Die Luft war elektrisch geladen. Unzählige Blitze zuckten von oben herab, doch wie Nylian nun erkannte, war ihr Ursprung nicht etwa der stürmische Himmel, sondern die Zinne des höchsten Turmes des Schlosses.
Es hatte zu regnen begonnen und die spitze Felsnadel, auf der die fünf standen, war bereits rutschig von den schweren Tropfen, die von oben herabfielen. Aoi, Yodda und Izcun hielten sich im trockenen Windschatten der Höhle.
„Wir müssen nach oben!“, sagte Kat. „Azmaek ist in Gefahr.“
„Schön, aber die Tür ist versperrt.“ Nylian wies auf den Felsen, der sich hinter ihnen geschlossen hatte. Wo der Eingang in den Tunnel lag, ließ sich nicht mehr feststellen. „Ich habe keine Möglichkeit gesehen, die Tür wieder zu öffnen.“
„Da habt ihr Glück, dass wir hier sind“, sagte Yodda grinsend. Sie fasste Nylians Hand und gleichzeitig entfalteten sich auf ihrem Rücken zwei schattenhafte Flügel, zuerst nicht deutlicher als ein Nebelhauch, doch gewannen sie beim Zusehen an Festigkeit, bis sie aus Fleisch und ledriger Haut gemacht schienen.
Yoddas Haut war kalt. Nylian unterdrückte einen Schauer.
„Aber sie werden uns sehen!“, protestierte Izcun.
„Werden sie.“ Yodda nickte. Kat zog mit grimmiger Miene ihr Schwert.
„Mein Bogen liegt noch im Festsaal.“ Nylian seufzte.
Izcun schüttelte entgeistert den Kopf. „Da oben sind hunderte Vampire!“
„Und es regnet“, rief Yodda ihm in Erinnerung. „Sie werden jetzt vermutlich Deckung vor dem Wasser suchen.“
„Noch ein Grund, nicht da hoch zu fliegen!“, schimpfte Izcun. „Wir kommen keine zwei Meter weit – das ist Selbstmord!“
„Ich glaube, da kann ich helfen!“ Kat grinste triumphierend, ging auf Izcun zu und legte ihm eine Hand auf die Stirn. Der Vampir warf Yodda einen irritierten Blick zu, ließ es aber schweigend über sich ergehen.
„Und jetzt geh auf die Klippe!“, sagte Kat.
Yodda nickte Izcun ermutigend zu. Mit schweren Schritten trat der Vampir vorwärts und streckte dann eine Hand in den Regen.
Die Tropfen prallten drei Fingerbreiten über seiner Haut von einer unsichtbaren Barriere ab. Erstaunt ging Izcun weiter vor und drehte seine Hand versuchsweise. Der Schutz umgab ihn wie eine zweite Haut und der abprallende Regen verlieh ihm einen hellen Rahmen wie eine Aura.
„Aoi?“, fragte Kaithryn. Die Katze sprang ihr in die Arme und Kat berührte auch ihre Stirn, um sie vor dem Regen zu schützen. Yodda war als nächste dran.
„Also gut.“ Izcun gab sich geschlagen. „Ich nehme die Magierin und die Katze, du den Elfen!“
Nylian musste es über sich ergehen lassen, dass Yodda die Arme um seinen Oberkörper schlang und dann flatternd weiter aufstieg, bis seine Füße den Kontakt zum Boden verloren. Er klammerte sich nervös an Yoddas verschränkte Hände.
„Lass mich bloß nicht fallen!“
„Vertrau mir.“
~ ⁂ ~
Izcun stieg mit kräftigen Flügelschlagen immer höher. Kat hielt Aoi fest im Arm, die Katze hatte ihr die Krallen in die Schulter geschlagen. Doch die kleine Formwandlerin war trotz allem mitgekommen.
Langsam näherten sie sich der obersten Zinne. Der Himmel war frei, die Vampire hatten sich vor dem für sie schmerzhaften Wasser in Sicherheit gebracht. Nur die Blitze zuckten unvermindert weiter.
„Wir können nicht oben landen“, erkannte Kat. Die Gefahr, von einer Druckwelle oder einem Blitz getroffen zu werden, der nicht einmal nach ihnen zielte, war zu groß. „Könnt ihr uns an einem der Fenster absetzen?“
Unzählige hohe Fensterhöhlen klafften in dem Turm. Falls sie einmal verglast gewesen waren, so waren Fensterscheiben und Rahmen längst herausgefallen. Im flackernden Schein der Blitze wirkte der Turm wie ein verformter Totenschädel mit unzähligen traurigen Augen.
Izcun steuerte auf eines der höchsten Fenster zu, dass sie ungefährdet erreichen konnten. Doch noch bevor sie es erreicht hatten, stellte sich plötzlich Aois Fell auf. Die Katze wand sich aus Kats Griff und sprang auf den Rücken des Vampirs.
„Lass mich los!“, rief Kat.
„Was?“, entfuhr es Izcun.
Ohne auf eine Antwort zu warten, warf Kat sich herum und riss sich von Izcun los. Sie hörte einen spitzen Schrei von Yodda, als sie fiel. „Kat!“
Sie breitete die Hände aus und öffnete ihren Geist. Sofort sprudelte die Macht aus ihrem Inneren hervor. Feuer erschien und wirbelte um Kat herum, es verdichtete sich zu einer rauschenden Wand. Sie streckte eine Hand aus und die Flammen flutete in den Turm, riss sie mit sich.
