Zähnen sprang ein Wolf auf sie zu, der den Ring überquert hatte. Das Schwert traf ihn seitlich am Kopf und schleuderte das Tier zur Seite. Als der Wolf in das Feuer fiel, wurde sein Jaulen schrill und panisch, dann sprang das brennende Tier davon.
„Na los, wer ist der nä-“
Kat konnte ihre Herausforderung nicht beenden. Ein Gewicht traf sie in den Rücken, warf sie nach vorne in den Dreck. Sie hörte Aoi schreien, dann schlug ihre Stirn gegen etwas Hartes.
Es klingelte in ihren Ohren. Die Augenlider fielen ihr zu und waren mit einem Mal so schwer … sie konnte die Augen nicht wieder öffnen. Ihr Gesicht lag auf der Erde, die Wange am Gras. Sie hörte ihr Herz klopfen, langsam und einschläfernd.
Es war dunkel, als sie mühsam die Augen öffnete. Erschrocken fragte sich Kat, ob sie bewusstlos gewesen war, doch dann hörte sie Aoi nicht weit entfernt schreien.
„Aoi!“, rief sie und streckte die Hand aus, doch das Feuer wollte nicht kommen. Kraftlos sank ihr Arm auf die Erde. Zu spät. Sie hatte versagt.
Plötzlich spürte sie ein Kribbeln von Energie, doch es war fremde Macht, die sie wahrnahm. Im nächsten Moment flammte gleißendes, weißes Licht auf. Kat hob mit einiger Mühe den Kopf und sah fünf hohe Gestalten auf sich zu kommen – die Boten des Grafen?
Sie ballte die Hände zu Fäusten, grub die Finger tief in die weiche Erde und wollte sich aufstützen, doch ihre Arme waren zu schwach. Keuchend sank sie ins Gras. Sie hörte Wölfe jaulen und Stimmen brüllen, dann waren da Hände, die sie in die Höhe zogen, über die Erde schleiften.
„Aoi“, murmelte sie schläfrig, dann fielen ihr die Augen zu.
Kat blinzelte. Dann fuhr sie mit einem Ruck in die Höhe. „Aoi!“
„Ich bin hier.“ Das kleine Mädchen saß in einer Ecke des hellen, weißen Zeltes. Kat saß aufrecht in einem Klappbett, weder die Decken noch ihre Kleidung – ein weißes Hemd – kam ihr bekannt vor. Doch auf einem Schemel lag ihre vertraute Lederkluft und das Kettenhemd.
„Wo … bin ich?“
„Im Magierlager.“ Aoi trug ihre graue Kleidung. „Die Magier haben uns gerettet. Sie haben dich hierher gebracht.“ Das Kind klang nicht besonders glücklich über diese Entwicklung.
„Geht es dir gut?“, fragte Kat und Aoi nickte.
„Und dir? Ich habe mir Sorgen gemacht.“
Kat ließ sich zurück in die Kissen sinken. „Mir geht es gut, ich bin nur … sehr müde.“
„Dieser Mann hat gesagt, dass du deine Kraft überstrapaziert hast.“ Aoi verzog das Gesichtchen. „Ich mag ihn nicht, er ist komisch. Hat eine komische Haut.“
„Das ist noch kein Grund, jemanden nicht zu mögen“, seufzte Kat erschöpft.
„Er ist komisch. Und er sieht aus wie verbrannter Lehm!“
Kat setzte sich wieder auf. „Warte, was? Meinst du Azmaek? Er ist hier?!“