MARIE
Die Lichter und Geräusche der Stadt ziehen an uns vorbei. Sie lassen mich einen Teil meiner Sorgen vergessen. Der Fahrtwind bläst die wärmende Nachtluft von meiner Haut und irgendwann beginne ich zu frösteln. Ich trage nur einen grauen Pullover, meine abgetragene Jeans und meine roten Chucks, die ich mir in Windeseile angezogen habe, bevor wir geflohen sind. Die einzige Wärmequelle, die ich jetzt noch habe, ist Tobias Rücken, an den ich mich jetzt noch fester presse und meine Arme um seine Taille schlinge. Auch, wenn ich spüre, dass er unter meiner Bewegung all seine Muskeln anspannt und es ihm scheinbar so gar nicht passt, lasse ich nicht locker. Denn auch, wenn ich diese Abneigung ihm gegenüber ebenfalls verspüre, so ist da dennoch ein Funke Vertrautheit. Ich glaube daran, dass irgendwo in ihm ein winziger Teil. Ein Fragment, des Tobias’s übrig ist, den ich geliebt habe. Der mir an diesem einen Tag mein Leben gerettet hat und der dafür verantwortlich ist, dass Alina auf dieser Welt ist. Auf diesen Teil versuche ich mich zu konzentrieren.
Die Realität kommt schneller als gedacht, als das Brummen der Harley verstummt und wir anhalten. Irgendwann habe ich meine Augen geschlossen und nun als ich sie wieder öffne, erblicke ich eine normale Straße, gesäumt von parkenden Autos, zwischen denen Tobias ebenfalls sein Bike abgestellt hat. Verwirrt versuche ich den Verschluss des Helmes zu lösen. Ich hingegen brauche doppelt so lange wie Tobias, der ihn bereits auf den Lenker der Maschine gehängt hat. Bevor er mir wieder zur Hilfe kommt, schaffe ich es zu meiner Freude auch selbst. Er nimmt mir den Helm ab und hängt ihn auf die andere Seite des Lenkers. Dann dreht er sich um und ich folge ihm. Ich habe keine Ahnung was uns erwartet. Keine Ahnung, ob dieses Wort, dass er von sich gegeben hat, eine Person, ein Ort, ein Gebäude oder sonst etwas ist. Das Einzige was ich weiß, ist, dass Tobias zielstrebig vor mir entlang geht und sein Blick ständig über die Umgebung schweifen lässt. Ich muss mich wirklich beeilen, um seinen langen Schritten folgen zu können. Erst nach wenigen Metern erblicke ich hinter einem Gebäude, so eine Art Hügel auf denen ein Licht, Mauerwerke beleuchtet und in ein warmes Orange taucht.
Meine Augen bleiben daran hängen und ich vergesse mich auf meine Schritte zu konzentrieren, als ich eine Erhebung auf der gepflasterten Straße übersehe und stolpere. Ein leiser Schrei kommt über meine Lippen während ich, wie in Zeitlupe nach vorne falle, meine Hände bereit für den Aufprall. Doch soweit kommt es nicht, als sich plötzlich zwei starke Arme um meine Mitte schlingen und mich wieder zurück auf die Beine ziehen. Aus Reaktion, habe ich meine Handflächen auf seine starken Unterarme gelegt, um mich zusätzlich zu stützen. Ich höre Tobias`s Stimme an meinem Ohr und spüre seinen Körper an meinem Rücken.
„Konzentriere dich auf deine Füße.“
Noch immer benommen, nicke ich. Ich warte darauf, dass er seine Arme wieder von meiner Mitte löst. Auch, wenn meine Handflächen noch immer auf der nackten Haut seiner Unterarme liegen. Doch er löst seine Hände nicht gleich von mir. Für einen Moment glaube ich, dass er diese Nähe genießt. Doch dann, gerade als ich mich entspannen will, löst er sich von mir. Wieder einmal so, als hätte er sich verbrannt. So als würde ihm meine Berührung plötzlich Schmerzen bereiten. Dann setzt er seine Schritte wieder fort und ich versuche ihm zu folgen, nachdem ich einen Atemzug lange versuche zu verstehen, was hier gerade passiert ist.
Wir sind keine fünf Minuten unterwegs, als sich vor uns diese Erhebung auftut und ich auf noch mehr beleuchtete Überreste von Mauerwerken blicke. Nur kurz kann ich den Anblick genießen, denn Tobias bewegt sich zielstrebig auf das Gebäude zu, über dem ein Tourist-Info Schild prangert. Ich frage mich, wie wir da rein kommen sollen, wenn die Tore und Türen alle verschlossen sind. Vorausgesetzt wir müssen überhaupt da rein. Doch wieso sollten wir sonst hier sein? Ich folge ihm weiter und erst als er bei einem kleineren Tor angekommen ist, hält er an. Für einen Augenblick versucht er zu überlegen, bevor er ein Messer aus seinen Boots zieht und sich damit in seine Handfläche ritzt, sodass Blut daraus hervorquillt. Schnell. Schneller als ich mit meinen Augen folgen kann, prangert ein Zeichen auf der Tür und wie von Zauberhand höre ich das Geräusch eines, sich öffnenden Türschlosses. Überrascht starre ich ihn an und schüttle erneut meinen Kopf. Ich kann mir ein „Mit diesen Runen funktioniert wohl alles“ nicht ersparen.
