In der Eingangshalle kamen ihm Kat und Azmaek entgegen, die soeben die Treppe herunter eilten.
„Was ist los?“, rief Kat.
Nylian hob die Faust, mit der er die runde Kugel umklammerte. „Hab das Amulett.“
Er lief in Richtung der Tür, doch Aoi hielt ihn mit einem schrillen Schrei auf und rief: „Nicht! Draußen sind Wölfe!“
Auch Nylian konnte es jetzt sehen, durch die Türen, die noch halb offen standen. Es waren nur drei, doch diese Wölfe waren riesig und schwarz, mit muskelbepackten Armen und auf den Hinterbeinen aufgerichtet. Werwölfe – und zwar jene, die im Licht der Vollmonde zu blutberauschten Bestien wurden, keine gewöhnlichen Wolfsrudel unter der Kontrolle eines Alphas.
„In den Keller!“, rief Azmaek, denn sie konnten Kiirion hören, der sich den Weg aus dem Speisesaal freikämpfte. In aller Hast hatte Nylian die Türen mit einem Kerzenleuchter versperrt, doch den Geräuschen nach war an der Haltbarkeit dieser Sicherheitsvorkehrung zu zweifeln.
Azmaek lief voran, in einen der Seitenräume und dann zielstrebig auf einen breiten, steinernen Treppenabsatz zu, der in eine schummrige Tiefe führte. Fackeln leuchteten an den Wänden.
Ob es Aidalos wohl gut ging, fragte sich Nylian. Der Hengst war draußen mit den Bestien, hoffentlich hatte er fliehen können!
„Warum der Keller?“, fragte Kat im Rennen keuchend.
„Der Verbündete ist hier unten“, erklärte Azmaek knapp. „Der Graf wird uns oben suchen.“
„Was?“ Nylian blieb stehen. „Wir laufen direkt in die nächste Falle!“
Auch Kat, Aoi und schließlich Azmaek hielten an. Kiirions Wutgeheul wurde leiser, als er ganz nach Azmaeks Vorhersage nach oben lief.
Azmaek steckte die Hand aus. „Das Amulett, rasch.“
Misstrauisch zog Nylian die Hand zurück. „Was hast du vor?“
„Ich bekämpfte den Grafen“, erklärte Azmaek mit mehr Geduld, als in dieser Situation zu erwarten gewesen war. „Ihr geht in den Keller und schaltet den Verbündeten aus. Seid vorsichtig, denn ich fürchte, dass die Limbo-Truhe hier unten ist. Sie darf auf keinen Fall geöffnet werden.“
Nylian gab nach und überreichte das Amulett.
„Es ist Kiirion“, sagte er dann. Kat zog scharf die Luft ein. „Er hat Magie erlernt, er ist ein Hexer. Und er ist ein Vampir.“
„Wenn ich mich nicht beeile, wird er vielleicht noch mehr sein“, murmelte Azmaek düster. „Die Magie erhält er von Dämonen, die in seinem Körper wohnen dürfen. Eine gefährliche Symbiose, doch als Vampir hat er die Macht, sie zum Gehorsam zu zwingen. Ich fürchte, er plant, sich von einem Alpha beißen zu lassen, sobald es Mitternacht ist. Dann wäre er wahrlich stark genug, um auch die Dämonen aus der Truhe zu beherrschen.“
Der Magier warf ihnen einen warnenden Blick zu, dann eilte er die Stufen wieder hinauf.
„Gebt auf euch Acht!“, rief er von oben herunter.
Im nächsten Moment war er fort.
~ ⁑ ~
Aoi klammerte sich zitternd an Kats Hüfte. Sie legte dem Mädchen eine Hand auf die Schulter und sah Nylian an. Er hatte seinen Bogen verloren und wirkte aufgelöst.
„Kiirion also?“, fragte sie vorsichtig.
Nylian nickte mit düsterem Gesicht. „Er hat seinen Tod nur vorgetäuscht. Er und Colum haben das alles schon lange geplant.“
„Aber warum?“ Kat konnte es nicht verstehen.
„Gerechtigkeit. Sie wollen den Rassismus gegen Tiermenschen beenden.“ Nylian zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, er ist wahnsinnig geworden.“
„Das klingt aber nicht nach dem Kiirion, den ich kannte!“
„Nein“, stieß Nylian durch zusammengepresste Zähne hervor. „Colum hat ihm diesen Unsinn in den Kopf gesetzt, von Magie und Macht und was weiß ich, was noch!“
Er wandte sich dem Treppenabstieg und der fackelerhellten Düsternis dahinter zu. „Jetzt muss er dafür geradestehen!“
Nie zuvor hatte Kat ihren Freund so grimmig gesehen, nicht einmal in der Zeit nach Kiirions Tod. Die Wunde, die der Elf erhalten hatte, musste furchtbar sein.
Sie folgte ihm in die Tiefe.
