»Das sind doch nicht meine Kleider!«, schimpfte Remy und betrachtete den Wäschehaufen auf der Kommode argwöhnisch.
»Natürlich! Du kennst sie nur nicht sauber. Das Dienstmädchen sagte mir, das Waschwasser wäre schwarz gewesen, nachdem sie damit fertig war. Pack sie in den Reisesack, den ich besorgt habe und lass sie hier nicht herumliegen.«
Remy roch noch immer misstrauisch an den Kleidern, die nach Seife dufteten. Schließlich nickte er nur, zog den sauberen Mantel an und verstaute den Rest.
Prinz Rowan hatte am Morgen Schwierigkeiten gehabt, den Jungen zu wecken, der so fest geschlafen hatte, als hätte er dies seit Monaten nicht mehr getan. Es tat dem Prinzen fast leid, ihn zu wecken, doch der Wirt hatte ein Frühstück zubereitet und die Pferde mussten versorgt werden.
»Du siehst aus wie ein neuer Mensch«, stellte Rowan erstaunt fest, als er Remy, nun gewaschen und in sauberen Kleidern, mit sauber glänzenden, dunkelbraunen Haaren und gewaschenem Gesicht, vor sich stehen sah.
»Natürlich. Ich verstecke meine Schönheit unter ganz viel Schmutz, damit mich keiner nach meinem Preis fragt«, frotzelte Remy, errötete aber leicht, was man unter der dunkleren trallischen Haut nicht so gut erkannte. Es passte dem Jungen nicht, dass der Prinz ihn so anstarrte. Nur weil er nun sauber war, war er noch immer ein Straßenköter, den der Mann zu zähmen versuchte.
»Nun, lass uns zum Frühstück gehen. Ich muss danach einen Boten suchen, der um eine Audienz beim König bittet. Ich bezweifle, dass du den nötigen Respekt für den König erübrigen kannst, um mich höflich anzukündigen.«
»Darauf könnt Ihr Euch verlassen. Mich würden die Wachen nicht einmal durchlassen. Egal wessen königliches Schreiben ich mit mir führe. Sauberes Gesicht hin oder her.«
Der junge Mann hielt seinem Herrn die Zimmertür auf und folgte ihm anschließend die Treppe hinunter. Er merkte sofort, dass sein neues, sauberes Erscheinungsbild bei den Dienstmädchen auffiel. Hatten sie ihn gestern nicht einmal beachtet, hatten sie nun sogar ein Lächeln für ihn übrig.
Der Schankraum war noch leer, denn es war gerade einmal acht Uhr morgens. Die Menschen, die ihre Abende hier in der Schenke verbrachten, verrichteten nun ihr Tagwerk.
»Was ist das hier?« Remy nahm Platz und deutete auf ein Glas mit einer roten Masse darin.
»Das sind Konfitüre. Sie sind aus Früchten gemacht. Koste mal.« Rowan war betrübt, dass Remy zwanzig Jahre alt war und offenbar niemals in seinem Leben Marmelade gegessen hatte. Der Junge tat wie geheißen und sein Gesicht erhellte sich.
»Hmm, ich erinnere mich. Meine Mutter brachte mir mal einen kleinen Kuchen mit, der war mit diesem Zeug gefüllt und mit Zucker bestreut. Das war in dem Jahr, bevor wir nach Thalea kamen. Ab da gab es keine Süßigkeiten mehr. Stattdessen ließ sie mich im Waisenhaus und brannte mit einem stinkenden Holzfäller durch.«
»Das tut mir leid.«
»Ach, vergesst es. Ich kann es nicht ändern. Mein Leben wäre nicht anders geworden, wenn sie geblieben wäre. Sie wäre vermutlich noch heute eine Hure und ich wäre ein Dieb. Oder bereits von einem ihrer Freier erschlagen worden.«
Der junge Mann nahm sich ein noch warmes Brötchen und bestrich dieses mit etwas Marmelade. Rowan tat es ihm gleich und trank dazu einen Schluck warmen Gewürzwein.
»Danke, dass ich so viel essen darf«, murmelte Remy zwischen zwei Bissen und er sah verlegen aus. Rowan lächelte nur und winkte ab.
