Ankunft:
Eve fand das Gefühl des schweren Messers in ihrer Jackentasche unangenehm. Sie mochte keine Waffen, nicht einmal zur Selbstverteidigung. Aber Lily, die streng wirkende Schwarzhaarige, hatte ihr erklärt, dass sie ohne eine Waffe keine Chance hatte.
Als sie aus dem Bus stiegen, rieb Eve ihr Handgelenk. Die kleine, silbrige Uhr passte zwar gut zu ihrer Kleidung, war aber ein wenig zu locker für ihre schmalen Arme und drohte, über ihre Hand zu rutschen. Milo, der eine protzige, blaue Sportuhr erhalten hatte, beschwerte sich dagegen darüber, dass seine Uhr zu klein sei. Trotzdem war seine Uhr immer noch viel größer als ihre.
Die geschrumpfte Gruppe fand sich auf einem freien Platz wieder. Zur einen Seite erhob sich ein langgestrecktes Gebäude, eine verfallene Fabrik- oder Lagerhalle mit eingeschlagenen Scheiben. Ansonsten gab es nur Wälder und eine zerklüftete Felswand.
"Ihr werdet gleich abgeholt!", grüßte ihr Fahrer und ließ den klapprigen Bus hustend und spuckend zum Leben erwachen.
Eve sah dem Bus und der schwarzen Qualmwolke aus seinem Auspuff hinterher.
"Ah, die Hell-Hopping-Tour, ja?", fragte eine Stimme.
Eve drehte sich wieder um. Wie aus dem Boden gewachsen stand ein breiter, bierbäuchiger Mann vor ihnen, mit den kräftigen Armen eines Mannes, der harte, körperliche Arbeit gewohnt war. Er hatte schütteres Haar und ging vielleicht auf die 50 zu. Trotzdem lächelte er die verschreckte Gruppe an: "Ich bin der Hans. Ich soll euch in die Mienen bringen."
"Mienen?", fragte Amy spitz.
"Ja", sagte der Hans und breitete die Arme aus: "Die größte Kohlemiene im Norden - nun ja, was davon übrig ist."
Sie sahen sich um. Der Platz war zwar mit Unkraut überwachsen, aber jetzt sah Eve auch alte Reifenspuren, Hinweise darauf, dass hier einmal große Transporter gefahren waren. Sie bemerkte auch Laufbänder in der Halle, die freilich seit Jahren still standen.
Amy bemerkte den klapprigen Aufzug als Erste: "Da sollen wir runter?"
Hans nickte: "Hab's selbst überprüft, das alte Mädchen läuft wie 'ne Eins."
Es gab keine andere Wahl. Müde folgten sie dem Mann und quetschten sich immer zu viert in den kleinen Aufzug. Eve folgte mit der letzten Gruppe in einen engen, dunklen Gang, wo Hans bereits mit den Restlichen wartete. Es ging den Gang weiter und dann rechts in eine Kammer.
"Das hier ist das alte Aufseherbüro. Ihr findet da hinten einen alten Büroraum, in dem ihr euch umziehen könnt. Ihr seid hier nur etwa zwanzig Meter unter der Erde, also braucht ihr euch keine Sorgen zu machen. Ihr könnt die Gänge gerne erkunden. Man verläuft sich hier nicht leicht, und alle einsturzgefährdeten Gänge wurden vor einigen Jahren abgesperrt."
"Vor einigen Jahren?", fragte Amy mit gedämpfter Stimme.
Auch Eve fand nicht, dass das nach erfüllten Sicherheitsstandards klang. Sie musterte den verstaubten Raum und versuchte, die Vorstellung unendlich vieler, kleiner Insekten zu verdrängen.
"Wir kommen zurecht", sagte Samstag selbstbewusst. Vielleicht auch überheblich. Eve spielte mit der locker sitzenden Uhr herum und hoffte, dass der Sender auch unter der Erde Empfang hatte - und dass er wirklich funktionierte!
Hans ließ sie alleine. Sie verteilten die letzten Taschen, die sie noch besaßen, auf dem Boden. Schlafsäcke und Matratzen hatte keiner mehr. Samstag hatte eine Sporttasche, Mira ebenfalls, und Samira trug Dimitris Aktentasche mit sich herum. Den Rest hatten sie irgendwo in den letzten Hotels zurückgelassen. Eve vermisste es, sich keine frische Kleidung anziehen zu können und trauerte zudem ihrem Lieblingstop hinterher, einem lockeren, schwarzen Oberteil mit einem Stern aus Strasssteinen. Es war vielleicht albern, aber das Top war für sie ein Stück Realität, das sie verloren hatte.
Sie setzte sich auf den verstaubten Eichensekretär und seufzte. Die Luft schmeckte nach Staub und Kohle.