Im zweiten Mädchenschlafsaal
Das Abendessen war nicht halb so spektakulär gewesen, wie Amy es erwartet hätte. Es gab Kartoffeln, Gemüse und Fleisch, alles in typischer Jugendherbergenqualität (wobei das Qual in Qualität offenbar groß geschrieben wurde) und weder Zombiehirn noch Werwolfsflüche zum Trinken.
Wild Child, die rothaarige Begleiterin von Samstag, war die Enttäuschung anzusehen. Amy dagegen war ziemlich erleichtert, dass sie keine Überraschungen erwarteten. Nach dem Abendessen wurde es Zeit, sich ins Bett zu begeben. Amy musste sich eingestehen, dass sie todmüde war. Sie hatte während der Busfahrt wenig geschlafen, und auch die letzte Nacht war wegen der vermeintlichen Leiche im Hotel Cecilia mit Alpträumen angereichert gewesen.
Sie streckte sich auf ihrem Bett aus, das genau wie das von Samira das untere Bett war – die beiden Freundinnen von Sam, die mit ihnen in dem Zimmer schliefen, hatten sofort die oberen Betten beschlagnahmt. Wild Child, die Rothaarige mit den dunkelgrünen Augen, deren Stimme viel zu rauchig und tief war, lag über Samira und über Amy hüpfte Mira auf und ab, die kurze, blonde Haare hatte und dazu ständig in Bewegung war. Das Mädchen trug Armstulpen über den Ärmeln ihrer Kleidung, auch jetzt. Die schwarzen, sockenähnlichen Kleidungsstücke, die den Daumen und die Finger frei ließen, sahen über dem Pyjama mit Schäfchen lächerlich aus.
Amy drehte sich müde auf die andere Seite und nahm das Kissen, um sich darunter zu vergraben. Mira und Wild Child warfen sich gegenseitig einen kleinen Ball zu und machten keine Anstalten, das Licht auszumachen – bis Samira aufstand, den Schalter umlegte und den Ball ohne hinzusehen aus der Luft fing. Die beiden jüngeren Frauen murrten etwas, gaben dann aber glücklicherweise Ruhe.
Amy kuschelte sich in ihre Decke. Die Wände ihres Zimmers leuchteten jetzt schwach, offenbar speicherte die Farbe das Licht der Lampen. Die gemalte Szene zeigte mehrere Hexen, die um ein großes Feuer tanzten. Die Hexen hatten grünliche Schatten auf den Hüten, die ihre Umrisse auch im Dunkeln erkennbar machten, und das Feuer schien regelrecht zu glühen. Direkt vor Amys Nase fauchte eine schwarze Katze – die Zähne und die grünen Augen sprangen sie förmlich aus der Dunkelheit heraus an.
Sie schnitt eine Grimasse und drehte sich wieder auf die andere Seite, während sie hörte, wie sich Samira hinlegte.
Ganz langsam fielen auch ihr die Augen zu. Sie war wirklich müde. Ein wenig Ruhe würde ihr gut tun.
Leider dachte das Schicksal nicht daran, sie schlafen zu lassen. Ein Geräusch weckte sie mitten in der Nacht. Amy fuhr sofort hoch und schlug sich den Kopf an dem Bettgestell über ihr. Das Rumpeln, das sie geweckt hatte, erklang erneut. So laut, dass es kaum zu überhören war.
„Was ist das?“, zischte Mira über ihr. Amy hörte Bewegung von den anderen Betten, dann Schritte, als jemand durch das Zimmer ging.
Das leise Klicken des Lichtschalters ging fast im Lärm von Draußen unter. Es blieb dunkel. Das Klicken ertönte mehrmals, dann fluchte Samira: „Das Licht geht nicht!“
Etwas anderes klickte und vom Bett von Wild Child aus durchschnitt der Strahl einer Taschenlampe die Dunkelheit, in der nur die Hexen leuchteten.
Das Rumpeln ging weiter – und es kam näher. Amy kletterte vorsichtig aus dem Bett. Jetzt hörte sie auch ein Knurren und das Scheppern von zerbrechendem Glas.
„Das gefällt mir nicht“, flüsterte sie. Es klang, als wäre eine Horde Hunde im Hotel losgelassen worden. Sehr große und sehr hungrige Hunde. Vielleicht auch Bären, immerhin hörte sie kein Bellen.
Mira sprang aus dem Hochbett, federte ihren Sturz lautlos auf dem Boden ab und stellte sich hinter die Tür: „Wir können nicht abschließen.“
Das Knurren kam näher. Amy hörte Holz splittern und einen erschrockenen Schrei aus einem der Nachbarzimmer. Evelyn!
