Meine Augen sind verklebt und ich habe ein unwohles Gefühl im Bauch, als ich aufwache. Ich kenne dieses Gefühl. Ich habe es immer, wenn ich von damals geträumt habe. Ich schließe die Augen wieder, dann merke ich nicht wie verklebt sie sind. Es ist ein ziemlich beschissenes Gefühl, wenn einen der Körper direkt nach dem Aufwachen daran erinnert, dass man sich mal wieder in den Schlaf geweint hat. Vor mir atmet Mia leise, sie scheint noch zu schlafen. Wahrscheinlich hat sie auch wieder keinen Wecker gestellt. Ich lächle. Ja, auch das ist typisch. Es ist ihr egal, ob sie zu spät kommt.
Mir jedoch nicht, es würde nur noch mehr Stress verursachen. Also öffne ich trotz des Widerstands die Augen und sehe mich um. Im Dunkel des Zimmers kann ich nur schwach ausmachen wie Mia zusammengerollt vor mir liegt. Sie hat die Hände vor ihrem Gesicht auf der Matratze liegen und die Beine angezogen. Ihre langen Haare sind überall verteilt und zerzaust. Ich setze mich auf, woraufhin sie ein unwilliges Geräusch von sich gibt. „Bleib liegen“, murmelt sie ärgerlich und runzelt die Stirn. Ich lache leise und schaue auf meine Armbanduhr. Ich habe mich gestern nicht mehr ausgezogen.
„Würde ich gerne, kann ich aber nicht. Wir müssen jetzt aufstehen, sonst kommen wir zu spät“, ermahne ich sie und stehe auf. Aus einer Schublade hole ich mir frische Unterwäsche, die ich extra für diese Fälle hier aufbewahren darf. Dann gehe ich ins Bad und mache mich soweit fertig. Gerade als ich hinunter gehe, um Frühstück zu machen, schlurft Mia müde und immer noch zerzaust ins Bad. Sie wirft mir einen bösen Blick zu, doch ich grinse nur zurück. Sie ist ein Morgenmuffel, aber auch das liebe ich an ihr.
Ein paar Minuten später sitzen wir angezogen und fertig am Tisch in ihrem Wohnzimmer. Wir haben immer noch kein Wort miteinander gesprochen und das ist auch nicht nötig. Mia gähnt laut und ausgiebig und streckt sich, während ich an meinem Toast knabbere. „Willst du gleich noch hier bleiben oder kommst du mit, wenn ich meine Sachen hole?“, durchbreche ich schließlich doch die Stille. Sie schaut mich nur genervt an, als hätte ich eine rhetorische Frage gestellt. „Natürlich komme ich mit. Auch wenn er zum Glück jetzt nicht da ist.“ Sie weiß nicht einmal, was gestern passiert ist, aber sie weiß, wie mein Vater ist.
Ich lächele traurig darüber, dass sie sich für mich aufregt. Ich habe das längst aufgegeben. Ich habe mich damit abgefunden, eine zeitlang damit weiterzuleben. Irgendwann wird sich etwas ändern und dann wird alles besser. Darauf warte ich. Und das reicht mir. „Woran denkst du schon wieder?“, fragt sie mich mit wütend verzogenem Gesicht. Sie weiß nie, was ich denke. Sie hat keine Ahnung. Darüber grinse ich. „Nichts wichtiges.“ Sie zuckt die Schultern und löffelt ihr Müsli.
Entspannt schaue ich ihr dabei zu. Hier bei ihr kann ich mich immer sicher fühlen. Ich weiß, dass sie mich so akzeptiert wie ich bin. Hier brauche ich mich nicht zu verstellen; brauche nicht über Dinge zu reden, über die ich nicht reden will; brauche nicht über meine Sorgen zu schweigen. Das tue ich zwar trotzdem, doch wenn ich reden wollte, würde Mia mir zuhören. Ohne zu verurteilen oder wütend zu werden.
Kurze Zeit später verlassen wir ihr kleines Haus. Sie schließt ab, ich trage ihre Tasche. Wir machen uns auf den Weg zu meinem Haus. Unwillkürlich habe ich Angst, auch wenn ich weiß, dass er nicht da ist. Voller Angst male ich mir aus, was passieren könnte, falls er doch auf mich wartet. Da nimmt Mia meine Hand fest in ihre. Sie ist angenehm warm, anders als meine vor Furcht eiskalte. Ich seufzte und drücke ihre Hand. „Ist schon okay. Ich habe nur mal wieder zu viel gedacht.“ Sie wirft mir einen zweifelnden, leicht genervten Blick zu, sagt aber nichts.
