ALEX
Einige Stunden zuvor
Es ist bereits acht Uhr morgens, als Peter und Michael lachend den Flur entlang torkeln. Beide sind noch immer stockbesoffen und brüllen vor Lachen, als sie über ihre Errungenschaften prahlen. Ich kann ihnen nicht mal wirklich böse sein, denn ich bin auch erst vor einer Stunde in dieses Loch zurückgekommen. Mein Kopf dröhnt noch immer von der Flasche Whiskey, die ich und Viktoria noch geleert haben. Ich denke aber, es ist die Sache, die nach dem Kuss passiert ist, welche mir ein schlechtes Gewissen bereitet. Wieso habe ich eigentlich ein schlechtes Gewissen? Ich hatte noch nie wegen so etwas ein schlechtes Gewissen. Also für was sollte ich mich jetzt schlecht fühlen? Ich hatte einfach nur Spaß. Ja okay, ich habe mit Viktoria geschlafen. Besser gesagt habe ich sie einfach nur gefickt. Ich wollte Anna einfach nur vergessen. Ich dachte, der Alkohol hilft mir dabei und ich habe es gemacht, ohne darüber nachzudenken. Und jetzt? Jetzt fühle ich mich beschissen. Es war nicht Anna. Es war nicht schön, es war einfach nur Sex. Ich will sie aus meinem Kopf bekommen. Ich kann sie nicht lieben. Ich kann nicht mit ihr zusammen sein und ich muss mich nach dieser ganzen Sache mit Marius von ihr fernhalten. Am liebsten würde ich die Sache rückgängig machen. Es hat rein gar nichts geholfen. Es hat mich Anna nicht vergessen lassen. Es hat eher das Gegenteil bewirkt. Denn jetzt vermisse ich ihr Lächeln noch mehr. Wie gerne würde ich jetzt einfach nur mit ihr, in meinen Armen einschlafen.
„Hey....Alalaaaalexxx.... is... auf hier.“
Okay. Die beiden sind vollkommen dicht. Peter kann nicht mal mehr richtig sprechen. Michael und er stützen sich gegenseitig ab, um nicht umzufallen. Ich muss so lachen, dass ich selbst auch fast umfalle. Es sieht einfach wirklich zum Brüllen aus und die beiden sind richtige Spaßvögel, wenn sie etwas getrunken haben. Als dann auch noch Michael, Peter loslässt und Peter daraufhin mit seinen Kopf leicht an der Wand anschlägt, kann ich nicht mehr. Mir laufen schon fast Tränen aus den Augen und Mike muss sich an die Wand anlehnen, um nicht umzufallen.
Als unser Lachen verebbt und sich alle wieder etwas beruhigt haben, helfe ich Michael dabei, Peter auf die Couch zu befördern. Mike legt sich auf die gegenüberliegende Couch und ich verziehe mich in mein altes Zimmer.
Dort angekommen ziehe ich die staubige Decke weg und lasse mich auf die weiche Matratze fallen. Mein Blick wandert zu der grauen Zimmerdecke über mir und ich muss ohne es zu wollen, schon wieder an Anna denken. Was wird sie gerade machen? Hoffentlich geht es ihr gut und sie lernt von Luna. Aber ich mache mir keine Sorgen um ihre Kräfte, sie ist einfach zu neugierig und sie hat keine Ahnung, wie stark ihre Kräfte wirklich sind. Verdammt, am liebsten würde ich jetzt einfach losfahren und bei ihr sein. Aber ich kann und darf nicht. Denn in ein paar Stunden muss ich los, um nach dem zu suchen, was wir für unser Überleben so dringend brauchen.
Viktoria's Vision gestern war deutlich. Deutlicher als ich mir erwartet habe. Denn jetzt weiß ich, was mir hilft, um Marius aufzuhalten.
Als ich etwas Warmes auf meinem Gesicht spüre, öffne ich langsam meine Augen. Es ist die Sonne, die bereits hoch am Himmel steht und durch das Fenster auf mein Gesicht scheint.
Ich denke, es ist Zeit, um aufzustehen. Also bewege ich meinen schweren Körper langsam aus dem Bett. Fuck. Ich hätte wohl nicht soviel trinken sollen. Mein Kopf dröhnt und mein Nacken schmerzt. Aber was noch schlimmer ist, ist mein Gewissen. Verdammt, es ist noch schlimmer als gestern. Ich hätte nicht mit Viktoria in die Kiste steigen sollen. Ich bin einfach ein Idiot. Ich muss mich einfach wieder auf das Wesentliche konzentrieren. Also greife ich nach meinem Telefon und werfe einen Blick auf die Uhrzeit. Fuck. Schon zwei Uhr nachmittags. Schnell laufe ich zu den Jungs, um sie zu wecken. Dieses Mal wäre es sicher nicht schlecht, die beiden als Verstärkung dabei zu haben.
Das Lachen, dass plötzlich aus meiner Kehle dringe, als ich im Wohnzimmer ankomme, kann ich einfach nicht unterdrücken. Diese Vollidioten. Mike liegt am Boden und hat sich mit dem staubigen weißen Tuch zugedeckt. Das Beste daran ist, dass auch Peter mit ihm unter der Decke liegt. Die beiden sehen aus als wären sie ein Liebespaar. Ich könnte jetzt echt erwachsen sein. Könnte. Doch ich hole erneut mein Telefon hervor und schon macht es ein leises Klicken. Das Foto erscheint auf meinem Display und meine Mundwinkel wandern siegessicher nach oben. Irgendwann kann ich dieses Bild sicherlich gegen die beiden verwenden.
Doch jetzt muss ich die Beiden erstmal wach bekommen. Mit meinem Fuß tippe ich Mike in seinen Rücken.