»Jeder muss essen. Schwach und ausgemergelt nutzt du keinem was. Iss also, so viel du möchtest. Wenn wir erst einmal unterwegs sind, werden wieder etwas magerere Zeiten anbrechen.«
»Ich kann mit einem Messer umgehen. Wenn Ihr also jagen könnt, kann ich die Tiere häuten und ausnehmen.«
»Darf man denn hier einfach jagen?«
»Versucht es. Wer will Euch in der Wildnis kontrollieren, königliche Hoheit?« Remy grinste leicht und stopfte den Rest des kleinen Brotes in seinen Mund.
Sie setzten ihr Frühstück fort, während die Dienstmädchen herumwuselten und auch der Wirt des Öfteren auftauchte, um das Kaminfeuer, das bei der trallischen Kälte rund um die Uhr erforderlich war, am Leben zu halten.
Niemand bemerkte den rattenähnlichen jungen Mann und seinen bulligen Begleiter, bis die beiden vor dem Tisch zum Stehen kamen, an dem Prinz Rowan mit seinem Diener saß.
»Königliche Hoheit, Prinz Rowan?« Die unangenehme Stimme durchbrach das gemütliche Frühstück und Rowan wandte den Kopf zu dem Ankömmling. Der Kronprinz stand auf und verneigte sich leicht.
»Das bin ich. Worum geht es, meine Herren?« Remy konnte sehen, dass sein Herr sich anspannte, um auf einen eventuellen Angriff reagieren zu können.
»Ich bin Gawen, der Abgesandte König Thedosios.« Der Fremde zeigte einen kostbaren Ring vor, der das königliche Siegel trug. »Seiner Majestät ist zu Ohren gekommen, dass Ihr Euch in unserem schönen Land befindet. Und nun bittet er Euch, Gast in seinem Palast zu sein.«
Rowan betrachtete den Mann vor sich genau. Seine Haut war blass und gräulich, als käme er nicht oft genug an die Luft, er war mindestens so dürr wie Remy und nicht halb so ansehnlich. Das Gesicht des Abgesandten hatte etwas Rattenhaftes, was durch die spitze Nase und die schmollenden Lippen verstärkt wurde. Auch die Schneidezähne waren länger als die übrigen und leicht nach vorn geneigt; eine gelbliche Färbung ließ auf mangelhafte Zahnpflege schließen.
Doch er war ausnahmslos gut gekleidet, die Jacke aus gutem, schimmerndem Samtstoff mit Stickereien saß perfekt, seine Hose eng und wie angegossen und seine Stiefel glänzten poliert. Der kostbare dunkelblaue Umhang mit schwarzem Innenfutter wirkte in der Wärme des Schankraumes fehl am Platz. Er lief herum wie ein Gockel, vornehmer gekleidet als Rowan es momentan war. Er verströmte einen starken Geruch nach Rosen, so sehr, dass es unangenehm war. Doch der Prinz war darin geschult, solche Unannehmlichkeiten auszublenden. Er war höflich und diplomatisch ausgebildet, deswegen ignorierte er all die Dinge, die ihm zuwider waren und lächelte den Abgesandten an.
»Welch erfreulicher Zufall. Ich wollte heute einen Boten senden, um um Audienz zu bitten. Doch von dieser Pflicht habt Ihr mich soeben entbunden. Ich würde die Einladung sehr gern annehmen.«
»Das freut mich, königliche Hoheit. Ich habe eine Kutsche draußen. Wenn es Euch möglich ist, könnten wir mit dieser zum Palast zurückkehren …«
»Das ist unmöglich, Herr Gawen. Ich habe Pferde hier und einiges an Gepäck. Das wird sicher nicht in Eure Kutsche passen. Doch ich würde gern im Laufe des Tages in den Palast einkehren. Beliebt Euch das?«
Die seltsam wulstigen Lippen des Abgesandten zuckten leicht, denn es schien ihm nicht zu passen, dass er den fremden Prinzen nicht kontrolliert mit zurückführen konnte. Doch schließlich nickte er und lächelte leicht.