Mein Vater ist wirklich nicht da und so ist es kein Problem meine Schulsachen zu holen. Danach laufen wir nach draußen zum Bahnhof. Mia zieht mich mit, es ist ein gutes Gefühl. Als könnte ich von Zuhause wegrennen. Als könnte ich all dem entfliehen. Befreit lache ich ein bisschen und Mia lächelt mich über die Schulter an. Außer Atem kommen wir gerade rechtzeitig am Bahnhof an. Und ernten natürlich wieder genervte Blicke. „Ihr seid so bescheuert. Benehmt euch mal wie Erwachsene“, motzt Katrina, als sie an uns vorbei zum Zug geht. Anne neben ihr nickt zustimmend. „Wir sind keine Erwachsenen“, gebe ich genervt zurück. „Und werden es auch nie sein“, grinst Mia. Die beiden rollen nur genervt die Augen und steigen ein.
Gemeinsam mit vielen anderen aus unserer Stufe strömen wir in den Zug. Der Tag verspricht heiß zu werden und die Luft im Inneren des Zuges ist bereits stickig. Mia zwängt sich zielstrebig durch die Menschenmassen und sichert uns einen Platz. Dort öffnet sie sofort das Schiebefenster und die kühle Fahrtluft macht unseren Aufenthalt etwas angenehmer. Danach überlässt sie mir wie immer den Fensterplatz. Sie muss am Gang sitzen, sonst fühlt sie sich eingeschränkt und eingesperrt. Jetzt streckt sie ihre langen Beine auf den Gang, was ihr kritische Blicke von einigen anderen einfängt. Doch so etwas kümmert sie nicht. Sie hat es nicht nötig auf das zu hören, was andere sagen.
Ich wende den Blick aus dem Fenster. Dort draußen ist die Welt. Diese langweilig gewordene, eintönige Welt. Egal wohin ich schaue, überall derselbe Anblick. Grüne Wiesen und Wälder, nur unterbrochen durch die Felder der kleinen Siedlungen und die unzähligen blauen Seen und Flüsse. Die Schienen des Zuges verlaufen scheinbar mitten durch die Luft, durch den leeren Raum der den Boden von unserer Lichtquelle trennt. Die Züge sind unsere schnellste Infrastruktur. Natürlich kann man auch zu Fuß gehen oder Fahrrad fahren, aber das dauert länger und ist anstrengend. Außerdem haben weder Mia noch ich ein eigenes Fahrrad. Dafür hat jede kleine Siedlung einen eigenen Bahnhof, so kommt man von überall überallhin.
Ich spüre Mias Schulter an meiner. Sie ist der Anker, der mich in dieser Welt hält. Denn Mia ist anders. Ihr ist egal, was andere sagen. Ihr ist es egal, wenn sie mit ihrer Art andere nervt. Regeln, deren Sinn sie nicht versteht oder die ihr zuwider sind, missachtet sie ohne einen weiteren Gednaken. Die anderen halten sie deswegen für verrückt oder nennen sie dumm. Denn in Wirklichkeit ist Mia alles andere als dumm. Eigentlich ist die ziemlich intelligent und könnte es wahrscheinlich weit bringen, wenn sie sich nur an die Regeln der Gesellschaft hielte. Doch auch das ist ihr egal.
Wir kennen uns eigentlich noch gar nicht so lange. Sie ist erst vor etwa einem Jahr auf unsere Schule gewechselt. Grinsend erinnere ich mich daran wie wir praktisch Freundinnen wurden. Sie war aufgrund ihres Verhaltens natürlich schon nach wenigen Tagen als Außenseiterin abgestempelt worden. Irgendwie hatte sie dann wohl Wind davon bekommen, dass ich ebenfalls Außenseiterin war. Naja, das ist sicher nicht schwer zu erkennen gewesen... Auf jeden Fall setzte sie sich eines Tages in der Pause plötzlich vor meinen Tisch und begann mich anzustarren. Ganz still, ohne ein Wort zu sagen, saß sie eine ganze Pause lang vor meinem Tisch und starrte mich an. Ich schaute stumm zurück, ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Als es klingelte, grinste sie und sagte: „Ich mag dich. Ich heiße Mia, und du?“ „Ich nicht“, entgegnete ich, woraufhin sie so laut lachen musste, dass sich alle zu uns umdrehten. Als ich in ihr Lachen einstimmte, machten die anderen große Augen, da ich normalerweise nie lachte. „Du bist echt genial! Nun denn, 'ich nicht', ab heute sind wir Freunde“, immer noch lachend hielt sie mir die Hand hin. „Ich bin Saya“, nannte ich ihr dann doch meinen Namen und schlug ein.
