MARIE
Die Starre liegt noch immer über meinem Körper. Noch immer bin ich gefangen zwischen zwei riesigen Flügeln, zwei starken Armen und im Blick von dunkelgrauen Augen. Die Angst ist noch immer in mir, jedoch noch nicht ausgebrochen. Das Einzige was ich bis jetzt über meine Lippen gebracht habe, ist der Name Seth, der eher als eine wirre Frage aus meinen Mund gekommen ist. Und noch immer betrachten mich diese Augen, in denen nichts mehr von Tobias zu erkennen ist. Schweißperlen sammeln sich auf meiner Stirn. Mein Atem geht stoßweise und jedes Mal wenn ich einatme berührt meine Brust die harte Brust meines Gegenübers. Ich weiß nicht was ich machen soll. Weiß nicht, ob ich damit beginnen soll, mich zur Wehr zu setzen. Was sicherlich vergebens sein wird, denn ich hätte nicht einmal eine kleine Chance gegen ihn etwas auszurichten.
Doch dann unterbricht er, die zum Zerreißen gespannte Stimmung mit seiner tiefen Stimme.
„Wenn du mich noch länger so ansiehst, kann ich mich leider nicht mehr zurückhalten. Aber ich denke, der Gute Teil von mir hätte etwas dagegen.“
Er schüttelt seinen Kopf und mit seinen Worten verschwindet dieses Dunkle in seinem Blick und wird von etwas ersetzt, das aussieht, als hätte er wirklich Gefühle. Als würde er mich nicht umbringen wollen. Auch, wenn seine Worte mir ebenfalls Angst machen sollten, so verwirren sie mich mehr, als alles andere. Ich verliere die Angst und beginne die erste Frage in meinem Kopf über meine Lippen sprudeln zu lassen.
„Wo ist Tobias?“
Erst nach wenigen Sekunden wird mir klar, dass diese Frage so bescheuert ist. Denn Tobias ist hier. Ich weiß nicht wie das ganze funktionieren soll. Weiß nicht, ob ich all das glauben kann. Es klingt zu absurd. Zu krank. Zu abgedreht. Und dennoch stehe ich hier und blicke in Augen, die mir vollkommen fremd sind.
„Du meinst mein anstrengendes Gewissen. Er soll sich endlich daran erinnern, was er wirklich ist. Was wir sind.“
Seine Stimme ist noch immer tief, jedoch hat sie an Härte verloren. Nur etwas von Wut ist darin zu hören.
„Ich verstehe es nicht.“
Ich schüttle meinen Kopf und das er davon spricht, dass Tobias sein Gewissen sein soll, überschreitet meinen menschlichen Verstand. Irgendwo in meinem Augenwinkel hat sich aus Verzweiflung eine kleine Träne gesammelt und diese bahnt sich jetzt einen Weg über meine Wange. Daraufhin höre ich ein schnalzendes Geräusch aus Seth’s Mund.
„Kein Grund zu weinen. Ich werde dir nichts tun und schon gar nicht Tobias. Dann würde ich mir ja selbst schaden.“
Ein Grinsen legt sich auf seine Züge und er betrachtet mich erneut eingehend, bevor er weiterspricht und es schafft, dass ich mich wieder beruhige.
„Tobias gehört genauso zu mir, wie all meine anderen Leben, die ich gelebt habe. Dieses Mal ist jedoch mein zweites Ich um einiges stärker als in den anderen Leben.“
Verwirrt schüttle ich meinen Kopf. Ich verstehe kein einziges Wort von dem, was er da sagt. Als er sich dann auch noch von der Nähe löst, die sich brennend über meinen Körper legt, atme ich tief ein und lasse meine Schultern erleichtert sinken. Er entfernt sich einige Schritte und lässt mir Platz. Es fühlt sich an, als würde ich nach einer langen Zeit wieder atmen können und gleichzeitig seine Nähe vermissen. Sein Blick hingegen frisst sich noch immer in meine Haut. Dieser wirkt ehrlich interessiert und ich weiß nicht, ob es mir noch mehr Angst machen sollte, oder mich beruhigt.