»Natürlich, königliche Hoheit. Niemand verlangt von Euch, Eure Pferde zurückzulassen. Dann kehre ich in den Palast zurück und berichte Seiner Majestät König Thedosio, dass Ihr im Laufe des Tages eintrefft. Es wird ein kleines Festbankett auf Euch warten.«
Der Abgesandte verneigte sich vor dem jungen Prinzen und wandte sich um, um das bescheidene Gasthaus wieder zu verlassen. Der bullige Mann, der als Leibwächter zu dienen schien, knurrte einmal leise und folgte ihm nach.
»Das war … grotesk«, befand Remy, drehte sich wieder dem Tisch zu und trank etwas Wein. Er hatte mit dem Essen aufgehört, als der aufgetakelte Gesandte aufgetaucht war, und setzte dieses nun unbekümmert fort.
»Sind alle adligen Höflinge so herausgeputzt und aufgetakelt?«
»Nun ja … es gehört schon manchmal dazu. Aber viele lieben es, mit ihrer Kleidung zu protzen.«
»Diese Person sah aus wie eine Ratte oder hab ich mir das eingebildet? Und dieser Geruch … und Ihr meintet, ich hätte gestunken.«
Rowan setzte sich wieder und leerte seinen Becher in einem Zug. »Ich teile deine Meinung voll und ganz. Doch wenn wir nachher in den Palast reiten, Remy, dann erwarte ich, dass du dich mit solchen Äußerungen zurückhältst. Die feinen Höflinge mögen es nicht, wenn man sie kritisiert und sie würden dich das sehr schnell spüren lassen. Es ist oftmals diplomatischer, das, was man denkt, einfach runterzuschlucken.«
»Als ob sie Rosenblüten scheißen würden ...«, knurrte der junge Mann, doch dann nickte er. »Ich werde schweigen, ich verspreche es.«
»Gut so. Ich möchte keinen Streit vom Zaun brechen mit der Dienerschaft oder den Höflingen, weil du dein freches Mundwerk nicht halten kannst.«
»Gestern sagtet Ihr noch, das würde Euch amüsieren«, schmunzelte Remy.
Rowan lächelte. »Das tut es auch. Wenn wir unter uns sind, stört es mich auch nicht. Auch dass du mich so salopp anredest, obwohl ich dir gesagt habe, dass du das eigentlich nicht sollst. Doch wenn wir in feiner Gesellschaft sind, ist es immer besser, die Distanz zwischen Herr und Diener zu wahren. Sowohl für dich als auch für mich. Die höfische Gesellschaft liebt Fraternisierung mit der Dienerschaft nicht sehr.«
»Auch in Eurem Land?«
Rowan nickte. »Mein Vater ist sehr offen in solchen Dingen und die Verbindung zwischen mir und meinem Leibdiener ist auch sehr vertrauensvoll. Ebenso die zu meinem Knappen Sero. Doch andere sehen das eben nicht so entspannt.«
»Nun denn. Dann eben die komplette Katzbuckelei, solange wir im Palast sind. Mir soll es recht sein.« Remy schnaufte.
»Warum nur habe ich gedacht, du könntest ein treuer und höflicher Diener werden«, schmunzelte Rowan und der junge Mann machte ein bestürztes Gesicht, bevor er kurz auflachte.
»Ich kann sehr treu sein und auch sehr loyal. Nur das mit der Höflichkeit … Ihr könnt Euch ja damit herausreden, dass ich keine Erziehung hatte. Künstlerpech, wenn man fünf Goldmünzen bezahlt, um sich einen gemeinen Beutelschneider als Diener zu kaufen.«
»Bring mich nicht dazu, diese Entscheidung zu bereuen.«
»Wie könnte ich? Ich bin treu gegenüber jedem, der dafür sorgt, dass ich nie wieder dieses Scheißgefühl des Hungers erleiden muss.«
Rowan nickte. »Das werde ich. Iss auf, damit wir die Pferde vorbereiten und das Zimmer räumen können. Ich möchte König Thedosio nicht zu lange warten lassen auf meine Ankunft.«
»Ich kann nach wie vor nicht reiten, nur als Hinweis«, murmelte Remy verlegen.
