Alle Kinder haben Träume, nicht wahr? Sie wollen irgendetwas werden. Sie wollen irgendjemand werden. Ich wollte das nie. Ich dachte immer alles wäre in Ordnung wie es war. Ich dachte, ich könnte ewig so weiterleben. Und dass sich das eines Tages schon von allein ändern würde. Dass auch ich eines Tages vielleicht einen Traum finden würde. Doch ich fand keinen.
Alle Kinder haben Träume, nicht wahr? Ja, alle Kinder haben Träume. Und sie reden darüber, denn sie glauben daran. Sie glauben noch, dass sie alle ihre Träume erfüllen können. Ich habe das nie verstanden. Aber ich habe es bewundert. Da war ein ganz besonderes Mädchen in meiner Klasse, mit einem großen Traum. Einem unmöglichen, unwirklichen Kindertraum. Doch sie verteidigte diesen Traum gegen alle, die ihr sagten, es sei unmöglich. Ich konnte ihr dabei nicht helfen. Ich konnte sie und ihren Traum nicht verteidigen. Ich konnte sie nur von weitem dabei beobachten.
Denn wie soll sich jemand ohne eigene Träume in die anderer einmischen?
Als ich die Augen öffnete, sah ich blau. Ein durchdringendes, helles, endloses blau. Verwundert blinzelte ich, doch das blau blieb. Vereinzelt wehten weiße Dinger, die wie riesige Wattebäuschchen aussahen durch das blau. Das waren Wolken. Wolken vor einem blauen Himmel. Sprach- und fassungslos starrte ich nach oben.
Um mich herum setzten die anderen sich nach und nach auf und schauten verängstigt um sich. „Wo sind wir?“ „Was ist das?“ „Was ist passiert?“, waren nur einige der Fragen, die sie nun stellten. Ich blendete das aus. Ich war viel zu fasziniert von dem endlosen blau über mir. Am Rande meines Sichtfelds bemerkte ich Baumkronen, wir waren also scheinbar immer noch irgendwo in einem Wald... Plötzlich wurde der blaue Himmel durch ein anderes blau ersetzt. Mit genervt verengten Augen schaute Jira mich an. „Steh schon auf, Saya. Ich weiß, dass du dich bestimmt total freust, aber für die anderen ist das nicht so witzig“, ermahnte sie mich und streckte mir die Hand hin. Es war eine winzige, zögerliche, widerstrebende Geste und sie ließ mich sofort los, nachdem ich aufgestanden war.
Die anderen saßen in kleinen Gruppen zusammen und machten einen zutiefst verängstigten Eindruck... Wahrscheinlich normal, angesichts der Tatsache, dass wir uns offensichtlich nicht mehr in unserer eigenen Welt befanden. Da waren Jira und ich schon die Ausnahme... Sie schien komischerweise auch keine Angst zu haben, andererseits wirkte sie aber auch nicht allzu glücklich darüber. Ich war eigentlich einfach nur fasziniert... Seufzend baute ich mich vor den anderen auf. Ein paar Mädchen weinten und die Jungs waren ungewöhnlich still.
Ich hatte mich zwar so toll in die Mitte gestellt, doch ich hatte überhaupt keine Ahnung, was ich sagen sollte... Super. „Leute...“, fing ich unsicher an und erntete sofort hasserfüllte Blicke. „Das ist alles deine Schuld!“, schrie Katrina. „Du hast immer von dieser Welt geredet! Es ist deine Schuld, dass wir hier sind! Bring uns gefälligst zurück...“ Sie begann zu schluchzen. Den bösen Blicken der anderen nach zu urteilen, dachten sie genauso darüber. Ich biss mir auf die Lippe, das war ja toll nach hinten losgegangen. „Sei nicht so zu ihr...“, meldete sich da Grit, die vernünftigste von den dreien, zu Wort. „Sie hat bestimmt nichts damit zu tun. Oder glaubst du, sie hat übernatürliche Kräfte?“, versuchte sie sogar die ganze Situation ein bisschen aufzulockern. „Natürlich nicht...“, gab Katrina zerknirscht zu.