„Hey, ihr beiden Turteltäubchen. Kommt schon, wir müssen los.“
Mike sieht mich verschlafen an und blickt dann zu seiner rechten. Dieser Blick ist unbezahlbar.
„Hey Pete, was ist bloß los mit dir? Mann, ich stehe nicht auf so etwas.“
Dieses Bild ist einfach zu witzig und als dann auch noch Peter wach wird und mitbekommt, was los ist, versucht er sich nochmals an Michael zu drängen.
„Hey Mikey, Schätzchen, komm nur noch einmal.“
Peter versucht Mike auf die Schippe zu nehmen. Mike ist verdammt schnell auf den Beinen. Ich muss noch immer lachen und auch Peter lacht sich schlapp, als er mit wackligen Beinen aufsteht. Nur Mike steht neben uns und sieht uns verwirrt an.
„Hey, kommt schon, das ist nicht witzig. Echt nicht. Ich dachte wir haben es eilig. Also macht schon.“
Mike hat jetzt wohl das Kommando übernommen und um ihn nicht noch zum Ausrasten zu bringen, machen wir uns auf den Weg zum Wagen.
Nach etwa einer halben Stunde Fahrt halten wir vor einem großen eisernen Tor an. Dem Eingang zum Baron Hirsch Friedhof in Staten Island. Die Steinsäulen am Tor sind schon etwas in die Jahre gekommen und auch die Umgebung sieht nicht wirklich einladend aus. Für die meisten mögen ja Friedhöfe generell nicht einladend sein, aber für mich schon. Ich bin vielleicht ein bisschen krank in dieser Hinsicht, aber ich mag Friedhöfe. Je geheimnisvoller, desto besser sind sie. Aber jetzt haben wir eine andere Aufgabe. Wir müssen zu einem Grab. Viktoria hat mir nur den Namen gegeben, der auf dem Grabstein stehen soll und jetzt stehen wir hier, vor so vielen Grabsteinen. Ich zeige den beiden Jungs den Zettel mit dem Namen und dem Todestag. Wir beschließen uns zu trennen, um das Grab schneller finden zu können.
Also laufen wir alle drei wie Verrückte, mitten am Tag auf einem Friedhof herum und suchen nach einem Grabstein mit dem Namen Dorn darauf.
Es vergehen gefühlte Stunden bis Peter mir zuruft.
„Hey Alex. Ich glaube, ich habe es.“
Mike und ich folgen ihm und wir halten vor einem zerfallenen alten Grabstein, auf dem tatsächlich der Name Dorn eingraviert ist und die Jahreszahl 2008.
„Du willst doch jetzt nicht etwa die Überreste ausgraben?“
Mike sieht mich entsetzt an und ich kann nur grinsen.
„Jop. Wir müssen graben und da du dich als Erstes gemeldet hast, darfst du anfangen.“
Mike schüttelt den Kopf und will schon anfangen, dich eine Schaufel zu besorgen, als ich ihn mit einem leichten Schlag auf seine Schulter stoppe.
„Hey Mike, ist in Ordnung. Du musst nicht graben. Es reicht auch, wenn wir den Grabstein ein Stück anheben.“
„Alex, heute bist du echt wieder mal ein Arschloch.“
Er grinst mich an und schüttelt dabei wieder seinen Kopf. Nun versuchen wir zu dritt den Grabstein zu heben. Es ist echt ein schweres Stück, aber mit ein wenig Wolfskraft schaffen wir es. Schnell greife ich darunter und hole eine kleine eiserne Box hervor. Ich deute den beiden an, dass sie den Stein wieder loslassen können. Langsam öffne ich die Box und es ist zu meiner Freude auch das darin was ich gehofft hatte zu finden. Ich bin mir sicher, dass es mir dabei helfen wird, Marius wenigstens abzulenken und uns so Zeit verschaffen zu können.
Doch gerade als ich die Box wieder schließe, überkommt mich ein komisches Gefühl. Ich spüre ein Stechen in meinem Herz und ich zucke zusammen. Es ist Anna. Ich spüre Anna. Es muss etwas Schlimmes sein. Denn ich spüre Schmerzen, die kaum auszuhalten sind. Ich bekomme Panik und stehe auf.
„Wir müssen sofort los. Irgendetwas stimmt nicht.“
Die beiden sehen mich verwirrt an und bevor sie noch etwas sagen können, drehe ich mich um und laufe zum Wagen. Die beiden laufen mir hinterher, als mich plötzlich eine Hand an der Schulter packt und mich zwingt stehen zu bleiben. Es ist Peter und ich kann Panik in seinen Blick erkennen.
„Was ist los? Ist etwas mit Anna?“
Ich kann ihm kaum in die Augen sehen, als ich ihm antworte und mich wieder umdrehe.
„Ich denke, es ist etwas Schlimmes passiert. Darum müssen wir auch los.“
Als ich diese Worte über meine Lippen gebracht habe, will ich es selbst nicht wahrhaben. Ich hoffe so sehr das ich mich irre. Aber ich weiß ich habe sie gespürt und jetzt ist es weg. Ich kann sie nicht mehr spüren. Niemals könnte ich es mir verzeihen, wenn ihr etwas zugestoßen ist. Ich habe es ihr versprochen. Ich habe ihr versprochen für sie da zu sein und ich habe schon wieder mein Versprechen gebrochen.
Als wir im Wagen sitzen und Michael mit versteinertem Blick nach vorne am Steuer sitzt, blicke ich kurz zu Peter. Sein Blick ist mit Trauer gefüllt und ich kann ihn verstehen. Denn ich selbst mache mir solche Sorgen um Anna. Ich hoffe so sehr, dass ihr nichts zugestoßen ist und sie noch lebt. Denn ich spüre sie nicht mehr.
Ich flehe dich an Anna, verlass mich nicht.