Auf der Achterbahn:
Luca gehörte zu den Schnellsten der Gruppe. Als sie auf der Straße angegriffen wurden, hielt er mit Samstag Schritt und flüchtete gemeinsam mit dem jungen Mann aus dem Gedränge. Erstaunlicherweise hielt auch Mira mit ihnen mit, obwohl sie Stöckelschuhe trug. Aber soweit Luca erkennen konnten, federten die Schuhe ihre Schritte irgendwie ab und ließen sie schneller laufen.
Zu dritt rannten sie einfach geradeaus, so weit es ging. Samstag behielt irgendwie ihre Position im Auge, indem er auf den Bildschirm der kleinen Uhr achtete. Und so verließen sie das Labyrinth aus kleinen Läden.
Doch sie waren nur zu dritt. Luca sah sich um. Nur eine kleine Öffnung zwischen zwei Buden führte zurück in das verwirrende Geflecht der Gassen. Dort war Niemand zu sehen.
"Amy!", rief er: "Eve!"
Mira fasste seine Schulter und zog ihn sanft: "Komm mit."
Er folgte ihr nur widerstrebend. Samstag hatte die Führung übernommen: "Sie werden zum Turm fliehen. Wenn wir nach ihnen suchen, bringen wir uns nur selbst in Gefahr."
"Aber wir können sie nicht im Stich lassen!", schrie Luca.
"Wir müssen", sagte Samstag ernst: "Es ist nicht schön oder heldenhaft, aber es ist die einzige logische Regel."
Lucas Schultern sackten nach unten: "Aber ..."
"Vertrau darauf, dass sie uns finden", versuchte Mira, ihn zu trösten.
"Hast du Fay auch vertraut?", fragte er bitter zurück. Er sah in ihren hellen Augen, dass er sie verletzt hatte. Mira schwieg und ging weiter. Luca folgte ihr langsamer. Dann holte er auf: "Tut mir leid, ich -"
"Schon gut", gab Mira zurück. Ihr hitziger Tonfall beendete das Gespräch.
Sie waren nicht weit gegangen, als Luca Geräusche von hinter ihnen hörte. Jemand rief einen Befehl, so weit entfernt, dass er die einzelnen Worte nicht ausmachen konnte.
Sie wirbelten herum. Eine Gruppe der grau gekleideten Verfolger tauchte aus dem Labyrinth auf und hatte sie bereits erspäht.
Sie rannten los. Die Wege waren hier offen. Es ging an allen möglichen Eingängen vorbei, an den Absperrungen für lange Schlangen und weiteren Läden, die vielleicht einmal Essen verkauft hatten. Jetzt waren die Straßen nur von Schutt und Müllbergen bevölkert. Statt Menschen strömten Plastiktüten dem Wind folgend aus Seitengassen. Nur noch Geister konnten hier ihren Spaß haben. Luca wollte sich nicht zu ihnen gesellen.
Samstag führte sie zielsicher und der Turm rückte immer näher. Ihre Verfolger waren ein ganzes Stück hinter ihnen, und bald liefen die beiden Gruppen in einem einheitlichen, ausdauernden Tempo, denn auch die mörderischen Clowns konnten nicht ewig sprinten. Luca fühlte sich erleichtert. Vielleicht hatten sie es ja nur mit Menschen zu tun.
Doch plötzlich blieb Samstag stehen: "Scheiße!"
"Was ist?", fragten Luca und Mira gleichzeitig.
Sie sahen es. Vor ihnen endete der Weg in einem hohen Zaun, der das Gelände unter einer Achterbahn einfasste.
"Von oben sah es aus, als ginge es hier durch", sagte Samstag perplex. Der Zaun war doppelt so hoch wie sie und aus Maschendraht. Zu ihrem Pech war er noch vollständig intakt.
Luca sah zurück, wo die Clowns aufholten. Sie lachten siegessicher.
Sie hatten gewusst, dass ihre Beute nicht entkommen könnte.
"Die Achterbahn!", rief Mira: "Wir fahren mit einem der Wagen."
"Kriegst du sie zum Laufen?", fragte Samstag.
Mira nickte.