„Und Yodda ist tot.“
„Tot?! Wie?“
„Kiirion hat sie ermordet.“
Sie schwieg. Was sollte man darauf schon erwidern? Sie schob den entsetzlichen Gedanken von sich. Im tiefsten Herzensgrund konnte sie es einfach noch nicht glauben.
Der Keller des Anwesens entpuppte sich als Labyrinth feuchter Gänge mit gewölbter Decke. Viele der schmalen Tunnel schienen direkt in den Berg geschlagen worden zu sein, andere hatten Wände aus grobem Mauerwerk. Oftmals stieg der Boden steil an oder ab, statt wie ein Teil eines Gebäudes wirkte der Keller eher wie ausgebesserte Höhlen.
Doch es bestand keine Gefahr, sich zu verlaufen – eine durchgehende Spur aus flackernden Fackeln leitete sie tiefer unter die Erde. Die anderen Gänge waren nicht nur unbeleuchtet, sie besaßen auch keine Fackeln, die man entzünden konnte. Es fühlte sich fast so an, als sollten sie dem Licht folgen.
Ihre Schritte hallten laut von den feuchten Wänden wider. Die drei Eindringlinge wechselten kein Wort.
Und schließlich öffnete sich der Gang vor ihnen und mündete in eine große Höhle mit einem Boden aus glatten Platten schwarzen Marmors. Die hintere Wand fehlte, die Höhle öffnete sich dem Tal entgegen. Es musste bereits Nacht sein, der Himmel war von schweren Wolken bedeckt. Wind fuhr heulend durch die Höhle, sein Klagen vermischte sich mit rollendem Donner. Draußen zuckten Blitze auf die Erde wie Hammerschläge.
In der Mitte der Höhle erhob sich, wie der Altar eines düsteren Tempels, eine runde Erhebung. Darauf stand, unpassend in der edlen Umgebung, eine rostige alte Kiste aus verzogenem Holz, mit eisernen Beschlägen und umwickelt von unzähligen Ketten. Die Limbo-Truhe.
Über der Kiste schwebte eine Apparatur, die wie eine riesige, mechanische Hand mit drei Fingern erschien. Die Seiten der Höhle waren hinter diversen ähnlich, doch offenbar zerbrochenen Maschinen verborgen, nur an einer Stelle befand sich eine glatte Tafel eingelassen, auf der sich drei große Hebel befanden, jeder so hoch wie ein aufrechtstehender Mann und aus massivem Stein.
Kaum, dass die drei die Höhle betreten hatten, schob sich knirschend eine Felswand über den Eingang zum Tunnel. Kat stieß einen Warnruf aus, doch die beiden Steinhälften schlugen zusammen, ehe sie sich auch nur rühren konnten.
In der entstandenen Stille hörten sie deutlich das Klappern von Hufen auf dem Marmorboden.
Aois Hand zog sich aus Kats Griff und das Mädchen schrumpfte in ihre Katzengestalt zusammen, um sich hinter ihren Beinen zu verstecken.
Colum trat auf sie zu. Über dem Oberkörper trug er ein grünes Wams wie das, das Kiirion getragen hatte.
„Da seid ihr.“ Colum breitete die Arme aus, aber diesmal hatte niemand das Bedürfnis, sich in eine Umarmung zu werfen.
„Wir wissen Bescheid!“, spuckte Kat ihm entgegen.
„Und ich weiß das“, sagte Colum. „Kiirion sandte mir eine Botschaft, als der Magier ihn angriff. Was für eine interessante Wendung des Schicksals – ich dachte, ihr könntet Azmaek den Jäger nicht ausstehen!“
„Warum tust du das?“, fragte Nylian wütend. Er machte einen Schritt vor und Kat folgte ihm unsicher. Der Zentaur war selbst ohne Waffen ein gefährlicher Gegner, und er trug seine beiden Äxte bei sich. Der Griff des Schwertes in ihrer Hand war rutschig vom Schweiß.
„Warum ich das tue?“, fragte Colum. „Weil ich lange genug gelitten habe! Ich war immer der Vertriebene, der Außenseiter, ich wurde nicht mit Respekt behandelt, geschweige denn, dass ich Freunde gehabt hätte!“
„Wir sind deine Freunde!“, schleuderte Kat zurück, ehe sie sich besann. „Wir waren es.“
„Freunde? Pah! Ihr habt mich als kauzigen Mitläufer akzeptiert, weil Yodda mich als Erfüllung ihrer Träume ansah. Weil ich ihr das Bauen beibringen konnte! Hat sie auch nur einmal gefragt, wie ich selbst es erlernt hatte? Warum?“
Ein Blitz erhellte die Höhle, grollender Donner folgte.
Nylian machte einen unauffälligen Schritt zur Seite. Kat erkannte, dass sie Colum am Reden halten musste. Zum Glück hatte sich so viel Wut in dem Zentauren aufgestaut, die er loswerden wollte. Wie ein Stier, der Rot sah, würde er auf jede Vorlage anspringen. Das war vielleicht ihre Rettung.
