Als Kat aufwachte, spürte sie sofort, dass sie nicht allein war. Ein kalter Windzug fuhr durch das Zelt, als hätte sich die Plane im Eingang bewegt. Sie tastete nach dem Schwert und verfluchte sich, dass sie es nicht direkt neben dem Bett liegen hatte. Statt des kalten Stahls fanden ihre Hände die Öllampe. Ihr reichte ein Gedanke, ein kurzer Energiestoß, um sie anzuzünden.
Ein kleiner Schatten am Ende des Zelts erstarrte und sah sie dann aus verschreckten Augen an.
„Aoi!“, entfuhr es Kat und sie sprang auf, um das Mädchen zu umarmen. „Dir geht es gut! Was haben sie dir angetan?“
„Niemand hat mir was angetan!“, protestierte Aoi und wand sich aus Kats stürmischer Umarmung. Tränen hatten helle Linien in ihre dreckigen Wangen gezeichnet. „Ich wollte zur Zeltstadt. Ich hab gehofft, dass noch jemand lebt.“
Kat schob das Mädchen auf Armlänge von sich. „Du kannst mir die Wahrheit sagen, Aoi. Azmaek hatte dich gefangen, oder nicht?“
Das Kind schüttelte den Kopf, der verwirrte Ausdruck in ihren Augen war nicht geschauspielert. „Ich bin alleine weggegangen. Es tut mir leid.“
„Weggegangen?“, wiederholte Kat. Dann hatte sie sich Azmaek ganz umsonst angeschlossen? Aber die Geschichte konnte nicht stimmen! „Wie bist du denn aus dem Lager gekommen? Wieso haben die Wölfe dich nicht bemerkt? Aoi, du darfst mich nicht belügen!“
„Ich lüge nicht!“ Das Kind trat zurück und senkte den Blick zum Boden. Dann atmete sie tief durch. Im nächsten Moment war sie verschwunden. Kat stieß einen Schrei aus und sprang zurück. Dort, wo Aoi eben noch gestanden hatte, saß jetzt eine kleine, braune Katze mit Tigermuster – und zwei verschiedenfarbigen Augen.
Kat setzte sich fassungslos auf ihr Bett. „Aoi?“
Die Katze verschwand und das Mädchen war wieder da. Sie wich Kats Blick aus. „Jetzt hasst du mich, oder?“
„Nein … nein, warum sollte ich? Gib mir nur einen Moment Zeit.“ Kat fuhr sich über die Stirn. „Du bist eine Gestaltwechslerin! So konntest du den Wölfen entgehen!“
Aoi schwieg, den Kopf zwischen die schmalen Schultern gezogen.
„Aber ich hasse dich doch nicht! Wieso sollte ich?“, wiederholte Kat.
„Alle hassen Tiermenschen.“ Aoi zog das Näschen hoch. „Sie sagen, wir sind dreckig und dumm und so was.“
„Das sagen nur gemeine Menschen“, tröstete Kat. Sie ging auf das Mädchen zu und zog sie erneut in die Arme, diesmal sanfter. „Ich hab einen guten Freund, der ist ein Tiermensch. Ein Zentaur.“
Schuldbewusst fragte sie sich, wo Colum jetzt wohl war. Ob er noch lebte? Laut Aois Bericht waren alle in der Zeltstadt tot. Hatte Colum sich vorher ins Lager der Wissenschaftler retten können? Vor lauter Sorge um Nylian und Yodda hatte Kat den Zentauren völlig vergessen.
„Dann hast du mich noch lieb?“, fragte Aoi hoffnungsvoll.
„Natürlich habe ich das. Ich wünschte nur, du hättest mir gesagt, dass du gehst.“
„Ich wollte wegrennen“, gestand Aoi leise. „Aber dann habe ich mich doch nicht getraut. Wo soll ich auch hin?“
„Hab keine Angst“, flüsterte Kat. „Ich passe auf dich auf. Ich versprech's.“
~ ⁂ ~
„Machst du noch weiter?“
„Ja, ich bin fast mit der Strebe fertig!“ Yodda hob den Blick nicht von ihrer Arbeit. Das Schweißen, Hämmern und Schrauben, das zum Berufszweig der Mechaniker gehörte, machte ihr so viel Spaß, dass sie das Verstreichen der Zeit kaum mitbekam.
„Gut. Dann bis Morgen!“
Die ältere Mechanikerin wandte sich zum Gehen. Yodda nickte, ohne sich darum zu kümmern, ob ihre Kollegin das mitbekam.
Der Sturmturm wuchs rasant in die Höhe. Alle Mechaniker, insgesamt fünf, arbeiteten mit fieberhafter Eile. Gleichzeitig war Yodda davon überrascht, wie leicht sich der Turm zusammensetzen ließ – die Einzelteile brachten ihnen die anderen Wissenschaftler. Für etwas so Mächtiges war der Sturmturm wahrlich schnell aufgebaut. Natürlich war er nicht hübsch – es war eine plumpe, rohe Konstruktion ohne jeden Schmuck. Doch er würde genügen.