Das war das erste Mal, das wir miteinander gesprochen hatten und seit diesem Tag waren wir unzertrennlich. Ihre Schulter verlässt meine erst, als sie aufsteht. Ich schaue nach rechts und bemerke, dass der Zug gleich hält. Mia ist wie immer etwas eher aufgestanden, um mir zu demonstrieren wie sie den Stoß beim Abbremsen des Zuges ausbalancieren kann. Am Anfang ist sie dabei oft hingefallen, aber mittlerweile schafft sie es eigentlich jedes Mal. Heute jedoch stolpert sie über ihre offenen Schnürsenkel und fällt der Länge nach hin. Während die anderen genervt die Köpfe schütteln, seufzen und darauf warten, dass sie den Weg frei macht, müssen wir erst einmal lachen.
Mia steht auf und hält mir in einer ihrer großen Gesten die Hand hin. „Wenn ich bitten dürfte?“ Immer noch lachend ergreife ich ihre Hand und stehe auf. Hand in Hand laufen wir vor allen anderen aus dem Zug und halten erst an, als wir den Klassenraum erreichen. Die großen Ferien stehen bevor, die Stimmung ist gut. „Ach, unser Beklopptenpärchen stürmt mal wieder Händchenhaltend die Schule. Wie alt seid ihr? Fünf? Und ihr wollt nächstes Jahr die Schule beenden...“ Katrinas Stimme kommt mit jedem Schritt näher und Mia tritt vor mich. „Wir wollen nicht, wir werden. Hast du kein eigenes Leben, um das du dich kümmern könntest oder warum kommentierst du unseres?“, gibt Mia zurück. Bei jeder anderen Person würde ich lachen, aber bei Katrina macht es mich nur traurig. „Spiel dich nicht so auf, im Gegensatz zu euch beiden habe ich ein Leben. Und eines mit blendenden Aussichten noch dazu“, antwortet sie nur hochnäsig und verzieht sich mit einem letzten abfälligen Blick, der nur an mich gerichtet ist, auf ihren Platz.
„Mach dir nichts draus. Katrina ist halt schon sehr erwachsen...“, spottet Mia und kichert leise. So etwas kann sie nicht aus der Fassung bringen. Mia ist ein unerschütterlicher Fels. Ein Fels, an den ich mich klammere, um nicht wieder im kalten Wasser der Verachtung der anderen unterzugehen. Ich lächele schwach. Sie trifft mit ihren Worten den Nagel auf den Kopf und damit genau den Punkt, der mir so weh tut. Ja, Katrina ist erwachsen geworden. Obwohl sie genau wie ich vor sieben Jahren geschworen hatte, genau das niemals zu werden. Obwohl wir versprochen hatten, nie unsere Träume zu verlieren. Doch außer mir schien sich niemand mehr zu erinnern...
„Worüber denkst du schon wieder nach?“, fragt Mia, ich blicke auf und schaue in ihre nur wenige Zentimeter entfernten Augen. „Ich weiß wirklich nie, was in deinem Kopf so vor sich geht...“, murmelt sie, während sie sich aufsetzt und etwas Platz zwischen uns bringt. „Ich dachte nur daran wie Recht du damit hast. Dass Katrina erwachsen ist...“, erkläre ich lächelnd. Sie schaut mich zweifelnd und ein wenig schmollend an. „Findest du das gut?“ Ich lache. Nein, das ist ein weiterer Grund, warum ich Mia so mag, sie weiß wirklich nicht im geringsten, was ich denke. „Nie im Leben“, grinse ich.
„Auseinander ihr zwei oder ihr setzt eure Unterhaltung oder was auch immer auf dem Flur fort“, werden wir von Frau Martin, unserer Klassenlehrerin unterbrochen. „Tse... Langweilig wie eh und je...“, murmelt Mia in hörbarer Lautstärke. „Mia Kalienka, raus“, antwortet Frau Martin ohne sich umzudrehen. Ich seufze und schaue Mia mit einem halbverzweifelten Lächeln zu wie sie grinsend den Raum verlässt. Sie hat wohl wieder einen schlechten Tag... Sie lässt die Tür offen stehen und sehnsüchtig stelle ich mir vor, wie ich ihr nach draußen folge. Dann jedoch lässt Frau Martin Katrina die Tür schließen und beginnt mit dem Unterricht.