»Deswegen möchte ich jetzt gleich aufbrechen. So können wir langsam traben, dafür brauchst du nicht wie ein Krieger reiten zu können. Du musst nur die Zügel festhalten. Hast du übrigens bereits einen Namen für den Wallach?«
Remy blickte einen Moment auf seine Finger. »Ich denke, mein bester Freund hätte es toll gefunden, wenn ein Pferd nach ihm benannt werden würde … also denke ich daran, ihn Loot zu nennen. Wenn es in Ordnung ist für Euch? Immerhin gehört er Euch.«
Rowan lächelte. »Wenn es für dich gut ist, bin ich damit einverstanden. Lass uns zusammenpacken. Proviant werden wir nicht brauchen, wenn der König uns einlädt. Aber Wasser für den Ritt. Weißt du, wie weit der Weg zum Palast ist?«
Remy neigte den Kopf. »Ich bin noch nie wirklich aus der Stadt rausgekommen, aber ich weiß, dass das Schloss östlich von hier liegt. Am Ufer des Drachensees. Ich weiß nicht, wie lange man unterwegs ist, bis man diesen erreicht.«
»Nun, das werden wir dann sehen.«
Der Wallach, den Remy auf den Namen seines verstorbenen besten Freundes getauft hatte, tänzelte in der Box, als der junge Dieb versuchte, diesen zu satteln. Rowan sah ihm einen Moment dabei zu, bevor er einschritt und ihm zeigte, wie er verhinderte, dass der Friese sich aufblähte.
Remy machte große Augen, als Rowan dem Tier den Ellenbogen in die Flanken trieb.
»Das tut ihm nicht weh. Doch wenn er sich so aufpustet, kannst du den Sattel nicht richtig festziehen, dieser kann rutschen und du könntest fallen. Das kann deinen Tod bedeuten, wenn du im Galopp reitest.« Der Prinz zog den Sattel fest, und Loot, der Wallach, schnaubte missmutig.
»Binde deine Tasche hier hinten dran fest, wenn du die Satteltaschen angelegt hast.« Remy verfolgte jeden Handgriff des Prinzen genau und versuchte, sich diese einzuprägen. Loot schnappte leicht nach Rowans Hand, als dieser ihm das neu gekaufte Zaumzeug umlegte, doch beruhigte sich nach einem leichten Nasenknuff schnell wieder.
»Ein eigenwilliger Kerl. Der hat Zunder. Ein gutes Tier.«
Remy blickte zweifelnd auf die Steigbügel des Sattels und wusste nicht, wie er auf das große Tier aufsteigen sollte. Rowan bemerkte den Blick und schmunzelte.
»Bringen wir die beiden raus und lass uns aufbrechen. In der Stadt dürfen wir ohnehin nicht reiten. Als ich eintraf, wurde ich von einem Wachmann angehalten, der mich anwies, abzusteigen.«
»Ja, die Büttel lieben es, wenn sie alle anderen unterdrücken und beweisen können, dass sie besser sind als die übrigen Stadtbewohner.«
»Das ist aber kein Phänomen, das es nur in Trallien gibt. Auch in unseren Städten gibt es solche und solche Wachleute. Einfach hinnehmen, die meisten machen auch nur ihre Arbeit.«
»Auch wenn sie Bettler mit Knüppeln zusammenschlagen?«
»Es gibt zu viele schwarze Schafe. Nimm die Zügel.«
Remy packte Loots Führstricke und zog ihn sanft, um ihn in Bewegung zu setzen. Das Tier reagierte ohne Murren und folgte ihm nach. Rowan tat es ihm gleich und sie führten die Tiere aus dem Stall.
Die Rechnung an den Gastwirt war bereits beglichen, deswegen ließ der Prinz den jungen Dieb vorangehen. Er kannte sich in Thalea aus und wusste auch, in welcher Richtung ein Stadttor lag. Rowan beschloss, nicht mehr auf die Menschen um sie drumherum zu achten, doch dies war der erste Tag, an dem der graue Regenschleier verflogen war. Die blasse Sonne erhellte die Straßen und Thalea wirkte erstmals beinahe freundlich. Rowan wusste nicht, wie die vornehmen Stadtviertel aussahen, wie die Paradewege und Stadtvillen.