Kat glitt durch ein Fenster und fiel auf steile Treppenstufen. Sie hörte laute Schmerzschreie. Die Vampire hatten den Turm als Versteck vor dem Regen aufgesucht, doch außer ihnen waren auch Werwölfe hier, die Aoi gerochen haben musste. Die Flutwelle aus Feuer spülte alle von den Stufen, die unter Kat standen. Doch ihr Angriff war bemerkt worden. Dunkle Gestalten sprangen von oben herbei. Kaithryn parierte den ersten Angriff mit dem Schwert und schlug dem Vampir den Arm ab. Er stolperte an ihr vorbei in das Feuermeer, das auf den kalten Steinen bereits versiegte, doch schon kam ein Werwolf auf sie zu, eine pechschwarze Bestie, die den ganzen Tunnel ausfüllte.
„Pfoten weg von meiner Freundin!“ Yodda kam wie ein goldroter Blitz an Kat vorbeigerannt und rammte dem Wolf die Faust in den Bauch. Jaulend wurde der Werwolf zurückgeworfen und fiel auf eine Gruppe Vampire. Er wirbelte herum und versenkte die Zähne in rotem Fleisch – doch es war ein anderer Dämmerungsvampir, der dem rasenden Wolf zum Opfer fiel.
Fast sofort brach Chaos aus und Izcun konnte gefahrlos mit Aoi landen. Nylian stand bereits hinter Kat.
„Ich wusste ja schon immer, dass der Hass zwischen Werwölfen und Vampiren etwas Gutes ist!“, staunte Nylian.
„Bis darauf, dass wir irgendwie an ihnen vorbei nach oben kommen müssen!“, sagte Izcun.
Das Gewirr aus Krallen, Zähnen und Klauen vor ihnen war undurchdringlich. Sogar einige Dämonen mussten sich im Turm befunden haben, denn ihr schreckliches Schreien und Heulen übertönte noch den Sturm und die anderen Kampfgeräusche.
„Die Blitze haben nachgelassen!“, rief Yodda plötzlich. „Das ist unsere Chance!“
„Ja, fliegen wir nach oben“, entschied Kat. Izcun griff ihre Hand und schwang sich in den Himmel, Yodda folgte mit Nylian.
~ ⁂ ~
Der Kampfplatz bot einen ungewöhnlichen Anblick. Yodda entdeckte Kiirion sofort, das vertraute Gesicht sandte ihr einen Stich durch das Herz. Es war wirklich Kiirion, wenn er auch ein Auge verloren hatte. Noch immer war er wunderschön, selbst jetzt, da er verwirrt auf die Luke sah, die auf das Turmdach führte. Kampfgeräusche drangen daraus.
Ein Ring von Dämonen umgab den Kampfplatz. Die Wesen, nichts weiter als pulsierende Flecke von düsterem Schwarz oder Rot, waberten in einem dichten Kreis auf und ab. Außer Kiirion stand Azmaek im Inneren des Kreises, eine dunkelorange, hoch aufragende Gestalt.
Ihre Ankunft war noch nicht bemerkt worden. Beide Magier lauschten auf das Gemetzel, das unter ihren Füßen ausgebrochen war.
„Scheint, als würde deine Gerechtigkeit sich soeben selbst zerfleischen!“, spottete Azmaek.
Kiirion wirbelte mit einem wortlosen Wutschrei herum und machte mit den Armen eine Geste, als würde er etwas gegen Azmaek schleudern. Der Magier wurde von einer unsichtbaren Druckwelle getroffen und schlitterte auf die Dämonen zu. Drei leuchtende Gegenstände fielen ihm aus den Händen.
„Die Amulette!“, rief Kat, die in Izcuns Griff hing.
Mit ekstatischem Geheul stürmten die Dämonen vorwärts, um die drei Amulette in ihren Besitz zu bringen. Kiirion grinste siegessicher, sein schönes Gesicht zu einer widerwärtigen, selbstzufriedenen Fratze verzehrt. Azmaek blieb am Rand des Turms liegen, die Augen geschlossen. Die Dämonen strömten über ihn hinweg.
Nylian schrie auf, als Yodda ohne Vorwarnung in den Sturzflug ging. Sie ließ den Elfen kurz über dem Boden los und stürzte sich auf das erste Amulett, das die Form einer schmalen, silbernen Flöte hatte. Sie riss es an die Brust.
Neben ihr rollte Nylian sich ab und schnappte sich das runde, lindgrüne Amulett von Kiirion, ehe die Dämonen es greifen konnten. Izcun, der Yodda trotz seiner furchtsamen Art gefolgt war, landete neben ihnen und Kat nahm das dritte Amulett an sich, in Gestalt eines purpurnen Vogels.
Die drei Amulettträger schlossen einen Ring um Izcun und Aoi. Die Dämonen brandeten gegen sie und prallten von einem unsichtbaren Schutzschild zurück. Dieser Schild glich jenem, den Kat gegen den Regen geschaffen hatte, doch er war dicker, ließ ihnen fast eine Armlänge Platz. Es war ein mächtigerer Zauber.
Heulend und wütend zogen die Dämonen sich zurück. Die drei Freunde, Izcun und Aoi drehten sich zu Kiirion um.
Der hatte ihr Eingreifen überrascht verfolgt und starrte sie jetzt mit unverhohlener Wut an. „Was sucht ihr hier? Glaubt ihr, mich aufhalten zu können? Nein, dafür ist es zu spät!“, knurrte er.
Kat richtete die Schwertspitze auf ihn. Sie, Yodda und Nylian streiften sich mit einer synchronen die Bänder der Amulette um den Hals.
„Bist du dir sicher, dass wir dich nicht aufhalten können?“, fragte Nylian seinen Bruder.
Kiirion dagegen grinste breit, ehe er plötzlich auf dem Boden zusammenbrach und einen langen, heiseren Schrei ausstieß.