Velaa Luminor ist Misas Mutter. Ich erhasche nur einen kurzen Blick auf eine hochgewachsene, schlanke Frau mit strengem Dutt, bevor Misa mich auf dem Wohnzimmer in einen Nebenraum scheucht – ihr Schlafzimmer.
„Bitte mach keinen Lärm, Wolf!“, flüstert sie. Ich sage nichts und bedeute damit mein Einverständnis. Misa hat mir anvertraut, dass ihre Mutter nicht grade begeistert über Cereceri-Besuch sein wird. Sie ist Politikerin im Wahlkampf und deshalb zurzeit sehr reizbar. Ich habe freundlich genickt und nicht nachgefragt, was eine ››Politikerin‹‹ ist und was für ein Sport dieser Wahlkampf sein könnte. Ich habe nur verstanden, dass Misas Mutter mich vielleicht besser nicht sofort entdecken sollte. Misa und Marc wollen ihr meine Anwesenheit schonend beibringen. Ich selbst war dafür, noch vor Velaas Auftauchen zu verschwinden. Aber der Regen hat sich nochmals verstärkt und die Zeit verging wie im Flug. Jetzt ist es zu spät.
Misa schließt die Tür. Ich kann Marc sehen, der sie dabei mit gerunzelter Stirn beobachtet. Schon werden beide von Velaa mit freundlicher Stimme begrüßt. Beide antworten. Misas Stimme zittert leicht, sie ist nervös. Marc klingt freundlich.
Ich lege mich auf den Bauch und stelle die Ohren auf. Marc begrüßt seine Frau anscheinend mit Wangenküsschen. Misas Kleid raschelt.
„Schatz? Deine Tochter hat dir was zu sagen.“, erklärt Marc. Ich kann auch durch die Tür hören, wie Misa schluckt. Ich mache es ihr auf dieser Seite der Tür nach.
„Ja?“, fragt Velaa. Ihre Stimme ist scharf und hell. Es ist eine Stimme für offizielle Anlässe. Ich springe auf und laufe durch das Zimmer.
„Ähm. Ja. Ich muss dir was sagen, Mum.“, beginnt Misa: „Ich habe heute jemanden...getroffen.“
Obwohl ich Misa nur einen Tag kenne, weiß ich auch ohne sie zu sehen, dass sie die Finger in einander verschränkt hat, die Arme streckt und dabei auf den Boden sieht. Eventuell beißt sie sich sogar auf die Unterlippe.
„Es war draußen... auf der Straße...“, erzählt Misa langsam. „Er ist über die Felsen geklettert.“ Ihre Stimme wird plötzlich sehr leise, dass selbst ich Schwierigkeiten habe, sie noch zu hören.
„Ein Cereceri also.“, sagt Misas Mutter mit unterkühlter Stimme. Ich schlucke und weiche in Richtung Fenster zurück.
„Ähm. Genau.“, sagt Misa. Ich wünschte, ich könnte in irgendeine Richtung abhauen. Ob ich durchs Fenster springen könnte...?
„Und er ist grade in deinem Zimmer, habe ich Recht?“
Verdammt, Velaa ist gut. Der Schock fährt mir in die Glieder und meine Haare sträuben sich. Mein Herzschlag ist ohrenbetäubend laut.
Ich weiche zurück. Etwas fällt mit einem Knall neben mich. Ich mache einen Satz in die Luft. Als ich lande, durchzuckt ein Schmerz meine Pfote. Scherben liegen auf dem Teppich. Ich habe eine große, blau-weiße Vase umgeworfen, die in einer Ecke des Raumes stand. Ich spüre Aufmerksamkeit durch die Tür zum Wohnzimmer sickern wie dickflüssigen Schlamm.
„Ich sehe nach!“, sagt Marc. Ich starre auf das Chaos. Was mache ich jetzt?!
Oh Shit. Schon geht die Tür auf. Ich duckte mich fluchtbereit auf den Boden. Hinter dem Holz taucht das breite Gesicht von Marc Luminor auf.
Ich ziehe den Schwanz ein. Warum habe ich die verdammte Vase nicht gesehen? Wer platziert solche Dinge auch auf Mini-Säulen?
