Trügerisches Schlaraffenland:
Bei dieser Welt hatten Asmodai und Ifrit ganze Arbeit geleistet. Karo wusste aus Gesprächen unter den Halbgeschwistern, dass sie diese Welten wie Computerspiele erschufen. Sie mussten zuerst die grobe Form der Landschaft planen, dann größere und immer kleinere Objekte im Land verteilen und alles mit Texturen zukleistern - wie genau die Planung schließlich in einer fertigen Welt endete, wusste Karo nicht. Sie hatte die Dämonen beispielsweise auch niemals vor einem Computer sitzen sehen, trotzdem mussten die beiden an jedes Ding denken, das die Besucher später zu sehen bekamen.
Dieses Mal hatten die Schöpfer sogar jedem Grashalm eine eigene Textur gegeben, jedem Blatt und jeder Süßigkeit. Noch schlimmer: Alles hatte einen eigenen Geschmack, wie Karo, Kassie und Mo bald feststellten.
Statt Erde bestand der Boden aus Pulverkakao oder Schokoladenstaub, darin verteilt wie Kiesel waren kleine Bonbons der unterschiedlichsten Geschmacksrichtungen. Es gab Flüsse aus Sirup und Kakao und Softdrinks, Bäume, an denen Schokoriegel, Tees, Lutscher oder Wunderbälle wuchsen. Einige wenige Pflanzen, niedrige Gewächse nah am Boden, versteckt zwischen Grashalmen aus grünem Zucker und bunten Blumen, bestanden tückischerweise aus Messer, Löffeln oder Gabeln - wie Disteln, auf die man achtgeben musste. Einige Bäume trugen Tassen oder Teller statt Früchten, doch diese waren die Ausnahme. Viel häufiger stieß man auf einen Strauch Pfefferminzkissen oder Honigbonbons.
Für einen Moment konnte Karo alle Sorgen vergessen und sich ganz der Umgebung hingeben, die einem das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. Kassie und Mo dagegen blieben wachsam und angespannt, obwohl sich beide den Bauch vollschlugen. Sie misstrauten der ruhigen Lage, den weiten Hügeln und Wäldchen im Sonnenschein.
Und Max stapfte grimmig, die Hände in den Taschen vergraben, voran. Er gab ein strenges Tempo vor und kümmerte sich nicht um die drei anderen. Er plante wohl, den Ausgang alleine zu erreichen und dort genau wie Ifrit und Asmodai auf das Ende des Abschnitts zu warten.
"Seht mal!", rief Mo und deutete nach vorne. Kassie und Karo schlossen zu ihm auf und erkannten, dass sich vor ihnen das Zuckergras lichtete, um einer eckigen Fläche Platz zu bieten. Die Fläche war in schwarz und weiß gemustert.
"Ein Schachbrett", erkannte Kassie und ging neugierig darauf zu.
Als sie den Rand erreicht hatte, bewegte sich plötzlich etwas in zwei tiefen Gräben zu beiden Seiten des riesigen Spielfelds. Im nächsten Moment erhoben sich 32 riesige Schachfiguren aus ihrem Versteck im dunklen Gras und nahmen ihre Plätze zu beiden Seiten des Feldes ein.
Kassie stolperte zurück. "Das kenne ich doch aus 'Harry Potter'! Keine zehn Pferde bringen mich auf dieses Feld."
"Das haben die beiden schlecht bedacht", urteilte Mo. "Wir können einfach weiter gehen. Eine richtige Falle ist das hier nicht."
Karo zog an seinem Ärmel. "Lass uns trotzdem schnell gehen, ja?"
Die beiden anderen stimmten zu. Entgegen Karos Befürchtung konnten sie allerdings gehen, ohne dass etwas geschah. Das Kribbeln in ihrem Nacken ließ sich trotzdem lange Zeit nicht abschütteln.
"Hmm, lecker", Kassie deutete auf einen Strauch roter Rosen. "Die sind mit einer Art Glasur überzogen. Köstlich!"
Mo und Karo probierten.
"Roter Zuckerguss", Mo wischte weiteres Rot von seiner Rose und bracht eine weiße Blüte darunter zum Vorschein. "Die Rosen selbst sind aus Marzipan, glaube ich."
"Warte mal, Mo", sagte Kassie.
Mo hielt inne. "Denkst du, sie sind vergiftet?"
"Nein, das nicht. Aber erinnert dich das nicht an etwas? Schon die Teebeutel hier überall stören mich. Welches Kind würde sich Tee in sein Wunschland stellen? Das Schachbrett war auch komisch. Und jetzt weiße Rosen, die rot angemalt wurden?"
Karo sah Kassie nur verständnislos an, doch Mo schien etwas zu dämmern. "Das passt nicht in ein Kinderland - nicht ganz."
Kassie nickte. "Die Rosen sind aus 'Alice im Wunderland'. Der Tee würde passen, das Schachbrett auch."
"Wir sind also in der süßen Version des Wunderlands?", fragte Mo.
Kassie nickte. "Das ist seltsam. Ich hätte die Dämonen anders eingeschätzt ... Mehr Horror, weniger Zucker."
"Dann ist es eine Falle. Zuckerbrot und Peitsche, oder in unserem Fall wohl eher: Zuckerland und Hölle", Mo sah sich so wachsam um, dass es Karo kalt den Rücken herunter lief.
"Wir sollten schnell weiter", schlug Kassie vor. "Ehe die Herzkönigin konnt. Und keine weiteren Naschpausen mehr."
Mo zog sich schuldbewusst einen Finger aus dem Mund, von dem er einen Rest Zuckerguss gelutscht hatte.
Mit schnellen Schritten führte Kassie die Freunde über die Wiese und auf ein Wäldchen zu. Max, der inzwischen einen gewaltigen Vorsprung hatte, war beinahe am Waldrand angekommen. Während die anderen ihm folgten, wurde Max langsamer, dann blieb er stehen.
"Irgendwas stimmt da nicht", murmelte Mo.
Im nächsten Moment machte Max auf dem Absatz Kehrt und rannte plötzlich panisch auf sie zu.