Ich glaube ein kleines Lächeln erkannt zu haben, doch nun blicke ich wieder nur auf seinen Rücken. Er stapft weiterhin durch eine enge Gasse, zwischen zwei Gebäuden entlang, bis wir auf plötzlich direkt vor einem riesigen Torbogen stehen. Er ist so massiv, dass ich für einen Moment vollkommen fasziniert davon unter ihm stehenbleibe und alles in mich aufzunehmen versuche. Doch Tobias ungeduldiges „Komm schon“ lässt mich aufschrecken und ihm weiter über den unebenen, mit großen Steinen gesäumten Weg folgen. Er scheint sich zielstrebig auf irgendetwas zu zubewegen. Immer weiter den Weg entlang. Vorbei an riesigen Säulen und Resten von einer Zeit, in der hier kein Scheinwerfer in der Nacht geleuchtet hat.
Mein Blick schweift zwischen den Mauerresten und Tobias´s Rücken hin und her. Doch plötzlich ohne Vorwarnung höre ich einen leisen Fluch von ihm.
„Fuck.“
Seine Finger streifen durch seine Haare und er schüttelt verärgert seinen Kopf. Ich halte neben ihm und blicke in sein Gesicht, das nicht gerade erfreut wirkt.
„Was ist?“
Zuerst glaube ich nicht, dass er mir antworten wird. Doch nach einer Weile beginnt er doch zu sprechen.
„Ich weiß ja nicht einmal wo ich hin soll.“
Bei seinen Worten könnte ich fast glauben, es ist Unsicherheit. Doch ich habe, seit ich ihm wieder begegnet bin, niemals Unsicherheit an ihm gesehen. Und schon kommt ein „Er sagte, du sollst dich erinnern“ über meine Lippen und er scheint echt nicht erfreut darüber zu sein.
„Danke. Es ist ja wirklich einfach, sich zu erinnern.“
Er wirkt verärgert und ich bereue meine Worte. Irgendwie will ich ihm helfen. Doch ich wüsste nicht einmal wie. Ich weiß nur, dass Seth gesagt hat, ich solle in seiner Nähe bleiben. Keine Ahnung, ob dies eine Bedeutung haben sollte. Im Moment glaube ich nicht daran, dass es etwas bringt, wenn ich in seiner Nähe bin. Denn eine Hilfe bin ich definitiv nicht.
Er scheint sich wieder zu beruhigen und blickt um sich. Plötzlich sieht er mich an und der Ausdruck in seinen Augen, lässt keinen Zweifel daran, dass er einen Entschluss gefasst hat.
„Du sagtest, er würde dir nichts tun?“
Ich bringe ein verwirrtes „Hä?“ über meine Lippen und zu spät kommt die Einsicht, dass er damit wohl Seth gemeint hat. Also bringe ich ein schnelles „Ja“ über meine Lippen, bevor er wieder wütend wird.
„Okay. Und er sagte, du sollst an meiner Seite bleiben?“
Wieder nicke ich und verstehe nicht worauf er hinaus will.
„Na gut. Er weiß mit Sicherheit, wo wir hin müssen und dieses Scheiß - Tor finde ich nicht von alleine.“
Bevor ich ein weiteres Wort über meine Lippen bringen kann, sehe ich bereits wie die silbernen Sprenkel in seiner Iris sich ausbreiten. Sie kämpfen um den Platz und ein schmerzerfülltes Stöhnen kommt über Tobias Lippen. Ich versuche ihm zur Hilfe zu eilen, als er auf seine Knie fällt und beginnt sich vor Schmerz zu krümmen, doch ein tiefes und furchteinflößendes „Lass mich“ kommt über seine Lippen. Und langsam aber doch dämmert es mir. Er lässt Seth zurück in seinen Körper oder wie auch immer es funktioniert. Und tatsächlich, einige bange Sekunden später, wird das schmerzerfüllte Stöhnen von Stille abgelöst. Gänsehaut - Horrorfilm - Angsteinflößende Stille.
Und dann blicke ich in Augen, die mir Angst machen sollten, sie es aber nicht tun. Augen, die mir vertraut sind und auch wieder nicht. Wieder flüstert meine Stimme diesen Namen. Der Name, der verursacht, dass meine Muskeln sich anspannen. Mein Herz schneller schlägt. Ob nun aus Angst oder Aufregung.