Plötzlich steht Marc vor mir. Groß und breit ragt er in die Höhe. Ich ducke mich noch ein bisschen tiefer. Marc macht einen Schritt nach vorne. Ich knurre.
„Hey, hey, hey. Es ist alles gut!“ Marc geht wieder zurück und hebt beide Hände. Meine Augen huschen von links nach rechts nach links nach rechts. Nein, er hat keine Waffen.
Vorsichtig mache ich einen Schritt zurück. Meine linke Vorderpfote schmerzt und ich knicke mit dem Bein ein, um sie nicht zu belasten.
"Es ist gut. Beruhig dich.", sagt Marc. Ich höre Bewegung hinter ihm.
"Was ist los?", ertönt Velaas hohe Stimme.
Marc hält die Tür fest, sodass sie nicht herein kann: "Es ist alles in Ordnung. Ich glaube, wir müssen ihn nur kurz verarzten."
Ich kann hören, wie Velaa die Augen verdreht. „Aber dann kommt er mir aus den Augen!“, schimpft sie. Ich kauere mich auf den flauschigen Teppich. „Was hast du dir dabei gedacht, Misa?“ Schritte kündigen an, dass sich Misa und Velaa entfernen. Sie gehen eine Treppe hoch, dann kann ich sie nicht mehr hören. Velaa schimpft die ganze Zeit.
Marc nickt und drückt die Tür sanft zu. Er hockt sich vor mich.
„Hey... Wolf.“, sagt er zögerlich. Aber seine Stimme klingt freundlich. „Es ist alles gut. ich tue dir
nichts.“
Langsam entspanne ich mich. Schließlich bin ich ruhig genug, um meine menschliche Form anzunehmen. Ich hocke auf den Fersen, beide Hände vor der Brust, die linke mit der rechten umklammert. Eine Scherbe aus der zerbrochenen Vase steckt in meiner Handfläche. Mein Blut versaut den ganzen Teppich.
„Zeig mal deine Hand her.“, befiehlt Marc mir sanft. Ich schlucke, dann strecke ich gehorsam die Hand aus. Marc greift sie mit beiden Händen. Es sind sehr weiche Hände. Marc streicht umsichtig über meine Haut und berührt dabei kurz die Scherbe.
Ich ziehe scharf die Luft durch die Zähne ein, als weitere Schmerzen aufflammen.
„Ich werde das verbinden müssen.“, Marc sieht mich mit seinen beruhigend braunen Augen an. „Ich
mache dir einen Verband darum, und du machst die Sauerei hier weg. Dann bringen wir dich wieder
nach Hause.“
Ich nicke, noch unfähig zu sprechen. Marc steht auf und ich folge ihm unsicher. Meine Beine zittern. Das waren zwei Schocks zu viel für Heute! Und dann bin ich auch noch so lange hier geblieben!
Auf unsicheren Beinen wanke ich hinter Marc aus Misas Zimmer. Das Wohnzimmer ist leer.
Marc führt mich in den Gang Richtung Tür. Jetzt, wo die Sonne untergegangen ist, ist der Flur düster und grau. Es geht wieder in den kleinen, grün-weißen Raum.
Marc hantiert in der Schublade eines Schreibtisches und zieht dann weißen Verband, Salbe und Desinfektionsmittel hervor.
„Setz dich.“, fordert er mich auf.
„Jawohl.“, sage ich schüchtern und setze mich auf die Liege. Ich gebe mir Mühe, nicht zu viel zu berühren. Meine Hände sind immer noch voller Staub und jetzt Blut.
Marc wendet sich mit belustigt blitzenden Augen um: „››Jawohl‹‹? Wo hast du das denn aufgeschnappt?“
„Aus einem Theaterstück...Sir.“, antworte ich wahrheitsgemäß.
„Theater? Ihr habt Theater da unten?“
Mit ››Da unten‹‹ scheint er die Ruinen zu meinen. Ich schüttele den Kopf. „Nur, wenn Markt ist. Dann kommen manchmal Schauspieler vorbei.“ Der Markt findet zwar eher in LaKitan statt, aber ein paar Händler, Gaukler und Schauspieler besuchen auch die Ruinen. Nicht, dass wir viel Geld hätten, aber wir nehmen Waren an, die sich auf den Klippen nicht verkaufen.