„Dann frage ich dich jetzt“, sagte sie. „Wie hast du es gelernt?“
„Weil ich musste!“ Colum stampfte auf, spuckte aus, die Augen weit aufgerissen. „Weil wir Tiermenschen in Casta nichts als Dreck waren, Arbeitstiere. Ich musste Pflüge ziehen, dann musste ich Häuser errichten, Tempel, die nur dazu gut sind, Staub anzusammeln! Ich war ein Sklave.“
„Das wussten wir doch nicht, du hättest etwas sagen können!“ Kaithryn ging mit weichen Knien auf Colum zu. Er musste sich auf sie konzentrieren, damit Nylian sich unbemerkt der Wand nähern konnte. Kat hoffte, dass er einen Plan hatte.
„Natürlich wusstet ihr es nicht.“ Colum schnaufte. „Ihr habt euch nie darum gekümmert, wer ich war. Eure Freundschaft war doch nichts als Mitleid, um euer eigenes Gewissen zu beruhigen. Um euch besser zu fühlen – wir sind mit einem Tiermenschen befreundet, wir sind wahrlich große Helden!“
Der Spott in Colums Stimme traf Kat tief, denn im Grunde hatte er Recht. Er war immer nur der Tiermensch gewesen, selbst als das Chaos in Amrais ausbrach, hatte sie kaum an ihn gedacht.
„Colum“, sagte sie langsam. „Du warst wie ein Onkel für mich, für uns alle!“
„Und wenn schon.“ Colum senkte den Kopf. „Ich will keine drei Enkel, ich will Gerechtigkeit für mein Volk! Ich habe meine Familie in Casta zurückgelassen, in Not und Elend. Vermutlich sind sie inzwischen tot, aber spätere Generationen kann ich noch retten!“
Colum senkte den Kopf und griff an. Kat sah sich panisch nach einem Fluchtweg um. Mit Hufen, die auf dem glatten Boden schlitterten, kam Colum auf sie zu, immer schneller. Sie hörte Nylian, der ihren Namen rief, er stand am Rand des Raumes. Im letzten Moment warf sich Kat zur Seite und Colum glitt bei dem Versuch, die plötzliche Drehung nachzuvollziehen, auf dem Boden aus. Kat sprintete los, der Weg zum hinteren, offenen Teil der Höhle war frei. Aoi lief neben ihr, ein brauner Blitz dicht am Boden, und Nylian folgte an der Wand.
Doch die Höhlenöffnung war eine herbe Enttäuschung. Statt der Freiheit erwartete sie nur eine steil abfallende Klippe. Der Boden der Halle bildete ein Oval, dessen äußerster, von den Elementen verwitterter Teil ein Stück über die Klippen hinaus ragte. Kat, Nylian und Aoi kamen zu einem schlitternden Halt, als sie die scheinbar bodenlose Tiefe vor sich sahen. Eine spitz zulaufende Klippe ragte nach draußen, ihre Oberfläche war künstlich geglättet worden. Blitze zuckten im Tal dahinter, der Wind zerrte an ihrer Kleidung.
Ein Blick zurück zeigte ihnen, dass Colum bereits wieder auf den Hufen war und auf sie zu kam. Er umkreiste den Mechanismus über der Limbo-Truhe grinsend, in gemächlichem Tempo. Sie wichen dicht zusammengedrängt auf die Felsnadel hinaus, Schritt für Schritt.
„Dachtet ihr denn, ihr könntet mich täuschen?“, fragte er. „Natürlich habe ich gesehen, was Nylian versucht hat. Aber, mein Freund – du hast nichts gefunden, was euch retten konnte, nicht wahr? Nur zerbrochene Werkzeuge. Meine früheren Versuche, die Ketten einer Limbo-Truhe zu durchbrechen, schlugen fehl. Aber ich habe geschafft, was niemand sonst geschafft hat.“ Aoi wollte zur Seite huschen, aber Colum stampfte auf und die Katze wich gegen Kats Schienbeine zurück. „Yodda hat sich wirklich den besten Meister ausgesucht, obwohl das nicht ihr Verdienst war. Ich kann sie öffnen! Bald werde ich die Anerkennung erhalten, die ich verdiente. Ich bin der Mechaniker, der Berge versetzen kann!“
Kats Blick fiel auf die drei Steinhebel. Drei Hebel. Drei Berge, die sich verschoben hatten.
„Es war keine Magie“, flüsterte sie halblaut.
„Ganz recht, Kaithryn. Das war ich“, prahlte Colum. Er blieb am Rand der Klippe stehen und senkte erneut den Kopf. Scharrte mit dem Huf über den glatten Stein.
„Wie?“, fragte Kat verzweifelt, um sich Zeit zu erkaufen. „Wie hast du es geschafft?“
„Das braucht euch nicht zu interessieren.“ Colum versperrte ihnen jeden Ausweg. Ein Blitz schnitt sein grimmiges Gesicht aus der Dunkelheit. „Ihr werdet sowieso nicht leben, um es zu würdigen.“
Der Zentaur setzte sich mit dem Donner in Bewegung.