Helena Contarini stand neben ihre Zofe auf der Fondamenta am Canal Grande und sah dem Bootsführer entgegen, der die Gondel geschickt zu ihrem Liegeplatz an der Kanalmauer manövrierte und vertäute. Kaum dass er neben ihr auf die Fondamenta sprang, überfiel sie ihn schon mit ihren Fragen. »Paolo, warst du im Arsenal? War es dir möglich, mit Messèr Vitale zu sprechen?«
»Ja und ja, Madonna.« Er hob in einer bedauernden Geste die Schultern. »Von Messèr Renier gibt es nach wie vor keine Nachrichten. Allerdings habe ich sagen hören, dass in Kürze eine Eurer Galeeren im Hafen erwartet wird. Sie kommt aus Tripoli mit einer Ladung Gewürzwaren an Bord.«
Helena schüttelte enttäuscht den Kopf, forderte ihn aber mit einer knappen Geste auf, fortzufahren.
»Mehr weiß ich nicht, Madonna. Soll ich Euch benachrichtigen lassen, sobald die Galeere den Lido passiert?«
»Danke. Nicht nötig, Paolo. »Ich glaube nicht, dass Reni sich an Bord dieser Galeere befindet. Die Nachricht von seiner Rückkehr wäre dem Schiff um Tage vorausgeeilt, nicht war? Wir hätten längst davon erfahren.«
Paolo zuckte die Schultern. »Das Meer ist launisch, Madonna. Die Nachricht könnte verloren gegangen sein...«
»Dazu kommt, dass mein Bruder schon immer die Nase gerümpft hat über den mächtigen Gestank, der einer Galeere anhaftet«, fuhr Helena fort. »Er sagt, diese Schiffe seien Brutstätten für alle möglichen Krankheiten und sollten von dicht bevölkerten Städten ferngehalten werden.«
»Nun, mit dem Gestank hat er leider recht, Madonna. Diese wird sogar ganz besonders unangenehme Düfte verströmen, denn sie war lange in Gebrauch und ist zudem mit drei Galeotti pro Bank bemannt.«
Die sich alle an Ort und Stelle erleichtern mussten, wenn sie das Bedürfnis überkam, wusste Helena. Jede Bewegung der Ruderpaare war aufeinander abgestimmt und die kleinste Unregelmäßigkeit konnte eine Abweichung vom Kurs bewirken. Kein Kapitän, der etwas auf sich hielt, konnte so etwas dulden. Natürlich erwähnte Helena ihre Gedanken mit keinem Wort. Solches Wissen war unschicklich, ganz und gar für eine Frau nobler Herkunft. Sie hatte ihrem älteren Bruder Gabriele, der das Amt eines Sopracomito begleitete, sehr zusetzen müssen, bis er bereit gewesen war, sie über das Leben an Bord aufzuklären. Hinterher wünschte sie sich beinahe, nicht gefragt zu haben. Mochte der Beruf des Ruderers den Männern auch Ansehen und ein gutes Auskommen bringen - die Freude an den stolzen Galeeren war ihr nach Gabrieles Bericht vergällt.
Helena stieß einen Seufzer aus. »Auch dieses Schiff wird mir meinen Bruder nicht zurückbringen, Paolo. Ich fühle es.«
»Wie Ihr meint, Madonna«, sagte der Bootsführer. »Ich werde dennoch die Augen offen halten.«
Die Glocken der Kirchen ringsum begannen zu läuten, zögernd zunächst, dann immer kräftiger, bis das Geläut wie ein einziger, von allen Seiten kommender, auf - und abschwellender Ton über der Stadt lag. Helena lauschte mit unwillig gerunzelter Stirn. Es war die Stunde der Komplet, des Abendgebets. Einmal mehr hatte sie über der Hoffnung auf eine baldige Heimkehr ihres Bruders die Zeit vergessen und nun würde sie ihren Vater nicht mehr in seinem Kontor antreffen. Dabei hatte sie ihm versprochen, heute die Listen mit den Warenbestellungen abzuschreiben. Florimond Contarini hatte eine beinahe unleserliche Handschrift. Diese für das Oberhaupt einer Compagnia äußerst lästige Tatsache hatte schon häufig zu Missverständnissen geführt. Helena erinnerte sich nur zu gut an das verblüffte Gesicht eines Kunden, der Safran bestellt und eine halbe Schiffsladung Olivenöl bekommen hatte. Seitdem erhob ihr Vater keine Einwände, wenn sie Lieferlisten, Warenbestellungen und Anweisungen an die Gehilfen für ihn abschrieb.
Obendrein brannten ihr schon seit Wochen eine ganze Reihe von Fragen auf der Zunge, die sie ihrem Vater stellen wollte. Wann immer sie bisher auf das unerwartete Verschwinden ihres Bruders zu sprechen gekommen war, hatten ihre Eltern das Thema gewechselt. Für ein junges Mädchen ziemte es sich nicht, zu widersprechen, und so waren ihre Fragen unbeantwortet geblieben. Doch inzwischen hatte sie ihren sechzehnten Namenstag begangen, und fand, es sei an der Zeit, Antworten zu erhalten.