„Aber sicherlich nicht die Besten.“, meint Marc.
Ich bringe ein schiefes Lächeln zustande. Marc schafft es, mich mit wenigen Sätzen zu beruhigen. „Ich denke mal nicht. Ich habe ja keinen Vergleich.“
„Das stimmt auch wieder.“, sagt Marc nachdenklich und träufelt Desinfektionsmittel auf einen kleinen weißen Watteball. „Still halten.“
Ich rümpfe die Nase, zucke aber kein bisschen zusammen, als das Mittel brennt. Marc sieht ein bisschen beeindruckt aus.
Mit einem Tuch tupft Marc das Blut ab. „Richtige Schauspieler lassen das Stück lebendig werden. Sie tauchen so sehr in ihrer Rolle ab, dass man den Menschen dahinter nicht mehr erkennt.“, fährt er mit unserem Gespräch fort.
Ich schlucke. Echt jetzt? Wie soll ich mich denn mit einem der Reichen über Theater unterhalten?
„Das habe ich noch nie gesehen.“, gestehe ich. „Wir bekommen wohl wirklich die schlechten Schauspieler.
„Nur wenige sind so gut. Das ist so etwas wie... ein Ideal. Ich habe nur selten gesehen, dass es erreicht wurde.“
Ich nicke, weil mir sonst nichts einfällt.
„Aber ››jawohl‹‹ ist veraltet. Du brauchst nicht so höflich zu sein.“, kommt Marc auf meine Wortwahl zurück.
„Jawww-- okay.“, sage ich.
Marc nickt. Er reibt eine kühle Salbe auf meine Hand. Ich schnuppere neugierig.
„Arnica?“, frage ich.
Marc sieht auf: „Das ist Arnicasalbe, ja.“ Er hält mir die Tube hin, damit ich die Buchstaben lesen soll. Ich sehe ihm hilflos in die Augen.
Marc erkennt meine Verlegenheit und legt die Tube wieder weg. Schweigend umwickelt er meine Hand mit dem Verband. Als die Pause unangenehm lang wird, nimmt Marc das alte Thema wieder auf: „Warum bist du ins Theater gegangen? Für mich war es immer eine lästige gesellschaftliche Pflicht.“
Ich zucke mit den Schultern: „Es war...anders.“ Marc schweigt und wartet darauf, dass ich mehr sage. „Es war aufregend. Eine vollkommen neue Welt. Ich muss ehrlich sagen, dass ich kaum etwas von der Handlung behalten habe.“
„Das habe ich auch nie.“, wirft Marc lächelnd ein.
„Aber ich konnte mich an fremde Orte träumen. Fast, als wäre ich verreist.“, ich schweige. Mann, ist das peinlich! Was muss Marc nur von mir denken?
„Hast du den ››Teufel von Tannheim‹‹ gesehen?“, fragt Marc.
Ich denke kurz nach, dann nicke ich: „Das, mit den beiden Ärzten, die ein verfluchtes Dorf heilen wollen?“
Marc nickt. „Das war das einzige Theaterstück, das mir gefallen hat.“ Er deutet in dem kleinen Zimmer umher: „Es ging um Ärzte. Auch, wenn es traurig endete.“
Ich lege den Kopf schief. „Er konnte das Dorf doch retten - wie hieß der Arzt noch gleich? Theo? - er hat das Dorf befreit.“
„Aber er ist gestorben.“, wirft Marc ein.
Ich nicke: „Er ist gestorben, aber er konnte die beschützen, die er liebte. Das ist viel wert...denke ich.“
Plötzlich herrscht Stille. Marc sieht mich an. Ich bewege testweise meine verbundene Hand.
Marc räuspert sich: „Du solltest die Hand eine Zeitlang schonen. Am besten, du ... verwandelst dich auch nicht.“
„Okay.“ Ich glaube nicht, dass ich die Bedingung einhalten könnte. Aber das sage ich nicht.