Erst, als sie in der Dunkelheit ihre Hände nicht mehr sehen konnte, wurde ihr klar, dass sie in das Lager zurückkehren sollte. Sie war erschöpft, jedoch nicht wirklich müde. Ihr Kopf fühlte sich an, als würde er unter Strom stehen.
Ihre Muskeln brannten und nun, da sie aufhörte zu arbeiten, meldete sich auch der Hunger. Sie verstaute ihre Werkzeuge in der Gürteltasche und suchte den Boden blind nach losen Schrauben ab – einige fielen immer aus der Tasche und Yodda fand meist noch am nächsten Morgen welche, die die Nacht auf der Baustelle verbracht hatten. Dann stand sie auf, kletterte über die wacklige Leiter nach unten und war in Gedanken schon beim Essen. Hoffentlich hatten die anderen ihr etwas übrig gelassen!
Ein Geräusch riss sie aus diesen Gedanken, ein lautes Flattern. Sie erstarrte auf der Leiter und hielt den Atem an.
Etwas raschelte leise über ihr. Sie war nicht allein.
Die Finsternis war undurchdringlich. Der Wind war kühl und zerrte an Yoddas verschwitzter Kleidung. Sie hörte Schritte auf einem Balken über sich. Ihre Hände, von Quetschungen und kleinen Schnitten gezeichnet, zitterten.
„W-wer ist da?“, fragte sie. Wenn sie bloß eine Waffe hätte!
„Hab keine Angst“, antwortete eine dunkle Männerstimme. Yoddas Herz setzte einen Schlag aus und sie wäre um ein Haar von der Leiter gefallen. Im letzten Moment setze ihr Überlebenswille wieder ein und sie klammerte sich fest.
Also hatte sie sich nicht getäuscht.
„Ich wollte dich nicht erschrecken“, fuhr der Unsichtbare fort. Er musste irgendwo über ihr sein, aber dort waren die Streben dünn und glatt. Nur ein Vogel könnte dort Halt finden. Und offenbar hatte er ihre Reaktion selbst in dieser absoluten Dunkelheit gesehen.
„Wer bist du?“, fragte Yodda und versuchte, das Zittern aus ihrer Stimme zu verbannen.
„Ich bin ein Freund“, kam es sanft von oben. „Mein Name ist Izcun Javat. Und du bist Yodda, nicht wahr? Yoddaelda Hwemmnur?“
Er – oder es – kannte ihren Namen. Yodda drückte das Gesicht gegen die kalte Leiter und versuchte, nicht zu wimmern. Wie sollte sie von hier entkommen?
„Ich nehme an, du hast bereits erraten, was ich bin“, fuhr der unsichtbare Izcun fort.
Yodda nickte mit geschlossenen Augen. Ein Vampir. Er konnte sie vermutlich so klar sehen, als würde Tageslicht herrschen.
„Du brauchst mich nicht zu fürchten, Yodda“, sagte Izcun. „Ich habe nicht vor, dir wehzutun. Ich wollte dich warnen. Der Graf von Amrais befiehlt uns, euch zu überwachen – alle zu überwachen, die Krieger, die Magier und die Wissenschaftler. Ihr müsst vorsichtiger sein. Andere Vampire beobachten euer Lager. Sie werden euer Schauspiel durchschauen und dem Grafen berichten. Vielleicht haben sie es sogar schon getan, aber noch besteht Hoffnung. Ich weiß, dass ihr euch auf den Schutz der Dunkelheit verlasst, um miteinander zu reden. Doch die Dunkelheit ist euer Feind.“
Der Vampir hatte offenbar wirklich nur vor, zu reden. Yodda hoffte, ihn bei Laune halten zu können. „Der Graf hat Vampire unter seinem Befehl?“
„Vampire, um eure Lager auszuspionieren. Werwölfe, um euch an den euch zugewiesenen Platz zu fesseln. Und Dämonen.“
„Dämonen?“, entfuhr es ihr.
„Sie sollen dafür sorgen, dass ihr gegeneinander kämpft.“
Vorsichtig hob Yodda den Blick, doch sie konnte in der Dunkelheit nichts erkennen. Ihr Herz raste. Was sollte sie nur tun?
„Euch läuft die Zeit davon!“, flüsterte Izcun irgendwo über ihr. „Dieser Turm muss fertig werden.“
„Warum hilfst du uns?“, fragte Yodda leise.
„Ich helfe dir“, antwortete Izcun. „Ich kenne dich schon, seitdem du das Tal betreten hast. Wir saßen in einem Hinterhalt und sollten den Magier töten. Ich habe versucht, die niederen Vampire aufzuhalten, doch es ging nicht. Es tut mir so leid! Doch als der Angriff auf das Lager kam, habe ich dafür gesorgt, dass du nicht in der Zeltstadt stirbst. Ich habe dich ins Lager getragen.“
Verschwommene Erinnerungen an die alptraumhafte Nacht blitzten auf. Yodda erinnerte sich an starke Arme, jemand trug sie fort von dem Kampf, von Kaithryn. Schneller, als Mensch, Zwerg oder Elf laufen konnten.