»Lass uns hineingehen«, sagte sie zu ihrer Zofe und wandte sich der schmalen Gasse zu, die zum landseitigen Eingang des Hauses führte. Helena schickte ihre Zofe weiter zur Außentreppe, während sie selbst den Andron, den Wassersaal der Ca´Contarini, betrat. Von diesem gingen zu beiden Seiten Wirtschafts- und Lagerräume ab. Einige der Lagerräume waren mit schweren Schlössern gesichert. Darin lagerten die kostbarsten und teuersten Waren, wie Pfeffer, Muskat oder Gewürznelken. Nur ihr Vater besaß einen Schlüssel zu diesen Räumen, den er an einem Band um den Hals trug. Helena liebte den Duft nach exotischen Gewürzen, der in der Luft hing und für gewöhnlich hielt sie kurz inne, um die vielfältigen Gerüche in vollen Zügen zu genießen. Heute jedoch blieb ihr dazu keine Zeit. Bevor es zu dunkel wurde, wollte sie noch ihre Tintenvorräte überprüfen, neue Schreibfedern bereitlegen und die Warenlisten heraussuchen, die sie kopieren musste.
Helena betrat das Kontor des Hausherrn, einen großen, spärlich möblierten Raum. Schulterhohe Regale säumten die Wände, gefüllt mit den gebundenen Journalen und ungezählten Pergamentrollen, die im Haus eines Kaufmannes anfielen. Hier waren die Fenster breiter und mit Butzenscheiben verglast, durch die das rötliche Abendlicht schimmerte. An einem riesigen Tisch, der einmal in einem byzantinischen Kloster gestanden hatte und der mit Büchern und Schriftstücken vollgestapelt war, pflegte ihr Vater zu arbeiten. Sie selbst bevorzugte ein Schreibpult, das klein und handlich, aber dennoch geräumig genug war, um darin ihre Federn und Tinte aufzubewahren. Die fertig zugeschnittenen Pergamentbögen hingegen wurden neben Dokumenten und alten Abrechnungen in einer großen Truhe gelagert. Zwischen Fässern und Körben hindurch bahnte sie sich einen Weg zur gegenüberliegenden Wand und hob den Deckel der Truhe an. Sie wollte schon nach einem Stapel Bögen greifen, als sie mitten in der Bewegung innehielt.
Etwas stimmte nicht.
Auch wenn das Kontor des Hausherrn auf Außenstehende wie ein einziges großes Durcheinander wirkte, wurde doch in jedem Regalfach und jeder Truhe alles nach einem genauen Ordnungssystem abgelegt, von dem Florimond Contarini niemals abwich. Die Ordnung der Truhe war auf subtile Weise gestört worden.
Unschlüssig schaute Helena einen Moment auf den Inhalt herab, während sie überlegte, was sie tun sollte. Sie wollte nicht, dass einer der Kaufmannsgehilfen für eine Lappalie wie diese bestraft wurde – was unweigerlich geschehen würde, falls ihr Vater von ihrer Entdeckung erfuhr. Mit einem Seufzer lehnte sie den Deckel der Truhe an die Wand und machte sich daran, den Inhalt der einzelnen Fächer neu zu sortieren. Sie tat dies mit höchster Konzentration, aber gleichzeitig dachte sie unablässig darüber nach, wer die Truhe durchsucht haben konnte und worauf die Person aus gewesen war. Die Pergamente waren zwar durcheinander, es schien jedoch nichts zu fehlen. Oder?
Helena erinnerte sich, dass im untersten Fach die Berichte einer missglückten Handelsreise lagen, die ihren Vater vor fünf Jahren beinahe an den Bettelstab gebracht hatte. Sie war zu jung gewesen, um die Sache richtig zu begreifen. Niemand sprach darüber und ihre Fragen hatten ihr nichts eingebracht, außer einer zweitägigen Verbannung in ihre Kammer; eine Strafe, die ihr damals wie heute unverhältnismäßig streng erschien.
Wie so oft, hin - und hergerissen zwischen Unmut und Unverständnis für die überfürsorgliche Verschwiegenheit ihres Vaters, murmelte sie: »Jetzt oder nie.«
Sie hob das Fach mit den alten Dokumenten aus der Truhe und begann, darin herumzukramen. Die Lektüre erwies sich als nicht sonderlich erhellend, bis ihr auf einem der Blätter der Name ihres Bruders ins Auge stach.
Eilig glitt ihr Blick über die Zeilen, in der Hoffnung, endlich etwas über Reniers Verbleib zu erfahren. Doch was sie zu lesen bekam, ließ ihr das Herz bis in den Hals schlagen. Das konnte nicht sein. Mit gleichmäßigen Atemzügen kämpfte sie gegen ihre Panik an. Ihr Bruder, ihr geliebter Reni war kein kaltblütiger Mörder. Niemals. Sie trug die Pergamente zum Fenster, um mehr Licht zu haben, las sie erneut Wort für Wort, bis ihr die Buchstaben vor den Augen verschwammen. Alles passte. Renis plötzliches Verschwinden. Sein Schweigen. Die lange Abwesenheit von Venèzsia –, was ganz und gar untypisch für ihren Bruder war. Er hatte es nie lange auf dem Festland ausgehalten, war während seines Studiums immer wieder zu kurzen Besuchen auf die Insel gekommen oder hatte ihr geschrieben. Doch dann plötzlich – nichts mehr. Er sei auf eine wichtige Handelsreise gegangen, hatte man ihr erzählt und sie hatte es geglaubt, weil es ihr unvorstellbar erschien, dass ihre Eltern sie jemals belogen. Doch genau das war geschehen. Helena wurden die Knie weich und sie sank auf den Stuhl ihres Vaters. Ihre Kehle brannte. Sie starrte auf die Blätter in ihrer Hand, ohne etwas zu sehen. In ihr wogte ein Meer der Traurigkeit, dessen Tiefe sie nicht einmal ansatzweise auszuloten wagte.