"Moment mal!", mischte sich Luca ein: "Das ist doch nicht sicher, oder?"
"Es ist hochriskant. Aber besser als die Alternative", sagte Samstag und zog ihn mit sich in den Eingang der Achterbahn. Er lachte: "Ich wollte schon immer auf einer Achterbahn sterben!"
Sie rannten zu dritt durch lange Gänge und schmale Treppen hinauf. Das Gebäude war für lange Schlangen konzipiert. Normalerweise hätten sie sicherlich anderthalb Stunden auf eine Fahrt warten müssen.
Jetzt schafften sie die Strecke in vielleicht fünf Minuten und kamen keuchend an dem Wagen an, der auf den Gleisen auf Fahrgäste wartete, vielleicht schon sein Jahren. Es waren hängende Sitze in Viererreihen, mit Bügeln für den Oberkörper. Die Achterbahn würde mindestens einen Looping schlagen.
Samstag setzte sich vorne in die Mitte und zog Luca neben sich, sodass die zwei Plätze auf der anderen Seite frei blieben. Mira lief derweil in das Steuerhäuschen am Ausgang aus dem Wartebereich. Sie beugte sich über das Pult und drückte mehrere Knöpfe.
Mit Knattern und Röhren erwachten die Maschinen zum Leben. Lichter blinkten auf, die meisten rot. Ein Warnton erklang.
Doch über den Lärm hörten sie die Schritte der Clowns im Aufgang.
Luca zerrte an dem Kopfbügel, doch der ließ sich nicht bewegen. Er sah ein Schild, auf dem stand, dass die Fahrt bis zu 300 km/h schnell werden würde. Er bekam ein flaues Gefühl im Magen.
"Ich kriege die Sicherheitsbügel nicht aktiviert", schrie Mira.
"Egal", rief Samstag: "Starte trotzdem. Ich will nicht von einem Clown zum Frühstück gegessen werden!"
"Es ist mitten in der Nacht", sagte Luca benommen. Vor ihnen leuchteten die Sterne über der Bahn.
"Mitternacht vor Halloween", stimmte Samstag ihm zu und winkte Mira mit heftigen Bewegungen: "LOS!"
Ruckelnd setzte sich der Wagen in Bewegung. Mira stand am Ausgang, als die ersten Clowns auftauchten. Kreischend stürmten die Verfolger auf das Mädchen zu.
Der Wagen nahm schnell Fahrt auf. Luca wurde in seinen Sitz gepresst.
"Spring!", schrie Samstag zu Mira und beugte sich vor.
Sie sprang, als die beiden freien Sitze das Häuschen passierten. Ein Ruck ging durch den Wagen, als das Gewicht gegen ihn stieß. Luca sah, wie Mira fiel.
Samstag reagierte schneller, als Luca je einen Menschen hatte reagieren sehen. Der junge Mann warf sich vor und packte Miras Arme. Doch jetzt lief er Gefahr, mitgerissen zu werden. Ohne zu zögern, streckte Luca die Hand aus und packte Samstag an der Hose.
Im nächsten Moment rauschte der Wagen steil nach oben. Samstags Gewicht hing an Lucas Arm, bevor sich der Mann in den Sitz wuchtete, Mira auf den Sitz neben sich ziehend.
Das Tempo schlug Luca den Wind so heftig ins Gesicht, dass er nicht atmen konnte. Samstag neben ihm stieß einen lauten Schrei aus, der genauso gut ein Angstschrei wie Jubel hätte sein können. Vermutlich war es beides gleichzeitig.
Die steile Strecke nach oben wurde noch steiler, bis Luca entsetzt merkte, dass er kopfüber hing. Er klammerte sich an den Sitz. Für einen Moment lang die Welt unter ihnen, dann kippte der Wagen nach vorne.
Luca verlor den Kontakt zum Sitz und den Halt. Er stürzte nach unten. Das einzige, was ihn und die beiden anderen rettete war die Tatsache, dass der Wagen genauso schnell fiel wie die drei Fahrgäste.
Unten ging das Gefährt in eine schrägte Kurve nach links. Luca, Samstag und Mira knallten stöhnend in ihre Sitze.