„Es ist komplex. Um es verständlicher für dich zu machen, werde ich dir einen Bruchteil davon erklären, so lange wie es mein zweites Ich zulässt. Also, ich wurde als Sohn von Eva und Adam geboren. Jahrhunderte lang habe ich in Eden gelebt. Doch als mein Bruder gestorben ist, hat mein Vater gedacht, ich hätte ihn umgebracht. Daraufhin hat er mich gejagt und wollte mich töten. Um dies zu verhindern hat meine Mutter einen Pakt mit dem Teufel abgeschlossen. Sie gegen mein Leben. Sie musste von der Erde verschwinden, damit ihre Kräfte sich nicht auf mich übertragen. Jedoch hatte das ganze einen Haken. So wie immer, wenn man mit Luzifer persönlich einen Pakt abschließt.“ Er schüttelt seinen Kopf, als würde er Bilder darauf vertreiben wollen, bevor er weiterspricht. „Der Haken daran war, dass ich immer wieder geboren worden bin, ohne Kräfte und mich nicht mehr an die Vergangenheit erinnern konnte. Doch jetzt sind meine Kräfte plötzlich zurück. Das heißt, meine Mutter ist ebenfalls zurück auf der Erde und ich würde mein Leben darauf versetzen, dass sie nicht freiwillig hier ist. Somit kehrt mein Geist langsam zurück mit diesem Leben. Doch solange Tobias sich nicht erinnert, kann ich mich nicht mit seinem Geist vereinen. Erst dann können wir als Eins, den anderen gegenüber treten und meine Mutter befreien. Du musst ihn dazu bringen, sich zu erinnern. Je länger er versucht es zu verdrängen, desto schwächer wird sein Geist. Auch, wenn er jetzt so stark ist, dass er versucht gegen mich anzukämpfen. Er verliert immer öfter. Sag ihm, dass er sich erinnern muss. Er würde unser beider Geister zerstören.“
„Wie sollte ich ihm dabei helfen?“
Auch, wenn diese Geschichte so verdreht klingt, dass es mein menschliches Hirn kaum verarbeiten kann, glaube ich diesem Seth. Doch wie soll ich Tobias dabei helfen? Ich kann mir ja nicht mal vorstellen, wem ich dann gegenüberstehe, wenn sie Eins sind, so wie er sagt. Werde ich dann Seth gegenüberstehen. Wird Tobias für immer verschwinden. Die Fragen schwirren in meinem Kopf und scheinen von Sekunde zu Sekunde mehr zu werden. So wie auch meine Verwirrung.
„Er ist auf dem richtigen Weg. Er wird die Pforte nicht ohne Hilfe finden. Er soll sich auf den Weg nach Palatium machen. Er soll dort die Erinnerungen zulassen. Er muss sich erinnern...an den Verrat. An alles.“
Seine Worte stoppen und in der Iris seiner Augen kann ich plötzlich silberne Sprenkel erkennen, die sich den Weg in die Dunkelheit zurückkämpfen. Er stöhnt nochmals leise auf und bringt gequält noch etwas über seine Lippen.
„Er kämpft gegen mich an. Sag ihm...er muss sich erinnern. Du musst an seiner Seite bleiben...“
Und dann. Von einer auf die andere Sekunde verschwinden die Flügel im Hauch von Nebel und Rauch. Seine Lider schließen sich gequält und geschwächt fällt er nach vorne auf seine Knie. Ein schmerzvolles Stöhnen kommt erneut über seine Lippen. Ohne weiter zu zögern, stürze ich auf ihn zu, um ihn aufzufangen, bevor er zu Boden sinkt. Nun ist es mein Stöhnen, das über meine Lippen kommt, da ich sein Gewicht aufgefangen habe und nun mit meinen Beinen unter seinem Oberkörper sitze. Sein Kopf liegt in meinem Schoß und meine Hände greifen nach seinen Schultern, um ihn zu halten. Dann höre ich endlich wieder die mir vertraute Stimme. Obwohl sie tief ist und ebenfalls etwas in mir auslöst, fühle ich mich bei dieser Stimme wohler.