„Was ist mit meinen Freunden?“, knurrte sie.
„Ich weiß es nicht, Yodda.“ Sie hörte Flügelschlagen, dann erklang Izcuns Stimme von weiter weg. „Geh jetzt. Sag deinem Anführer, was ich dir erzählt habe. Wenn der Graf von eurem Plan erfährt, wird er euch angreifen und seine Dämonen schicken. Das darf nicht geschehen.“
Ledriges Flügelschlagen, und dann … dann war der Vampir fort. Yodda spürte es wie eine Veränderung in der Luft. Sie war allein.
Zittrig atmete sie durch. Dann, nach ein paar Atemzügen, fühlte sie sich stark genug, um nach unten zu klettern. Sobald sie festen Boden unter den Stiefeln hatte, rannte sie los, als wäre ihr ein Rudel Wölfe auf den Fersen.
~ ⁂ ~
„Kaithryn?“
Kat trat aus ihrem Zelt heraus. Ein kleiner Elf mit hellen, goldenen Augen und bräunlicher Haut stand davor und sah neugierig zu ihr auf. „Azmaek will dich sehen.“
„Ich komme“, teilte sie dem Boten mit, dann kehrte sie nochmals in ihr Zelt zurück, um ihr Schwert zu gürten. Sie überprüfte, dass das Amulett Cirdrims an seinem Platz war – in der verborgenen Tasche ihres Wamses unter dem Kettenhemd –, dann eilte sie zu dem Magier.
Azmaek lief in seinem Zelt auf und ab wie ein eingesperrter Wolf. Als Kaithryn eintrat, wirbelte er herum.
„Ihr habt mich rufen lassen?“ Kaithryn senkte den Kopf.
„Mein Plan geht nicht auf“, knurrte Azmaek. „Ich brauche mehr Macht, aber es gibt keine. Und dein Freund hat Unterschlupf gefunden! Die Krieger haben ihn aufgenommen, entgegen meiner Warnungen!“
Kat verbiss sich jede Reaktion. Nylian war am Leben! Doch wie sie Azmaek kannte, war er bereits wieder in Gefahr.
„Was wollt Ihr nun tun?“, fragte sie.
„Ich muss ihn aufhalten. Wir werden zum Lager der Krieger marschieren.“
Kaithryn sah ihre Angst bestätigt. „Wir können unser Lager nicht verlassen“, gab sie zu Bedenken. „Die Wölfe werden uns zerfleischen.“
„Wir können sie auf Abstand halten“, widersprach Azmaek und winkte ab. Natürlich brauchte er sich nicht vor den Wölfen zu fürchten, sie standen schließlich unter seinem Befehl. „Wir brechen morgen früh auf, sobald es hell ist. Als meine Heerführerin obliegt es dir, dass alle bereit sind.“
Kaithryn nickte. Nur im Stillen fragte sie sich, wann sie diese steile Karriere gemacht hatte. Heerführerin? Sie war doch nicht einmal eine ausgebildete Magierin, geschweige denn eine Kriegerin!
„Ich will schnell reisen. Sag allen, dass sie nur das Nötigste mitnehmen dürfen.“ Azmaek seufzte. „Das wäre alles.“
Kat verneigte sich und ging nach draußen. Statt jedoch Azmaeks Befehl direkt in die Tat umzusetzen, eilte sie zuerst in ihr eigenes Zelt.
„Aoi?“
Das Mädchen lag auf ihrem Bett und schlief, erschöpft nach den Abenteuern der letzten Nacht. Doch sie setzte sich auf, als Kat zu ihr kam.
„Ich muss dich um einen Gefallen bitten.“
„Um welchen?“, fragte Aoi.
Leise erzählte ihr Kat alles, was sie wusste: Dass Azmaek der wahre Feind war, dass ihr bester Freund Nylian in tödlicher Gefahr schwebte und dass sie ihn dringend warnen musste. „Du hast das Lager schon einmal verlassen können. Glaubst du, dass du es bis ins Lager der Krieger im Norden schaffst?“
Aoi nickte, obwohl ihr Gesicht Angst zeigte. „Ich bin schnell und es sind immer weniger Wölfe unterwegs. Sie verlassen sich auf eure Angst.“
„Du musst Nylian warnen“, bat Kat leise, obwohl sie sich dafür hasste, solch eine grausige Tat verlangen zu müssen. „Er ist ein junger Elf, hellblaue Haare, du wirst ihn sicherlich schnell erkennen.“ Sie drückte das Katzenkind an sich. „Du bist so tapfer, Aoi!“
Das Mädchen lächelte.
„Und pass auf dich auf, hörst du?“