Vor ihnen machte die Bahn eine Schraube.
"Festhalten!", schrie Samstag. Luca griff nach den Rändern des Sitzes. Der Wagen war so schnell, dass sie in die Sitzschalen gedrückt wurden. Luca rutschte auf dem Plastik, aber er fiel nicht. Offenbar raste der Wagen ungebremst durch die Bahn. Die Schienen kreischten laut.
Luca riss die Augen auf, als er Funken regnen sah. Der Stahlträger auf Miras Seite holperte und sprang wie ein bockendes Pferd.
Samstag und Luca schrien gleichzeitig eine Warnung. Im nächsten Moment sprang der Wagen aus der Halterung.
Plötzlich baumelte der Vierersitz nur noch an einer Schiene. Mira hielt sich im Wagen, aber Luca verlor durch den Ruck den Halt. Er fiel an Samstag und Mira vorbei nach unten.
Im letzten Moment packten zwei Hände sein Handgelenk. Mira und Samstag hatten ihn gleichzeitig erwischt.
"Luca! Hoch!", schrie Mira. Beinahe hätte er die Worte über dem Tosen des Windes nicht mehr gehört. Doch ihre entsetzten Gesichter ließen ihn nach vorne sehen. Dort stand ein Wartungshäuschen. Normalerweise lag es nicht in gefährlicher Nähe, doch da der Wagen schief hing, würden Lucas Beine zwischen dem Gebäude und dem Wagen eingeklemmt werden.
Mit einer Kraft, die er sich niemals zugetraut hätte, zog Luca die Beine an.
Das Haus rauschte unter ihm hindurch, er spürte den Wind, der von dem festen Widerstand zurückprallte.
Der Wagen krachte gegen das Haus. Diesmal warf der Stoß alle drei aus den Sitzen. Sie landeten auf dem Dach des Gebäudes und rollten über die kleinen Steine darauf.
Luca rang erschrocken nach Luft, nachdem er gelandet war. Er hatte sich den Ellbogen in die Seite gestoßen. Er hob den Kopf, um nach dem Wagen zu sehen.
Samstag streckte den Arm aus und zerrte Lucas Kopf an den Haaren nach unten. Luca biss sich auf die Zunge, als sein Gesicht unsanft in die Kieselsteine auf dem Dach stieß.
Im nächsten Moment fuhr ein Luftzug über ihn hinweg. Er spürte, wie der Wagen über seine Haare schrammte und hätte schwören können, soeben eine unfreiwillige Rasur erhalten zu haben.
Dann krachte es nochmals laut.
Luca blieb einige Atemzüge flach liegen, ehe er sich traute, den Kopf zu heben.
Er lag nah am Ende des Daches. Samstag und Mira lagen keuchend neben ihm. Die Schienen über ihnen waren abgebrochen, irgendeine zerstörte Elektronik stieß Funken aus. Der Wagen war hinter dem Gebäude abgestürzt und hatte brennend den Zaun niedergewalzt. Etwa zwanzig Meter entfernt qualmte der zerstörte Sitz vor sich hin.
"Ich lebe noch!", keuchte Luca.
Samstag stand unsicher auf und zog sie beide auf die Füße. Sie sahen sich um.
"Da ist der Turm!", sagte Mira. Luca folgte ihrem ausgestreckten Zeigefinger. Die Silhouette war nun deutlich größer und nicht mehr ganz so schlank. Sie waren nah am Ausgang.
Nacheinander sprangen sie von dem Dach und fluchten dabei über ihre Prellungen. Sie folgten der flammenden Spur des Wagens aus dem umzäunten Gebiet heraus. Luca spürte eine brennende Stelle auf der Wange, die noch mehr schmerzte, als er mit den Fingern darüber strich. Als er die Hand zurück zog, sah er Blut.
Der Wagen war vollständig demoliert, das Metall verbogen und das Plastik geschmolzen.
Mira lachte nervös: "Ist doch gut, dass die Sicherheitsbügel kaputt waren!"
Luca stimmte mit einem undeutlichen Murmeln zu.
Dann humpelten sie die Straße entlang.