„Also weiß keiner, was passiert ist?“, fragte Kim. Auch er hatte Angst und seine Stimme zitterte. Alle blickten einander stumm an und schüttelten die Köpfe. „Und keiner weiß, wo wir sind...“, sagte Felis. „Oder wie wir zurückkommen...“, fügte Thommy hinzu und brach in Tränen aus. Ich fühlte mich schlecht, weil ich mich so gefreut hatte... Sie hatten alle recht. Wir hatten keine Ahnung, was passiert war oder wie wir zurück nach Hause kommen sollten... Panik traf mich wie ein Schlag in die Magengrube. Was, wenn wir nie wieder zurückkamen?!
Jira wirkte etwas genervt von der ganzen Szene und sagte leise: „Lasst uns erst einmal abwarten. Keiner weiß, was das hier ausgelöst hat, oder? Vielleicht tauchen wir auf dieselbe Art und Weise in ein paar Minuten oder Stunden wieder Zuhause auf...“ Da keiner eine bessere Idee hatte, schienen alle erst einmal ihre These anzunehmen. So bildeten sich wieder die Grüppchen, in denen alle zusammensaßen und leise vor sich hin warteten. Jira ging alleine an den Rand der Lichtung, auf der wir uns befanden. Niemand kannte sie näher oder war mit ihr befreundet gewesen und auch ich kannte sie erst seit heute... Irgendwie war sie seltsam. Ihr schien nichts daran zu liegen, nach Hause zurück zu kommen.
Da ich auch zu keiner der anderen Gruppen dazugehörte, ging ich zu ihr herüber und setzte mich neben ihr auf den Boden. „Was guckst du dir an?“, fragte ich vorsichtig, da sie scheinbar sinnlos in den Wald starrte. „Nichts besonderes. Ich glaube, dahinten ist Wasser. Ich höre ein leises Plätschern...“, antwortete sie und ich strengte mich an, in dieselbe Richtung zu lauschen. „Das ist gut... Dann haben wir wenigstens was zu trinken...“, murmelte ich beruhigt. Falls wir länger hier bleiben mussten, mussten wir aufpassen, dass wir uns versorgten. Gut, dass ich all die Abenteuergeschichten gelesen hatte...
„Wollen wir mal danach gucken gehen?“, fragte Jira jetzt und lächelte fröhlich. „Wäre bestimmt gut.“ Wir sprangen auf und wollten schon gehen, da fuhr Katrina uns an. „Was glaubt ihr, macht ihr da?!“ Genervt fuhr ich herum. „Wir wollen nach Wasser suchen. Jira glaubt, sie hat dahinten was gehört.“ Sofort wurde Katrinas Blick weicher und sogar ein bisschen erleichtert. „Okay, gut. Aber sagt nächstes mal bescheid, wenn ihr von der Lichtung gehen wollt. Wir sollten uns nicht auch noch trennen und womöglich verlaufen...“, erklärte sie entschuldigend. Überrascht nickte ich und lächelte sie an. „Tut mir leid. Nächstes Mal denken wir dran.“ „Seid vorsichtig“, rief Anne uns noch hinterher und dann versanken wir in der Stille des Waldes.
Während wir gingen, schaute ich immer wieder nach oben. Irgendwie wirkte das Licht aus diesem Himmel gar nicht so anders als das in unserer Welt. Die Schatten, die es zwischen den Blättern hindurch warf, waren zumindest dieselben... Doch wenn ich hochschaute, war da der blaue Himmel, der mich daran erinnerte, dass ich wirklich hier war. Jira ging schweigend vor mir her, schien sich jedoch zu freuen. Sobald wir von den anderen weg gewesen waren, hatte sich ein breites Lächeln auf ihr Gesicht geschlichen und war dort geblieben.
„Freust du dich?“, fragte ich verwundert. Sie hatte bisher nicht sehr begeistert gewirkt. In einer unerwarteten Geste, schaute sie über ihre Schulter und grinste breit und ausgelassen. „Ganz ehrlich? Ja. Ziemlich sogar.“ Das hätte ich nicht erwartet. Ich meine, ja, sie schien unbedingt mal von ihren Eltern weg zu wollen, aber ich hätte sie nicht für so mutig gehalten. „Wirklich? Das hätte ich jetzt nicht erwartet“, grinste ich etwas verlegen. „Hast du denn gar keine Angst?“ Sie schaute mich verständnislos an. „Nö. Irgendwie kommen wir schon wieder zurück; sich darum zu Sorgen bringt gar nichts. Und eigentlich...“, sie brach ab und ihr Lächeln verschwand.