Zuerst hält sie ihren beinahe alltäglichen Vortrag darüber wie wichtig unser letztes Schuljahr werden wird und dass wir in den Ferien am besten schon mal alles wiederholen sollten und dass es absolut wichtig sei, in den letzten Prüfungen gut abzuschneiden. Auch wenn in ihren Augen die an uns gestellten Anforderungen sowieso zu niedrig sind und selbst ein guter Abschluss gar nichts mehr bedeutet, da man heutzutage nur durch so etwas nicht mehr hervorstechen kann.
Ich versuche, die bei diesen Worten in mir aufsteigende Panik zu unterdrücken und starre aus dem Fenster. Auf dem Schulhof entdecke ich Mia, die von unserer Bank unter dem Baum zu mir hochschaut. Als sie meinen gequälten Gesichtsausdruck bemerkt, schenkt sie mir ein Lächeln und formt mit den Fingern ein Herz. Sie ist bei mir. Und sie zeigt mir, dass es auch noch eine Alternative zu dieser Realität gibt. Sie ist immer für mich da, auch wenn es ihr selbst nicht gut geht. Ich lächele ihr zu und mache mich dann daran, diesen Schultag zu überstehen.
Den Nachmittag verbringe ich mit Mia in der Stadt, doch mir graut die ganze Zeit vor dem Abend. Wenn ich wieder nach Hause muss. Wenn ich ihm wieder begegnen muss. „Hey, jetzt versuch doch einmal, nicht daran zu denken. Ich versteh sowieso nicht, warum du immer wieder dahin zurück gehst. Du könntest einfach bei mir bleiben. Das wäre dem doch egal...“, mault Mia mich an und nimmt dann einen Löffel von ihrem Eis. Ich antworte nicht. Ich schaue aus dem Fenster und beobachte die Leute, die vorbeiziehen, um nicht denken zu müssen. Eine Fremde zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich habe sie noch nie gesehen, das ist ungewöhnlich. Sie scheint meinen Blick zu bemerken und lächelt mich an. Dabei fällt mir auf, dass ihr eines Auge braun und das andere blau ist. Eine lange Narbe zieht sich von ihrer Stirn bis auf ihre Wange.
„Seltsam...“, murmelt Mia, die sich neben mir über den Tisch gebeugt hat. „Ich habe noch nie jemanden mit so einer Narbe gesehen...“ „Oder mit solchen Augen“, fügte ich hinzu. „Sie hat sogar gelächelt...“, sagte Mia beeindruckt. „Irgendwie habe ich ein unwohles Gefühl bei ihr...“, murmelte ich. „Geht mir genauso“, ihr Tonfall ist ungewöhnlich ernst und so schaue ich sie erstaunt an, doch sie bemerkt mich gar nicht. Ihre Augen sind verengt und sie schaut der Fremden beinahe hasserfüllt hinterher.
Abends warte ich wie immer Zuhause auf meinen Vater. Die Lichter im Erdgeschoss sind an, ich habe Brötchen besorgt und warte im Wohnzimmer vor dem Fernseher, wie es von mir erwartet wird. Mein Vater kommt nach Hause, macht sich sein Abendessen und setzt sich dann stumm neben mich. Wir sprechen nicht miteinander. Er zeigt mir gegenüber zwar keine Aggressionen mehr, aber es gibt auch keine Entschuldigung. Die hat es nie gegeben. Nicht bei meiner Mutter, nicht bei mir. Ich weiß nicht, ob er sich je für etwas entschuldigt hat... Bei mir würde er das nie tun. Nein, er geht einfach zu Tagesordnung über und tut so, als sei nichts geschehen.
Einsam und traurig liege ich auf dem Bett und wünsche mich fort. Zu Mia... oder zu Jira, vor 10 Jahren. Sie sind außer meiner Mutter die einzigen, die mich je akzeptiert haben... Ich möchte diesem Ort entfliehen. Ich will zurück in die Welt meiner Kindheit. Doch ich weiß nicht, ob ich diese jemals wiedersehen werde. Oder ob sie überhaupt noch existiert...
___________________________________________________________________
Nächstes Kapitel:
4: Rückblick II - Jira