Er hatte Thalea auf eine Art kennengelernt, die ihn schockiert hatte und er fragte sich, ob sein Vater die Ausmaße der Armut in dieser Stadt kannte. Es wunderte den Kronprinzen immer weniger, dass der König hier keine Gäste empfing, oder wenn doch, sie direkt in den Palast lotste. Dieser musste demnach vor Eleganz und Reichtum überquellen. Rowan war gespannt, wie sich der König von Trallien präsentierte.
Es verging etwa eine Stunde, bis sie die Stadtmauer erreichten und dieser folgten. Einfache Steinhäuser reihten sich aneinander, Händler und kleine Geschäfte, Schuster, Tischler. Überall spielten Kinder, die nicht abgerissen und schmutzig aussahen. Sie gehörten ganz offenbar zu den Ladenbesitzern, die womöglich nicht reich waren, aber ihr Auskommen hatten. So hatte sich der Prinz Thalea viel eher vorgestellt.
Sauber, mit fleißigen Handwerkern und Händlern, glücklichen, sauberen Kindern, Sonnenschein und Wohlstand. Das war das Bild, das Trallien dem Rest der Welt versuchte, weiszumachen, wann immer einige wenige Vertreter der anderen Königshäuser in diesem Land zu Besuch waren.
König Marek hatte seinem Sohn einst von der Schönheit Thaleas vorgeschwärmt. Doch er hatte diese Zustände nicht gesehen, in denen Remy aufgewachsen war. Und Mareks Besuch in dieser Stadt lag auch bereits über fünfzehn Jahre zurück.
Doch vielleicht hatte Rowan auch nur naiv angenommen, dass es in Thalea ebenso geordnet zuging wie in Isara oder Leontini, der Königsstadt Hammonias. Er war es so gewöhnt, dass alles in ordentlichen Bahnen lief, dass es ihn wie einen Hammerschlag traf, wenn es nicht so war.
»Irgendwie hatte ich angenommen, dass es in der ganzen Stadt so wäre wie hier«, bemerkte der Prinz und Remy nickte.
»Es wäre schön, wenn es so wäre. Diese Gegend hier ist eine andere Welt, im Gegensatz zu einigen Teilen des Zentrums und der Randbezirke. Ich hätte mich gefreut, als eines der Kinder hier aufzuwachsen, zu wissen, wo ich hingehöre und was ich mit meinem Leben tun kann.«
»Du kannst dein Leben immer noch ändern, du bist noch jung.«
»Das glaubt aber auch nur Ihr. Ein Straßenkind, das sich als Dieb durchgeschlagen hat, bekommt hier nirgends eine gute Anstellung, weil man immer davon ausgeht, dass man einem solchen Menschen nicht vertrauen kann. Und bei vielen trifft das zu. Ich habe früher einige Zeit für einen Bäcker Waren ausgeliefert und mir damit mein Essen und ein paar Münzen verdient. Doch es gibt nur wenige, die jemandem wie mir eine Arbeit geben.«
»Was ist geschehen, dass du wieder auf der Straße gelandet bist?«
»Ich war nie weg von der Straße. Ich habe nur gearbeitet. Doch als der Bäcker starb, konnte es sich seine Frau nicht mehr leisten, mich zu bezahlen. Allerdings war sie immer meine sichere Quelle, wenn ich einmal Essen für mich und meine Freunde brauchte. Auch wenn es nur altes Brot war, es war besser als nichts.«
Rowan nickte nur.
»Dort drüben ist das östliche Stadttor. Wenn man die Stadt verlassen will, braucht man sich nicht ausweisen, also können wir einfach durchgehen. Dann müssen wir der Straße nach Osten folgen. Habt Ihr einen Kompass?«
Der Prinz nickte. »Führt eine eigene Straße zum Palast?«
»Ich denke schon. Seine Majestät lässt es sich sicher nicht nehmen, auf schnellstem Wege erreichbar zu sein. Wäre ja nicht ausdenken, wenn die Händler mit den Edelsteinen, für die Trallien so berühmt ist, nicht schnell genug zu ihm kämen.«
Rowan packte den jungen Mann am Unterarm und zischte.