„Fuck. Was ist passiert?“
Seine Augen öffnen sich und für einen Moment lässt er seine Schwäche zu, bevor er sich aufsetzt und sich auf seine Beine stellt, als wäre nichts gewesen. Sein Blick ruht noch immer fragend auf mir, doch ich brauche noch einen Moment um zu verstehen, was hier wirklich gerade passiert ist und wie ich es ihm am besten erklären soll.
„Ich. Habe. Dich. Etwas. Gefragt.“
Nun scheint Tobias, der richtige Tobias wieder vollkommen hier zu sein und für einen Moment wünsche ich mir diesen Seth wieder her. Er ist wütend. Alleine sein Blick beweist mit, dass er all seine Kraft gerade anwendet, um die Gefühle unter Kontrolle zu halten. Doch ich kann es nicht. So viele Emotionen. So viel Wut staut sich in mir auf und meine Worte kommen fast schreiend über meine Lippen.
„Palatium. Keine Ahnung was oder wo das ist, aber wir müssen dort hin. Jetzt.“
Plötzlich wirkt nichts mehr an ihm wütend und sein Blick ist überrascht und ungläubig zugleich.
„Wieso...Also warum glaubst du, dass wir dorthin müssen?“
Ich stehe nun ebenfalls auf, da ich mir auf diesem kalten Betonboden noch kleiner und unsicherer vorkomme als ohnehin schon. Ich straffe meine Schultern, bleibe zwei Schritte entfernt von ihm stehen und blicke in seine Augen. Ich mache mich bereit für die Worte, die ich nun über meine Lippen bringen werde. Noch einmal atme ich tief ein. Sauge die Luft in meine Lungen, um mich innerlich zu wappnen.
„Seth hat es gesagt.“
Er dreht sich von mir und läuft wie aufgedreht in diesem kleinen Zimmer hin und her. Kein Laut kommt über seine Lippen. Es macht mich nervös. Warum sagt er nichts? Das muss doch selbst für ihn schwer zu verstehen sein. Noch schwerer als für mich. Denn immerhin ist dieser Seth irgendwie ein Teil von ihm. Oder er ist er. Je länger ich darüber nachdenke, desto komplizierter wird es. Zu meinem Glück oder eher Pech werde ich von seiner tiefen Stimme aus meinen verwirrten Gedanken gerissen.
„ch dachte, dass es einfache Blackouts sind. Es passiert immer öfters.“
Er redet eher mit sich selbst, als wirklich mit mir. Seine Finger streifen durch sein Haar und für eine Sekunde verharrt er auf der Stelle, bevor er wieder beginnt nervös hin und her zu laufen.
„Was hat er gesagt? Hat er dir weh getan? Wie war er?“
„Er sagte nur, dass du dich erinnern sollst. Ihr müsst eins werden. Er sagt, je länger du dich dagegen wehrst, desto schlimmer wird es und irgendwann werdet ihr beide verschwinden, wenn es so weitergeht. Und wir sollen nach Palatium. Er sagte, du musst dort deine Erinnerungen zulassen.“
„Hat er dir etwas angetan?“
Ich schüttle meinen Kopf und kann selbst nicht glauben, was ich daraufhin über meine Lippen bringe.
„Er war eigentlich in Ordnung. Nicht so launisch wie du.“
Für einen kleinen Augenblick glaube ich, ein Lächeln an seinem Mundwinkel zu erkennen, doch es erstirbt sofort, als er sich zum Gehen wendet. Er ist schon bei der Tür angelangt, als ich ihm ein „Was hast du vor?“ hinterherrufe. Er dreht sich nicht zu mir, als er eine Antwort über seine Lippen bringt.
