Wachstunde:
Max trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Die Steine auf dem unebenen Boden hatten sich durch das weiche Profil seiner Turnschuhe gedrückt und bohrten sich jetzt in seine Fußsohle.
Es war kalt und ungewöhnlich still. Ein paar der elektrischen Lampen, die im Garten Licht spendeten, gaben surrende Geräusche von sich, doch ansonsten hörte er nicht einmal Grillen oder Käuzchen oder was man auf dem Land noch so hören sollte.
Ihm fehlte auch die ständige Geräuschkulisse einer Großstadt, das ferne Dröhnen von Automotoren zum Beispiel, das ihm verkündet hätte, dass er nicht vollkommen allein war, dass es abseits dieses Hotels noch eine ganze Welt gab, die ihm notfalls helfen konnte.
Im Moment erschien es ihm, als wäre die Welt eine flache Scheibe. Der düstere Horizont, im Mondlicht kaum zu erkennen, wirkte beengend nah – dahinter folgte sicherlich nur eine steile Klippe und die Weiten des Universums. Sterne krochen über den Nachthimmel und verstärkten diesen Eindruck noch. Die Welt reichte so weit, wie er sehen konnte – dahinter brach sie einfach ab.
Max ließ den Blick durch den dunklen Hintergarten schweifen. Der Pool lag im Mondlicht da und das Wasser warf silberne Reflexionen auf die weiße Außenmauer des Hotels. Eigentlich ein friedliches Bild, wenn er nicht wüsste, dass er mit diesem Hotel auch Entführer und Geiselnehmer bewachte. Bei dem Gedanken an Jimmy krampfte sich sein Magen zusammen und er schloss die Hände fester um den Schlagstock, den man ihm gegeben hatte.
Man vertraute ihm. Man hatte ihm eine Waffe gegeben, und die Aufgabe, den Garten zu überwachen. Irgendwo hier könnte ein Mörder herum schleichen, und es war Max' Aufgabe, diesen Eingang zu sichern.
Zuerst hatte es ihn überrascht, wie stolz er gewesen war, dass man ihn ausgewählt hatte. Nur eine Handvoll der Angestellten durfte das Hotel verlassen und in der kalten Nachtluft stehen.
Inzwischen war ihm klar, dass er sich freute. Vertrauen bedeutete, dass er gut war, und das bedeutete eine größere Chance, weiter zu kommen und Jimmy am Ende zu retten.
Max hatte sich aufrecht neben der Tür positioniert. Er würde seine Entführer nicht enttäuschen. Er würde dafür sorgen, dass sie sich auf ihn verließen, denn dann könnte er entkommen und Jimmy würde nichts geschehen.
Er hörte Schritte und fuhr herum. Die eine Hand erhob den Schlagstock, die andere huschte zu dem Funkgerät an seinem Gürtel, als eine Gestalt auf ihn zu trat.
„Wer ist da?“, rief er laut.
„Maya“, antwortete die Unbekannte und er erkannte die junge Frau, die Samiras Vertreterin in diesem Hotel war. Samira selbst erschien allerhöchstens, um die Leute auszuwählen, die weiter kommen würden, ansonsten gab es in jedem Hotel einen neuen Chef, auf den sich Max' Gruppe einstellen musste. Hier war es Maya.
Er senkte den Schlagstock und straffte sich. „Hier ist alles ruhig gewesen.“
„Das glaube ich gerne. Sie sind bereits im Haus.“
Max fiel vor Schreck beinahe der Stock aus der Hand. „Was?“
Maya entzog den Schlagstock seinen kraftlosen Fingern und drückte ihm dafür etwas anderes in die Hand. Ein Gewehr. Max starrte darauf.
„Sie sind ein paar Türen weiter eingedrungen. Es sind vier“, berichtete Maya. „Du kommst mit mir.“
Max nickte und folgte Maya, die noch ein paar andere Wachen abholte. Die Waffe in seinen Händen war schwer und kalt. Er merkte, dass er schwitzte.
„Maya?“, rief er heiser und schloss zu ihr auf.
„Ja?“, fragte sie ungemein liebenswürdig.
„Ich – ich kann nicht schießen“, gestand er. Und er wusste auch nicht, ob er auf einen Menschen schießen könnte, selbst wenn es ein Mörder wäre.
„Du brauchst nicht zielen, das tut die Waffe von allein“, beruhigte Maya ihn. „Wenn du Angst hast, brauchst du nicht einmal den Abzug zu drücken, sie schießt auch von selbst. Aber in dem Fall werde ich merken, dass du dich meinen Befehlen widersetzt hast. Eventuell zielt die Waffe danach auf dich.“
Ihr Lächeln war freundlich und es lief Max eiskalt den Rücken herunter.