»Was ist?«
»Ich kann deinen Unmut verstehen, doch es ist äußerst unklug, sich in einer Stadt wie dieser, die voller königstreuer Wachmänner ist, kritisch und herablassend über deinen Herrscher zu äußern.« Rowan blickte sich unauffällig um. Agrippa und Loot schirmten die beiden etwas von dem Menschen um sie drumherum ab, doch er wollte sicher sein, dass sie niemand belauschte.
»Ich habe von einem vertrauensvollen Arzt in einem Dorf im Herbacus erfahren, dass es sehr gefährlich sein kann, in Thalea Kritik zu äußern und ich möchte weder dich erneut aus dem Gefängnis freikaufen müssen noch selbst in einem solchen Kerker landen.«
Remy schnaubte. »Würde sich jemand trauen, einen königlichen Prinzen einzusperren?«
»Nun, das weiß ich nicht, denn ich war noch nie zuvor in diesem Land, richtig?«
»Gut, ich werde schweigen, solange wir in Thalea sind.«
»Danke.«
Die beiden passierten, von den Wachen unbeachtet, das östliche Stadttor und standen bereits nach wenigen Schritten auf einer festgetretenen Lehmstraße. Rowan hatte einen freien Blick auf die trallischen Berge, die im Norden und auch weit entfernt am Horizont aufragten. Der Wind wurde stärker, da ihn nun keine Stadtmauern mehr abhielten und der Prinz merkte augenblicklich die Kälte des Landes wieder. Sogar feine Schneeflocken wurden durch die Luft getragen. Remy zog sich die Kapuze seines Mantels über den Kopf. Er hatte Thalea noch nie verlassen und war von der weiten Fläche ein wenig überfordert.
»Wird es in diesem Land eigentlich jemals Sommer?«, knurrte Rowan und tat es seinem Diener gleich.
»Wirklich warm wird’s nie. Doch es gibt eine Zeit im Jahr, in der man getrost ohne Mantel vor die Tür gehen kann. Und in der die Nächte nicht so bitterkalt sind, dass manche im Schlaf erfrieren.«
»Tröstender Gedanke«, brummte der Prinz. »In Annwyn bräuchten wir jetzt schon weder Umhänge noch Jacken.«
»Dort blühen die Bäume, habe ich Recht?«
»Ja. Es ist sehr schön, wenn der Wind die Blütenblätter dann mit sich trägt.«
»Das würde ich gern einmal sehen. Hier fliegen nur Schneeflocken in der Luft herum«, seufzte der junge Dieb und sah mit Besorgnis, dass der Prinz sich anschickte, auf sein Pferd zu steigen. Er besann sich jedoch anders und blickte Remy an.
»Steig auf. Versuch es. Wenn du es nicht schaffst, helfe ich dir.«
»Wie tue ich das?«
»Linker Fuß in den Steigbügel, halt dich am Knauf fest und schwing das rechte Bein drüber. Es tut dem Pferd nicht weh, keine Sorge.«
Remy versuchte es, doch merkte schnell, dass die Kraft in seinen Armen nicht ausreichte, um sein eigenes Gewicht in die Höhe zu ziehen. Er wog nur sehr wenig, doch es war zu viel für die kraftlosen, dünnen Arme.
Rowan lachte leise, als er Remys vergeblichen Versuch beobachtete.
»So wird das nichts«, seufzte der junge Mann und stand bedröppelt neben dem Wallach. Es war ihm peinlich, dass er nicht einmal in der Lage war, allein und ohne Hilfe auf das Pferd zu steigen, das der Prinz für ihn gekauft hatte.
»Das ist eine Frage der Übung. Als ich das erste Mal versuchte, aufzusteigen, bin ich auf der anderen Seite wieder runter gefallen. Ich hatte zu viel Schwung, du hattest zu wenig. Gib dir etwas Energie, indem du mit dem rechten Bein leicht in die Knie gehst.«
Remy versuchte es erneut und blieb diesmal mit dem Bauch auf dem Sattel liegen.
»Uff ...«
Rowan lachte erneut und schob das rechte Bein des Jungen über den Sattel. »Na bitte. Zwei Versuche. Gar nicht so schlecht. Das üben wir, sobald wir den Palast des Königs wieder verlassen haben. Dann bringe ich dir ordentliches Reiten bei.«
Remy richtete sich auf, sah sich unsicher um und griff mit zittrigen Händen nach den Zügeln. Er verkrampfte die Hände um den Sattelknauf und atmete tief durch.