„Ich werde zu diesem verdammten Hügel fahren und versuchen, etwas herauszufinden. Du bleibst hier.“
Ungläubig starre ich ihm nach, als er durch die Tür verschwindet. Keine Sekunde darauf bewegen sich meine Füße von selbst und laufen ihm hinterher. Gerade noch erreiche ich ihn, als er an einer weiteren Tür nach draußen gehen will.
„Er sagte, ich soll an deiner Seite bleiben.“
Jetzt habe ich seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Er starrt mich an und kann wohl nicht glauben, was ich da gerade von mir gegeben habe. Dann dreht er sich erneut zur Tür. Schon glaube ich, dass er jetzt verschwindet und mich alleine zurücklässt.
„Beeil dich.“
Schon glaube ich, mich verhört zu haben und meine Beine reagieren erst einen Moment später. Ich folge ihm durch die Tür und dann noch durch zwei weitere. Die letztere davon ist eine schwere Eisentür und draußen erwartet uns eine kühle und dennoch angenehme Nachtluft, die ich dankend in meine Lungen atme. Ich folge ihm zu einer kleineren Lagerhalle. Das einzige Geräusch kommt von dem Kies unter unseren Schuhen. Tobias legt seine Hand auf ein rotes Graffiti-Zeichen. Also zuerst denke ich, dass es ein Graffiti ist, doch als es für einen kurzen Moment hell leuchtet und sich daraufhin das Tor öffnet, bin ich mir mehr als sicher, dass es keines ist.
„Was war das?“
Ich folge ihm durch das Tor und warte gespannt auf seine Antwort.
„Eine Rune.“
„Was?“
„Es gibt verschiedene Zeichen, Runen, Rituale und noch viele mehr, die dafür sorgen, etwas zu schützen oder zu verstecken. So wie Rema’s Haus. Wir haben es durch Runen geschützt. Mit dieser Rune habe ich dafür gesorgt, dass eine Illusion entsteht, die keinen vermuten lassen würde, dass sich hier mein Versteck befindet.“
Er zeigt zurück auf dieses Zeichen, bevor ich einen schwarzen Helm in meine Hand gedrückt bekomme. Ich nehme ihn entgegen, doch ich habe keine Ahnung was er vorhat. Doch als er sich selbst einen Helm überzieht und sich dann auf ein Motorrad, das aussieht wie eine Harley, setzt, dass ich vorher in der Dunkelheit nicht gesehen habe, bekomme ich es mit der Angst zu tun. Er bemerkt mein Zögern und kommt noch einmal auf mich zu. Etwas forsch zieht er den Helm über meinen Kopf und verschließt ihn unter meinem Kinn. Dann höre ich nur noch ein „Entweder du fährst mit oder du bleibst hier“ von ihm. Also lasse ich meine Angst hier und folge ihm. Ich warte, bis er sich darauf gesetzt hat und versuche so elegant wie möglich mein Bein über die Maschine zu schwingen. Daraufhin ertönt das laute Brummen zwischen meinen Beinen und aus Angst vom Bike zu fallen, schlinge ich meine Arme um Tobias’s Mitte. Ich spüre, wie er sich unter meiner Berührung anspannt, doch ich kann nicht loslassen. Ich fühle mich ansonsten nicht sicher. Also verdränge ich das Gefühl, dass meine Berührung für ihn eine Qual ist und versuche mich nur darauf zu konzentrieren nicht hinunter zu fallen.
Als er losfährt festige ich meinen Griff nochmals um seine Taille. Die frische Nachtluft umfängt mich und der Wind lässt es kalt werden. Doch die Nähe von Tobias schützt mich ein wenig davor. Sie lässt mich unwillkürlich alles andere vergessen. Die Schmerzen, die er mir bereitet hat. Die Trauer und die Wut. Und plötzlich fühle ich nur noch Freiheit. Für einen Moment gönne ich sie mir. Für einen Augenblick.