„Seth.“
Seine dunklen Augen betrachten mich. Zuerst angsteinflößend, dann mit einem schelmischen Grinsen auf seinen Lippen. Seine Mundwinkel zucken und wieder fühle ich mich in seiner Gegenwart klein und schwach.
Als dann auch noch seine tiefe Stimme meinen Körper zum Erbeben bringt, kann ich das Zittern meines Körpers nicht länger verbergen. Seine Zunge gibt ein schnalzendes Geräusch von sich, während er seinen Kopf schüttelt und auf mich zukommt, als wäre ich eine Beute, die es zu fangen gilt.
„Marie. Ich sagte doch, keine Angst. Ich werde dir nicht wehtun. Nicht, solange du es nicht stöhnend von mir verlangst.“
Und dann. Dann zwinkert er mir einfach zu. So, als wäre er gerade kurz davor, sich auf mich zu stürzen.
Schnell wende ich meinen Blick von ihm ab. Zum einen, aus Selbstschutz, zum anderen, um die plötzliche Hitze zu verdrängen, die sich über mich legt.
„Was sollen wir hier?“
Ich versuche unsere eigentliche Aufgabe weiter zu verfolgen und heraus zu finden, was wir hier sollen.
„Kluger Tobias. Er hat verstanden, dass wir dich als Vermittlerin brauchen.“
Er blickt zufrieden auf mich herab. Kommt noch näher, so dass ich seinen heißen Atem auf meiner Stirn spüren kann. Für einen Moment. Einem zu langen Moment starren wir uns an. Die dunklen Augen lassen meinen Körper reagieren, obwohl mein Geist sich zur Wehr setzt. Als er seinen Blick von mir abwendet und an mir vorbeigeht, spüre ich eine Leere, wo ich keine spüren sollte. Benommen verharre ich für eine weiter Sekunde auf der Stelle, bevor er meinen Namen ausspricht und meine Füße ohne zu zögern folgen.
Die winzigen Steine knistern unter unseren Schuhsohlen. Zielstrebig macht er sich auf den Weg zu einer der riesigen Säulen, die Überbleibsel einer längst vergangenen Zeit sind. Vor einer dieser Säulen hält er an. Prüfend blickt er über seine Schulter, so als würde er sicher gehen wollen, dass ich ihm auch wirklich gefolgt bin.
„Reich mir deine Hand.“
Verwirrt nähere ich mich ihm, lege jedoch meine Hand nicht in seine. „Warum?“ Nun dreht er sich wieder zu mir und in den dunklen Augen spiegelt sich Kälte.
„Weil ich es sage und weil du ansonsten nicht mit mir kommen kannst.“
Sein Blick duldet keine Widerrede. Also lege ich meine Handfläche zitternd in seine. Doch ein furchteinflößendes Geräusch, erschreckt mich. Ich höre ein lautes Knurren hinter mir. Ich will mich umdrehen. Will die Quelle des Geräusches ausfindig machen, doch Seth hat mich in seine Arme gezogen. Seine harte Brust presst sich gegen meine. Doch dann blicke ich plötzlich auf seinen breiten Rücken, als mich schützend hinter sich schiebt. Wieder höre ich ein Knurren. Irgendwie schaffe ich es, an ihm vorbei zu blicken. Doch was ich dort sehe, lässt mich vergessen zu atmen. Riesige Kreaturen mit leuchtend roten Augen starren uns an. Es sind drei an der Zahl. Sie sehen aus, wie eine Mischung aus Wolf und Raubvogel. Lange Reißzähne bahnen sich den Weg aus ihren Kiefern. An ihrem Rücken befindet sich eine Art Schuppengeflecht, dass sich aufrichtet und darunter riesige Spitzen hervorheben. Eine dunkle Aura, wenn man es so nennen kann, umgibt diese Wesen. Hüllt sie in eine Art dunkler Nebel. Die Luft, die aus ihren Nasenlöchern kommt, besteht ebenfalls aus dieser Dunkelheit. Dann tritt eines davon hervor. Bedrohlich. Stark. Angsteinflößend.
Meine Finger graben sich in die Haut von Tobias’s, Seth’s Unterarm, der schützend an meiner Seite liegt. Ich klammere mich daran. So, als würde es ein Schutzschild sein.
Ein erneutes tiefes Knurren lässt den Boden unter meinen Füßen vibrieren. Doch dann. Unerwartet. So plötzlich, höre ich ein noch lauteres Knurren. Zuerst denke ich, dass die Kreaturen angreifen. Doch die silbern schimmernde Haut an Seth’s Unterarm und die Sehnen, die an seinem Hals hervortreten, lassen mich wissen, dass das Knurren dieses Mal aus Seth’s Mund gekommen ist.
Augenblicklich löst sich die angriffsbereite Haltung der Kreaturen und es wirkt, als hätten sie Angst. Und ich weiß auch schon vor wem.
„Seth.“
Seth, der beschützend vor mir steht. Seth, der beschützend seinen Arm neben mich streckt. Seth, der auch mir Angst einflößt.