»Um zu lenken, zieh die Zügel nach rechts oder links. Um ihn zu stoppen, ziehst du beide gleichzeitig leicht an deine Brust. Und um das Tempo zu erhöhen, trittst du ihm leicht in die Flanken. Nicht zu hart, sonst springt er dir davon und du fällst runter.«
Remy nickte und seine Gesichtsfarbe war ein wenig käsiger geworden.
»Wir reiten langsam, Remy. Du wirst Zeit haben, dich daran zu gewöhnen, in Ordnung?«
Der Junge nickte, Rowan schwang sich auf seinen eigenen Hengst, der elegant tänzelte und sie folgten der festen Lehmstraße in Richtung Osten.
Der Vormittag ging vorüber und die blasse trallische Sonne stand hoch am Himmel. Je weiter sie kamen, desto dichter wurde die Vegetation an den Seiten der Straße. Karge, winterharte Bäume säumten den Weg und ließen Blicke auf die Wiesen zu, die sich über das Land erstreckten. Der Wind war noch immer spürbar und kalt, doch die Sonne linderte es etwas ab.
»Es ist ein schönes Land«, bemerkte Rowan, der seinen Blick schweifen ließ. Agrippa folgte brav dem Weg und benötigte keine Führung. Remy sah sich ebenfalls um. Der Junge, der die Stadt noch nie verlassen hatte, sog die neuen Eindrücke auf wie ein Schwamm. Seine Wangen hatten sich durch die Kälte gerötet und er sah lebendiger aus als zu Beginn, als Rowan ihn das erste Mal zu Gesicht bekommen hatte.
»Seht Ihr? Dort! Man kann den See schon sehen, dort hinten, zwischen den Bäumen glitzert doch etwas, oder?«
Rowan sah in die Richtung, in die Remy zeigte und nickte. Es begann auch zunehmend nach einem stehenden Gewässer zu riechen, nach Seegras und Schlamm.
»Dann sind wir wohl bald da.«
»Hoffentlich nimmt es Euch niemand krumm, wenn Ihr mit einem Schwert am Gürtel vor den König tretet.«
»Nun, die Wachen Seiner Majestät würden es mir nur abnehmen, wenn sie glauben, befürchten zu müssen, ich wollte ihm etwas antun. Was nicht der Fall ist. Ich möchte meine Aufwartung machen, ein Gastgeschenk überbringen und um die Erlaubnis bitten, mich noch länger in diesem bezaubernden Land aufhalten zu dürfen.«
»Na gut, aber nur weil Ihr wisst, dass Ihr nichts vorhabt, muss das ja bei denen nicht so sein.«
»Remy … der König ist auf mich zugekommen und hat mich selbst in seinen Palast eingeladen. Ich könnte natürlich annehmen, dass dies nur ein Trick ist, um mich gefangen zu nehmen, doch daran würde ich nur glauben, wenn ich ein Verschwörungstheoretiker wäre. Mein Land liegt mit diesem hier nicht im Clinch. Würde man mir etwas antun, könnte sich dies schnell ändern, denn mein König weiß, wo ich bin. Und Annwyn besitzt eine größere militärische Stärke als Trallien.«
»Man muss ja nicht immer gleich vom Schlimmsten ausgehen. Nur verzeiht, wenn ich misstrauisch bin. Ich habe gelernt, niemandem zu vertrauen. Wenn man nicht mal der eigenen Mutter vertrauen kann, wem denn dann?«
»Du könntest versuchen, mir zu vertrauen. Ich bin für dich verantwortlich.«
Remy blickte den Prinzen von der Seite an. Ja, er könnte es versuchen. Doch er kannte ihn noch keine zwei Tage, er wusste nichts von ihm, das über die Äußerlichkeiten seiner Herkunft hinausging und dass er eine Unsumme gezahlt hatte, um einen schmutzigen Straßendieb, von dem er nicht einmal den Namen gekannt hatte, aus einem dreckigen und verkommenen Kerker zu befreien, obwohl nichts ihn dazu verpflichtet hätte. Remy würde Rowan diese Summe niemals zurückzahlen können, egal wie lange er schuftete.