„Das Badezimmer!“, rief Wild Child und leuchtete mit der Taschenlampe auf die Tür: „Da rein!“
Amy zögerte, aber als Mira sie mit sich zog, folgte sie ihr in den kleinen Raum.
Während aus dem Nebenzimmer Geräusche drangen, die auf einen Kampf hindeuten konnten, drängten sich Samira, Mira, Wild Child und Amy in der kleinen Toilette, die an einen Wald erinnerte. Wild Child zog die Tür zu und schloss ab.
Atemlos standen sie in der Dunkelheit. Nur die Taschenlampe leuchtete, aber gedämpft durch Wild Childs Hand, damit das Licht vielleicht Niemanden auf die aufmerksam machte. Samira hatte sich in die Dusche gequetscht. Mira hockte auf der Toilette und Amy drängte sich gegen den staubigen Spiegel.
Die Geräusche im Nebenzimmer verstummten, als dort eine Tür zuschlug. Amy konnte nur hoffen, dass sich Eve und die anderen in ihre eigene Toilette geflüchtet hatten. Dann fuhr ihr ein Schauer über den Rücken, als das Knurren wieder erklang, diesmal ganz nah – was auch immer es war, es war in ihrem Zimmer!
Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie konnte das flache Atmen der anderen hören. Schritte durchquerten ihr Zimmer. Ganz in der Nähe der Tür hörten sie ein Schnüffeln, dann wieder ein Knurren.
Amy schloss die Augen und ertappte sich dabei, wie sie betete. Sie war nicht unbedingt religiös, aber sie würde jede Hilfe annehmen, damit das Wesen die Tür nicht öffnete.
Ein lautes Kratzen ließ ihren Atem stocken. Krallen glitten außen über die Tür. Sie klammerte sich an den Spülstein, während Wild Child die Taschenlampe löschte.
Wieder ein Knurren. Durch die Dunkelheit schien es noch lauter zu sein. Amy schloss die Augen.
Dann entfernten sich die Schritte.
Als das Knurren eine ganze Weile verstummt war, wagte Amy es, auszuatmen.
„Sie sind weg“, erklang Wild Childs Stimme von der Tür. Langsam spürte Amy, wie die Angst nachließ und sie stattdessen zitterte. Ihre Knie waren ganz weich.
Die Taschenlampe ging wieder an und offenbare vier geschockte Gesichter voller Angstschweiß.
„Hey!“, meinte Samira, die nicht ganz so geschockt aussah und deutete auf den Spiegel hinter Amy: „Jemand Lust, Bloody Mary zu spielen?“
Selbst Mira, die sonst häufiger zu Scherzen aufgelegt war, schenkte der Frau diesmal nur einen giftigen Blick. Wild Child fand den Schlüssel und öffnete die Tür, dann trat sie vorsichtig hinaus. Als ihr nichts geschah, folgte Mira, die Fäuste kampfbereit erhoben. Samira schlenderte hinterdrein und Amy folgte als letzte.
Samira begutachtete die Rückseite der Tür und stieß einen leisen Pfiff aus. Wild Child leuchtete mit der Taschenlampe auf die Stelle.
Amy schauderte, als sie die Spuren von langen, scharfen Klauen auf dm Holz entdeckte.
„Was zur Hölle geht hier vor?“
„Ich hoffe mal, das war ein Streich, der zur Tour gehört“, sagte Wild Child.
Amy sah auf die Krallenspuren: „Ich muss zu Evelyn!“
Wild Child ging mit der Taschenlampe zur Tür: „Ich komme mit.“
Mira schnappte sich eine Nachttischlampe als Waffe und kam mit. Samira folgte ihnen, betätigte in der Dunkelheit den Lichtschalter auf dem Flur und fand so heraus, dass das Licht wieder funktionierte. Wild Child machte ihre Taschenlampe aus.
Aus dem Nebenzimmer erschien zuerst der Kopf von Tee-jo mit ihren schwarzen Locken. Samstag sah aus der Tür zum Jungenzimmer.
Evelyn traute sich wenig später auf den Flur und flüchtete sich sofort zu Milo.
„Was, um alles in der Welt, war das?“, fragte Luca, der einen Stuhl erhoben hatte, um auf alles einzuschlagen, was auch nur entfernt so klang, als würde es knurren.
„Ein Streich, weiter nichts“, murmelte Amy.
Sie war selbst nicht ganz von ihren Worten überzeugt.