Die WG:
Es klopfte an die Tür. Karo schob den Stuhl vom Schreibtisch zurück und ließ ihn in die Mitte des Zimmers rollen: „Ja?“
Die Tür wurde geöffnet und dahinter tauchte das blasse Gesicht von Amy auf. Sie hielt ihr Handy in der Hand und an das Brustbein gedrückt.
„Hast du Luca heute schon gesehen?“
Karolin überlegte.
„Ich glaube, er hat noch geschlafen, als ich aufgestanden bin. Als ich zurückgekommen bin, war ich nur fünf Minuten oder so in der Küche, also nein.“
Sie sah, wie sich Amys Miene etwas verdüsterte und fragte nach: „Wieso?“
Amy zuckte mit den Schultern: „Ich habe ihn seit gestern nicht gesehen.“
„Vielleicht ist er unterwegs oder so“, sagte Karo und glaubte nicht wirklich daran.
„Das würde er nie tun, ohne mir Bescheid zu sagen!“, meinte Amy.
„Ich weiß es nicht“, sagte Karo etwas schärfer als beabsichtigt und schob Amy damit verbal aus ihrem Zimmer. Das rothaarige Mädchen zog sich leise zurück.
Luca und Amy vermissten einander ungefähr jeden zweiten Tag, weil sie eben doch längere Ausflüge machten, ohne dem anderen etwas davon zu erzählen. Max meinte, dass sie zum Friedhof gehen würden. Karo wollte ihre Nase nicht in die Angelegenheiten anderer Menschen stecken, außerdem hatte sie keine Zeit, um sich Gedanken zu machen. Amy und Luca waren seltsam. Sie hingen aneinander wie zwei Teenager in der ersten Beziehung, schienen aber bloß Freunde zu sein. Zu mindestens behaupteten sie das. Karo seufzte und konzentrierte sich wieder auf ihre Hausaufgaben. Wenn sie den Grundkurs nicht gut abschloss, stand ihre ganze Planung auf dem Kopf. Sie wollte den Bachelor in drei Jahren schaffen, dann den Master machen und schließlich als Anwältin arbeiten. Wenn sie ehrlich war, wollte sie sich nicht von zwei Verrückten dabei aufhalten lassen.
Nach den Hausaufgaben ging sie ins Internet und stolperte ziemlich schnell über die Nachrichten, ohne sie gesucht zu haben. Karo erstarrte, klickte den Artikel an und las immer gehetzter. Ein Anschlag? In der Nähe, nur ein paar Straßen weiter? Wie hatte sie das nicht mitbekommen können?
Sie sah zum Fenster, seufzte und öffnete es. Draußen war es verdächtig still. Der Supermarkt, der laut Nachrichten überfallen worden war, lag nicht weit entfernt. Die Polizei warnte davor, auf die Straße zu gehen, weil die Täter noch nicht geschnappt worden waren. Man rätselte, was deren Ziel gewesen war. Niemand war verletzt, nichts gestohlen. Nach kurzem Suchen entdeckte Karo draußen einen Streifenwagen, der an einer Ecke parkte. Einem Mann wurde gerade erklärt, dass er wieder ins Haus gehen sollte.
Die friedliche Stille wurde durchbrochen, als plötzlich laute Rockmusik losdonnerte. Karo erschrak so heftig, dass sie das Fenster wieder zu knallte, aber der Lärm kam von drinnen. Sie rieb sich die Schläfen und spürte die Migräne kommen. Gleich würde Amy zum Glück gehen und Max bitten, die Musik leiser zu stellen.
Nach etwa fünf Minuten war es immer noch laut. Karo öffnete ihre Tür und ging über den Flur.
Die Zimmertüren zu den Räumen von Max und Amy waren geschlossen. Lucas Tür stand weit offen. Karo konnte das Chaos auf dem Boden erkennen. Allerdings bemerkte sie auch, dass die Wäsche genau wie am Abend vorher auf dem Bett verteilt war.
Luca war über Nacht nicht hier gewesen!
Sie hämmerte gegen Max' Zimmertür, bis Disturbed auf eine erträglichere Lautstärke herunter geschaltet wurde. Dann klopfte sie an Amys Zimmer und öffnete die Tür, als keine Antwort kam.
Amy war nicht in dem kleinen Raum. Nur ein Bett, ein Schreibtisch samt Stuhl und ein Computer waren hier, sowie ein paar Bücher und ein Ladekabel für Amys Handy. Der Raum wirkte furchtbar trostlos.
Besorgt ging Karo in die Küche, dann in das winziger Wohnzimmer, beide Räume lagen am Ende des kurzen Flurs, von dem ihre vier Zimmer und die kleine Toilette abgingen.
In der ganzen WG war keine Spur von Amy zu finden.
Karo warf wieder einen Blick nach draußen, wo irgendwo die Einkaufsstraße lag.