Die Einladung:
Es geschah genau eine Woche später. Amy, Luca und Tobias hatten inzwischen seit elf Tagen ein kleines Dreierzimmer in der Akademie der Wächter bezogen. Es war ein trostloser Raum, der nicht den Anschein erweckte, dass hier überhaupt jemand lebte. Selbst das Bild an der Wand, die der Tür gegenüberlag, und das einen blauen Himmel über einen blauen Meer zeigte, wirkte unpersönlich.
Es gab drei Betten an den kurzen Wänden. In der Mitte der vierten Wand befand sich die Tür. Ansonsten gab es nur zwei kleine Nachttische in den hinteren Ecken und einen runden, grauen Teppich, der zusammengerollt unter Amys Bett lag, weil Tobias sonst Probleme mit seinem Rollstuhl bekommen würde.
Seit Sam aufgewacht war, wurden sie mehr und mehr wie Schüler behandelt. Elaine hatte ihnen weiße Kleidung ausgehändigt, die die offizielle Kleidung von Schülern war. Ausgebildete Wächter trugen Grau, und als Anführer von bestimmten Gilden – Untergruppen in der Akademie – trug man schwarze Jacken. Nur die drei Obersten und ihr Sekretär trugen komplett Schwarz.
Allen diesen Kleidungsstücken war ein schwarzes Wappen zu eigen, das auf die Brust genäht war. Als einziges Symbol zog sich ein grauer Streifen über dieses Wappen, wie eine Schärpe. Das Symbol der Wächter, erklärte Samstag, der sich bald kräftig genug fühlte, um laufen zu können.
„Ihr könnt im neuen Jahr mit der Grundausbildung beginnen. Ihr werdet euren Mitschülern einiges voraus haben, denn ihr habt bereits Meister und feste Decknamen. Vermutlich werden sie euch hassen“, sagte Elizabeth.
Doch es kam anders. Denn in ihrer elften Nacht an diesem Ort wurde Amy, nun Kassandra genannt, aus dem Schlaf gerissen. Ihr Herz raste ohne ersichtlichen Grund. Sie lag in völliger Finsternis und konnte sich vor Angst nicht rühren, als sie auch noch Geräusche in der Nähe hörte. Sofort schossen ihr die furchtbarsten Bilder durch den Kopf, doch als das Licht anging, erkannte sie, dass es nur Luca gewesen war. Er und Tobias waren beide wach und wirkten so verstört, wie Amy sich fühlte.
„Was passiert hier?“, flüsterte sie und stand auf. Sie trug nur ein Nachthemd und fühlte sich schutzlos.
Luca griff nach einem Messer, das sie schon vor ein paar Tagen in der obersten Schublade eines Nachttischschränkchens gefunden hatten. Tobias setzte sich auf. Obwohl er mit Abstand der Jüngste war, zeigte er weniger Angst.
Mit einem Knarzen öffnete sich die Tür. Dahinter lag der graue Flur in völliger Schwärze, wie Amy, Luca und Tobi es noch nie erlebt hatten.
Luca trat auf den Gang, während Tobias in den Leih-Rollstuhl kletterte und dann hinter Amy her rollte.
Es war still. Die drei waren völlig alleine.
Luca fasste plötzlich Amys Arm. „Da vorne!“
In einiger Entfernung flackerte ein helles, rotes Licht um eine Ecke. Die drei traten, respektive rollten, auf das Licht zu.
„Ist das ein Feuer?“, fragte Amy flüsternd.
Es war eine Fackel, die an der Wand hing. Und neben dieser Fackel klebte rote Flüssigkeit an der Wand und tropfte auf den Boden.
„Blut!“, rief Tobias aus.
Amy las mit klopfendem Herzen vor: „24.12 Abends, 21 Uhr bis 31.12, 0 Uhr: Ihr seid eingeladen zur dritten Hell-Hopping-Tour in diesem Jahr – dem Weihnachts-Special!“
Sie riss mit einem Schrei die Augen auf und fand sich plötzlich in ihrem Bett wieder. Sie hörte Tobias und Luca ebenfalls schreien, und sah Elaine, die sich über sie beugte und an ihr rüttelte.
„Es ist nur ein Traum, Luca, wach auf!“, erklang Sams Stimme irgendwo.
Verwirrt setzte Amy sich im Bett auf.
„Kassie – alles in Ordnung?“, fragte Elaine. Für einen Moment fühlte Amy sich nicht angesprochen, dann nickte sie.
Auch Luca und Tobias – Mortimer und Blaze – wurden wach. Sam, Elaine und Lizzy standen neben ihren Schülern.
„Was ist passiert?“
„Ich hatte nur einen seltsamen Traum“, sagte Amy und sah dann verwirrt zu Luca und Tobias. Hatten sie das Gleiche geträumt?
„Was hast du geträumt?“, fragte Tobias, die Stimme nur ein Hauchen.
„Wir sind hier aufgewacht“, berichtete Amy.
„Draußen war alles dunkel, bis auf eine Fackel“, sagte Luca tonlos.
Tobias schluckte. „Und die Nachricht?“
Amy tauschte einen Blick mit Luca. Ja, sie hatten das gleiche geträumt.
„Das war kein Traum“, sagte Samstag. „Jemand hat euch nach Phantasma gebracht. Was war die Botschaft?“
Sie erzählten es ihren Meistern.