„Gut. Dann... Gehen wir.“
Marc öffnet die Tür. Ich springe von der Liege und folge ihm. Die Hand pocht leicht. Ebenso mein linkes Ohr. Marc bringt mich zu einem versteckten Wandschrank, aus dem ich Besen und Schaufel bekomme, um die Scherben in Misas Zimmer zu entfernen.
„Und das Blut?“, frage ich peinlich berührt.
„Darum kümmere ich mich schon.“, winkt Marc ab. Ich gehe mit dem Hausvater zurück zu Misas Zimmer. Marc lässt mich in den Raum und geht wieder, bevor ich noch etwas sagen kann. Schweigend mache ich mich daran, trotz der Schmerzen in meiner Hand die Scherben aufzufegen.
Ob die Vase wohl teuer war? Vermutlich hat sie mehr Geld gekostet, als in den ganzen Ruinen zur Verfügung steht! Und ich habe sie zerbrochen. Hoffentlich verlangt niemand eine Entschädigung von mir!
Laute Stimmen unterbrechen nach einer Weile meine Gedanken.
„Das ist unverantwortlich von dir! Du setzt ihr ja noch diese ganzen Flausen in den Kopf!“ Das ist Velaa, die da schreit. Marcs ruhige Stimme antwortet: „Es wäre ja nicht für lange. Nur, bis es verheilt ist.“ Velaa schnaubt. Sie klingt zweifelnd.
„Du willst ihr doch nicht alles verbieten, oder? Und ist das nicht genau das, wofür du gewählt werden willst? Mehr Offenheit gegenüber Cereceri?“
Selbst durch die Tür hinweg höre ich, wie Velaas Schultern ein Stück absacken. „Du hast ja Recht, Marc. Es war nur so... überraschend. Vielleicht...vielleicht für eine Woche.“ Ich runzele die Stirn. Am liebsten würde ich weghören. Aber ich kann nicht, ihre Stimmen sind schon zu nah. „Und ja. Es ist vielleicht sogar besser für meinen Wahlkampf.“
Mit einem erschöpften Seufzer geht sie durch eine Tür und verschwindet außer Hörweite. Marc ruft nach Misa und geht die Treppe wieder hinauf.
Ich fege schnell die letzten Scherben zusammen und trage die Schaufel vorsichtig in den Raum nebenan. Nach kurzem Suchen entdecke ich einen Mülleimer, der sich als Luke in der Wand tarnt und entfernte die Scherben.
Schaufel und Besen lege ich auf den Tisch. Bevor ich mich leise nach Draußen schleichen kann, kommen schnelle Schritte die Treppe herunter. Ich zucke zusammen und bin kurz davor, mich wieder zu verwandeln. Doch es ist nur Misa. Sie strahlt über das ganze Gesicht, fliegt auf mich zu und wenig später bin ich in einer rosa Umarmung gefangen. Misa lacht: „Hör dir das an! Du darfst bleiben, Wolf!“
Ich bin starr vor Schreck. Erst, als Misa mich loslässt, kapiere ich, was sie grade gesagt hat.
„Ich - ich darf bleiben?“
„Ja, für ein paar Wochen. Vielleicht sogar länger! Ist das nicht schön?“, Misa hüpft durch den Raum und klatscht in die Hände.
„Ich - aber warum?“
„Oh, wer weiß? Vielleicht mag Vater deine Ideen zur Umgestaltung der Inneneinrichtung?“, Misa deutet lachend auf den Mülleimer, in dem die Scherben liegen. Ich zucke zusammen. „Also, eigentlich will er nur kontrollieren, dass deine Hand richtig heilt. Er nimmt seinen Beruf sehr ernst.“
Ich bin ein bisschen erleichtert, dass ich einfach in das Schema ››Patient‹‹ gerutscht bin. Vorsichtig atme ich aus. Ich kann hier bleiben. Mir wird ein wenig schwindelig. Ich bleibe in Aitlyn-LaKitan. Meine Mutter wird mir den Kopf abreißen, wenn ich zurückkomme!
Misa nimmt mich am Arm und zieht mich die Treppe hinauf. „Als erstes zeige ich dir das ganze Haus!“