Dann schien ihr etwas anderes einzufallen und sie fragte: „Aber was ist denn mit dir? Du wolltest doch immer in diese Welt, oder nicht?“ „Ja, schon... Aber irgendwie nicht so, weißt du? Nicht so plötzlich und nicht mit all diesen Fragen und Sorgen. Lieber wenn ich älter wäre und alles selbst könnte...“ Da schaute sie mich auf einmal missbilligend und wütend an und sagte: „Was gibt es denn, was du jetzt noch nicht kannst? Wir suchen uns jetzt Wasser und nachher etwas zu Essen. Schlafen können wir so, es ist ja warm genug. Und alles andere können wir selbst herausfinden...“ Sie ging einen Schritt schneller, sodass ich ihr nicht mehr ins Gesicht sehen konnte, aber ich glaube, sie weinte.
„Du brauchst ja nicht gleich so sauer werden... Aber ich würde mich schon wohler fühlen, wenn wir wenigstens einen Erwachsenen dabei hätten...“, sagte ich kleinlaut. „Und wofür? Damit die uns wieder alles abnehmen? Und alles bestimmen. Mensch, Saya, so sind wir frei. Keiner wird uns sagen, was wir zu tun haben oder wann wir schlafen sollen oder was wir essen dürfen oder sonst was. Keiner schreibt uns was vor“, sie klang so begeistert, dass ich ihr mit jedem Wort mehr glaubte. Irgendwie hatte sie ja schon recht. Jetzt hatten wir einmal die Freiheit alles zu machen, was wir wollten. Wer wusste schon, wie lange es dauern würde bis wir wieder zurückkamen? Von diesen Gedanken überzeugt, schloss ich zu ihr auf und grinste sie an. „Stimmt, von der Seite hab ich es noch gar nicht gesehen.“
Sie zuckte nur die Schultern und warf mir einen verständnislosen Blick zu. Für sie war es wohl vollkommen normal direkt so zu denken, anstatt wie die anderen erst einmal Angst zu bekommen. Schweigend suchten wir weiter nach dem Bach, dessen Plätschern mit jedem Schritt lauter wurde. Nach etwa zwanzig weiteren Schritten, kam er endlich in Sicht. Das klare Wasser funkelte im Licht und floss spielerisch über ein Flussbett aus kleinen, sauberen Steinen. „So einen Bach habe ich noch nie gesehen“, murmelte ich erstaunt. „Ich auch nicht“, Jira schüttelte den Kopf und beugte sich herunter, um das Wasser näher zu betrachten.
„Es ist ganz klar. Fast schon wie Leitungswasser...“, murmelte sie. „Schmeckt aber hoffentlich besser“, warf ich grinsend ein. „Stimmt“, lachte sie und hielt eine Hand hinein. „Es ist ganz kalt. Das ist schon mal gut.“ Dann formte sie mit beiden Händen eine Schale und schöpfte etwas Wasser heraus. Beim Trinken schlürfte sie laut, was ihrem ganzen Aussehen so sehr widersprach, dass ich lachen musste. Sie warf mir aus dem Augenwinkel einen bösen Blick zu. „Haha, sehr witzig. Versuch du, es besser zu machen. Es ist sauber, kalt und schmeckt gut. Wenn wir Glück haben sind sogar Fische drin, die wir später fangen können.“ „Gute Idee.“ Da ich auch etwas Durst hatte und neugierig auf den Geschmack des Wassers war, schöpfte ich ebenfalls etwas ab und trank. Es schmeckte wirklich gut. Das hatte ich gar nicht erwartet.
„Das ist echt gut. Komm, lass uns die anderen holen, die haben bestimmt auch Durst. Und dann können wir überlegen, was wir wegen Essen machen.“ „Lass uns auf dem Rückweg mal nach Beeren gucken. Manchmal gibt es ja Himbeer- oder Brombeersträucher. Oder wir finden sogar diese 'wilden Erdbeeren' von denen ich gelesen habe“, schlug. Jira aufgeregt vor. „Eigentlich soll man die Beeren von den Sträuchern nicht essen...“, ich warf ihr einen zweifelnden Blick zu. „Schon, aber ich denke es ist schon okay. Wir sollten bestimmt auch nicht einfach Wasser aus einem Bach trinken, aber beides ist besser als zu verhungern oder zu verdursten.“ Gegen die Logik kam ich nicht an. Und irgendwie hatte ich auch so ein unbestimmtes Gefühl, dass uns hier nichts schlimmes passieren würde.