»Ich … werde es versuchen«, knurrte der junge Mann und der Prinz schmunzelte nur.
Beide machten ein überraschtes Geräusch, als sie einen Hügel überquerten und sich der Palast vor ihnen eröffnete. Die hohen Mauern, die das Bauwerk umgaben, durchbrachen die wildromantische Landschaft wie ein Beil, der graue Stein passte nicht zu den blaugrün schimmernden Wiesen und den im Wind tanzenden Bäumen. Dunkelgrau erhoben sich die Türme und schnitten in den Himmel. Die Fahnen an den Masten waren pompös und farbenfroh.
»Was, keine Fanfaren? Ist ja arm«, spottete Remy und Rowan betrachtete das Bauwerk eingehend. Der breite Burggraben wurde aus dem See gespeist, der in der kalten Höhensonne glitzerte. Es musste einen Flußlauf geben, der den See mit Frischwasser versorgte, sonst wäre eine solche Bauweise nicht möglich gewesen.
»Ist das Schloss Eurer Familie auch so ein Klotz?«
»Würde ich nicht sagen. Aber eine Burgmauer lässt auch nur wenig Schluss zu, wie das Schloss selbst letzthin aussieht. Ein Schlosskomplex, Remy, ist wie ein eigenes Dorf. Alles wird dort direkt hergestellt, es gibt eigene Handwerker, eigene Manufakturen, Ställe, Dienstbotenquartiere. Alles von außen heranzuschaffen, wäre viel zu teuer und ein viel zu großer Aufwand.«
»Natürlich. Für den König nur das Beste.« Der Spott in Remys Stimme war noch immer deutlich zu hören.
»In dem Fall ist es eine Frage der Wirtschaftlichkeit. Mein Vater sagt immer, wenn man etwas selbst herstellen kann, muss er keine Steuergelder des Volkes verschwenden, etwas zu kaufen. So bleiben große Teile des Kapitals sicher liegen, sollte mal eine Missernte dazu führen, dass man Nahrungsmittel einkaufen muss. So muss weder der Palast noch das Volk hungern.«
»Klingt … wohl vernünftig. Ich bezweifle, dass man hier groß dafür sorgt, dass alle genug haben, wenn es mal einen Engpass gibt. Dafür sind die Reichen zu sehr mit sich beschäftigt und um die Armen schert sich eh niemand.«
»Ich führe sehr gern Grundsatzdiskussionen über die Stellung der einfachen Menschen in diesem Land, doch hier gilt das gleiche wie in Thalea. Halte dich mit kritischen Äußerungen zurück, denn hier sind wir im Herzen des Wespennests.«
Der Junge nickte nur und hohl erklangen die Hufschläge auf der hölzernen Zugbrücke. Das Wasser unter dieser schimmerte grünlich und Remy konnte Fische unter der Oberfläche erkennen.
Rowan stieg von Agrippas Rücken und der junge Dieb tat es ihm gleich, da er annahm, es wäre unhöflich, auf seinem Pferd sitzen zu bleiben, wenn sein Herr es nicht tat.
Kräftig pochte der Prinz von Annwyn gegen das hölzerne Tor, dessen Metallbeschläge sehr massiv aussahen. Remy musste sich eingestehen, dass er neugierig war. Er war noch nie auf einer Burg gewesen, hatte noch niemals gesehen, wo das Oberhaupt seines Landes lebte und ihm wurde einmal mehr bewusst, dass sich sein Leben durch Prinz Rowan deutlich verändert hatte. Ohne ihn wäre er vermutlich bereits verhungert.
Das vergitterte Sichtfenster öffnete sich und ein Wachmann mit einem Helm tauchte davor auf. »Ihr wünscht?«
»Guten Tag. Ich bin Prinz Rowan von Annwyn. Herr Gawen hat mich im Auftrag des Königs in den Palast eingeladen.«
Der Wachmann hob das Visier seines Helmes an und Rowan konnte an seinen Augen erkennen, dass er lächelte.
»Ah, richtig. Ihr und Euer Diener wurdet uns bereits angekündigt. Wir haben jeden Augenblick mit Euch gerechnet. Tretet zurück, ich öffne das Tor.«