Durch die Hölle:
Der Schuppen stank. Der überwältigende Gestank nach Verwesung und getrocknetem Blut schlug Amy auf den Magen. Sie atmete flach durch den Mund, um nichts zu riechen und hielt die Lippen gleichzeitig eng beieinander. Die Luft war erfüllt von brummenden Fliegen.
"Mir ist schlecht", sagte Eve. Amy griff schweigend die Hand der Kleineren. Sie konnte nichts beruhigendes mehr sagen. Sie konnte so gerade eben stehen, getragen von der schwachen Hoffnung auf einen Ausgang, ein Ende.
Beim geringsten Widerstand würde sie aufgeben.
"Willkommen in der Hölle", sagte Mira düster. Auch ihre Taschenlampe ertastete jetzt den Weg vor ihnen.
"Ist das echt die Hölle?", fragte Luca.
"Vielleicht", sagte Samstag: "Wir sind nicht mehr in der Realität. Ich denke, wir haben ein Tor durchschritten. Was auch immer das hier für ein Ort ist - hier herrschen andere Gesetze."
"Und es gibt Monster, ja?", fragte Luca.
Zum Entsetzten der ehemaligen Zivilisten nickte Samstag. Nur Mira und Lily wussten natürlich schon Bescheid.
"Normalerweise halten wir die Tatsache, dass es so etwas gibt, geheim", erklärte Samstag: "Aber dafür ist es ja wohl zu spät. Wir sind in einer anderen Welt. Es ist vermutlich wirklich die Hölle, oder wie ihr es nennen wollt. Und es gibt alle möglichen übernatürlichen Monster."
"Für jedes Hotel eine andere Art", sagte Lily mit brechender Stimme: "Deswegen waren wir so unvorbereitet!"
Ihre Hoffnungslosigkeit steckte Amy an. Beinahe hätte sie sich wieder auf den Boden sinken lassen. Sie wollte nicht mehr weiter gehen. Sie wollte einfach nicht mehr.
"Egal. Jetzt wissen wir es", sagte Samstag. Amy fragte sich, woher der junge Mann seinen Optimismus nahm. Doch die Kraft hinter den Worten zwang sie alle weiter.
Sie gingen in den Schuppen hinein. Das war wirklich die Hölle. Sie mussten die ganze Tragödie von Neuem durchleben. Amy hielt die Augen beinahe geschlossen, öffnete nur einen schmalen Schlitz, um durch den Spalt den Blick auf den Boden gerichtet zu halten. Sie wollte nichts sehen. Auch so wusste sie, dass es die verfaulenden Leichen ihrer Freunde waren. Schon Liams blasses, von Angst verzerrtes Gesicht hatte sich in ihr Gedächtnis gebrannt. Mehrere solcher Bilder würde sie nicht ertragen.
Sie war so dankbar, dass Samstag voraus ging. Er leuchtete ihren Weg aus und lenkte ihre Schritte an den Leichen vorbei in den hinteren Teil des Schuppens. Amy sah nicht viel, doch trotzdem bekam sie mit, dass schwere Gegenstände von der Decke hingen, und viele kleinere Teile auf dem Boden verstreut lagen. Sie dachte daran, was Samira über Dimitris "Seele" gesagt hatte. Sie hatte es rührend gefunden. Es war schrecklich. Entweder, Samira war wahnsinnig, oder aber Samstag hatte Recht: Sie waren wirklich in der Hölle. Gefangene von Dämonen.
Samstag gab ihnen allen Kraft. Amy wusste nicht, woher der Mann selbst die Stärke nahm, doch er führte sie durch die stinkende Dunkelheit. Endlich erreichten sie das hintere Ende des Schuppens, eine zitternde, weinende, verängstige Gruppe.
Sie betasteten das Holz.
"Hier ist nichts!", weinte Eve.
"Sucht eine Tür. Eine Schwachstelle. Irgendwas", jetzt schien auch Samstags Willenskraft zu schwanken. Fingernägel kratzten über das Holz. Amy stieß sich einen Splitter in den Finger, als sie gegen das Holz schlug. Warmes Blut lief über ihre Haut.
"Hier!", keuchte Mira auf. Das Wort eines Engels, der Lichtblick im Dunkel.
Die blonde Frau zog an einem lockeren Brett. Sofort drängten sich alle sechs an den Schlupfwinkel. Mit vereinten Kräften zerrten sie das Holzbrett zur Seite.
Frische, kühle Luft drang in das Innere. Es war schon wieder dunkel.
"Abenddämmerung", sagte Samstag.
"So schnell?", fragte Luca.
"Andere Gesetze", wiederholte Samstag, was er zuvor gesagt hatte: "Wir sind im Land der Nacht."
Amy fand die Worte des Mannes nicht übertrieben. Als sie sich durch die Lücke quetschte und den kühlen Wind auf der Haut spürte, überkam sie ein Gefühl von Unheil. Sie hatte furchtbare Angst und hätte sich beinahe zurück in den Schuppen geflüchtet. Doch sie kämpfte um ihre Selbstbeherrschung und blieb stehen.
Die anderen folgten ihr. Ein voller, leuchtender Mond zog über ihnen auf den Himmel. Irgendwo in der Ferne heulte ein Wolf.
"Wir müssen weg", erklärte Samstag: "Etwa ein, zwei Kilometer sollten reichen. Dann kann ich ein Tor öffnen, dass uns nach Hause bringt."
"Warum nicht jetzt?", fragte Lily, die anscheinend wusste, wovon Samstag sprach.
"Zu nah an Samira", erklärte Mira: "Sie würde uns aufhalten."
"Ein Tor?", fragte Amy, um sich von der herauf kriechenden Panik abzulenken.
"Ein Durchgang zur Realität", sagte Samstag knapp und schritt voraus in den Wald: "Ihr werdet es sehen."
Was würde geschehen, wenn Samstag starb, fragte sich Amy. Würden sie dann noch nach Hause kommen können?
Sie folgte ihm eilig in den Herbstwald. Zuerst hatte er freundlich gewirkt, besonders nach den ewigen Tannenwäldern. Doch das Unterholz hier war dicht, und es lagen unzählige faulende Stämme auf dem Boden. Viele Bäume waren von Blitzschlägen zersplittert oder missgestalten, mit knorrigen Ästen und krummen Stämmen. Der Waldboden war sumpfig. Es regnete, wohl schon eine ganze Weile. Die Füße der sechs Flüchtigen sanken tief in den Morast. Dornenranken hielten sie fest, während sie sich über lange Äste, morsche Stämme und durch Meere von Brennnesseln kämpften. Das Herbstlaub an den Büschen war rot und golden, es erinnerte an Feuer, selbst in dem dunklen Licht noch.
Plötzlich ertönte ein weiteres Wolfsheulen, doch diesmal so nah, dass ihnen das Blut in den Adern gefror. Entsetzt blieben die sechs stehen.
"Sie sind nah", sagte Mira, die den Kopf lauschen schief gelegt hatte. Ihre Augen waren weit aufgerissen.
"Sie jagen uns. Kommt", sagte Samstag.
Sie sprinteten ungeschickt los, im schwachen Licht über alle möglichen Hindernisse stolpernd, als der Wolfsruf von tausenden Stimmen beantwortet wurde.
Und lautes Gelächter schallte durch den Wald.