Wir gingen also zur Lichtung zurück und sagten den anderen bescheid. Es gab zwar einige skeptische Blicke, doch letztendlich kamen sie alle mit uns zum Bach und nachdem jeder für sich festgestellt hatte, dass das Wasser in Ordnung war, hob sich die Stimmung bereits merklich. Ein Problem war schließlich jetzt aus der Welt und wir konnten sicher sein, dass wir nicht verdursten würden. Blieb noch das Problem mit dem Essen.
„Wir sollten uns doch aufteilen und die ganze Umgebung absuchen... Vielleicht finden wir ja was“, schlug Kim, der so etwas wie der Anführer unter den Jungs war. „Ja, vielleicht finden wir dann sogar eine Straße oder einen Weg oder sowas“, fügte der etwas klein geratene Thommy hinzu. „Und was soll uns das bringen?“, fragte Lars, der nicht gerade der hellste war. Sofort bekam er einen genervten Blick von Katrina. „Du bist echt hohl! Ein Weg oder eine Straße würde sicher zu einer Stadt führen! Da wären dann Leute, die uns vielleicht helfen könnten!“ Sie warf ihm noch einen wütenden Blick zu und sagte dann: „Ich bin eigentlich dagegen, dass wir uns aufteilen, aber nur so können wir sinnvoll suchen. Ich würde also vorschlagen, wir bilden vier Gruppen. Jeweils zwei oder drei Leute zusammen, da sicher von uns keiner mit euch Jungs gehen will.“ Einvernehmliches Nicken. Das war die beste Möglichkeit, so konnten Jira und ich und die anderen drei Mädchen zusammen bleiben. Auch die Jungs nahmen den Vorschlag an. „Geht nicht zu weit weg und passt auf, dass ihr euch nicht verlauft!“, warnte Jira noch, ehe wir uns trennten.
Wir fanden keine Straße. Nicht mal einen Weg. Der Wald schien völlig verlassen zu sein. Man hörte nicht einmal Vögel oder andere Tiere, was uns erst nach und nach auffiel. Immerhin fanden wir einiges an Beeren und sogar ein paar Apfel-, Birn- und Pflaumenbäume. Damit würden wir für's erste auskommen. Halbwegs beruhigt fanden wir uns also wieder auf der Lichtung ein und teilten, was wir gefunden hatten.
Dann jedoch gab es erst einmal nichts mehr zu tun und so hatten wir Zeit zum Nachdenken. Das führte natürlich dazu, dass die Stimmung wieder sank. Ich merkte auch wie ich langsam müde wurde. Keiner wusste, wie spät es war. Katrina und Killan hatten zwar Uhren, aber die funktionierten nicht und zeigten vollkommen verschiedene Zeiten an. Ich schaute mich um und sah, dass die meisten anderen genauso müde wirkten wie ich. Gerade sah ich Katrina hinter vornehm vorgehaltener Hand gähnen.
„Für heute sollten wir erst einmal schlafen... Vielleicht sieht morgen schon alles ganz anders aus...“, sagte sie dann laut in die Runde, woraufhin sie alle anschauten. „Wir können es nur hoffen...“, zweifelte Thommy. „Die Hauptsache ist, wir halten alle zusammen“, Killan gähnte laut und schien schon beinahe eingeschlafen zu sein. Zustimmendes Gemurmel setzte an und alle rückten zusammen und streckten sich auf dem warmen Boden aus. Im Schatten war es dunkel genug, um zu schlafen, aber nicht so kalt, dass man hätte frieren müssen. Glücklich und mich auf seltsame Weise geborgen fühlend, rollte ich mich zusammen. Der Atem der anderen ging leise und teilweise schon so regelmäßig, dass sie wohl schon eingeschlafen sein mussten. Der Waldboden war hart, aber das Gras an sich war weich und duftete. Jira neben mir wälzte sich unruhig hin und her und rückte dann etwas näher an mich heran. „Schlaf gut, Saya“, flüsterte sie noch. „Träum was Schönes“, schaffte ich noch zu antworten, dann dämmerte ich auch langsam weg.
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Nächstes Kapitel:
5: Wir zwei