Van Helsings Kinder:
„Ihr müsst auf die Ratten aufpassen“, erklärte Maya ihnen im Flüsterton.
„Ratten?“, fragte Amy und wirkte alles andere als begeistert.
Mira widerstand dem Drang, ihrer Schülerin dafür einen Klaps zu versetzen. Das Ungeziefer war jetzt wirklich ihre geringste Sorge!
„Ja. Sie erstatten den Vampiren Bericht“, antwortete Maya. „Sie haben früher immer eine Ratte oder eine Fledermaus zu uns geschickt, wenn wir Nachrichten austauschen mussten.“
Amy schüttelte sich. Mira fand es ziemlich unpassend, dass jemand, der einen Werwolf getötet hatte, sich vor Ratten fürchten sollte.
Andererseits war ihr Leben sowieso verrückt. Ausgestattet mit dünnen Holzpflöcken und Kreuzen um den Hals huschten sie durch den Garten. Ihr Plan war es, erst nach dem Morgengrauen anzugreifen, wenn die Vampire wehrlos waren. Allerdings hatten sie nicht bedacht, dass die Vampire womöglich andere Pläne hätten.
Maya hatte ihnen erzählt, dass sie von drei Vampiren wusste, die unter dem Hotel lebten, nachts aber aufstiegen und das Blut der Gäste tranken. Sie wusste auch, wo die Gruft begann, und zwar in dem Keller, in dem Milo damals zusammengebrochen war, ohne sich hinterher an etwas erinnern zu können.
„Da müssen wir hin?“, fragte Luca.
„Oh, wir können es auch lassen und die Vampire treiben weiter ihr Unwesen“, hatte Samstag erwidert.
Jetzt mussten sie sich jedoch zuerst verstecken, denn die Toten wandelten unter den Lebenden und hatten wohl nicht vor, die mit Pflöcken bewaffneten Eindringlinge am Leben zu lassen.
„Da kommt wieder einer!“, hauchte Maya. Eine große Wolke Fledermäuse flog ihrem Meister voraus. Maya, Sam, Luca, Amy und Mira duckten sich hinter eine Hecke. Zum Glück war der Garten so verwildert, dass man viele Schlupfwinkel fand. Die Wildblumen überdeckten auch hoffentlich ihren Geruch. Mira merkte, wie sie zitterte, als der Vampir näher kam. Die Luft wurde kälter. Dann ertönte laut das Rascheln der Fledermausflügel, als der Schwarm über ihnen dahin glitt.
Unter dem Rascheln bemerkte Mira plötzlich etwas anderes – eine Stimme, die leise sang.
Bevor sie sich die Ohren zuhalten konnte, was in solchen Situationen immer empfehlenswert war, hatte sich der Gesang in ihren Gehörgang gegraben. Kühl wie Wasser tröpfelte er in ihr Gehirn und schaltete alles ab. Mira lag regungslos auf dem Rücken und lauschte dem Lied verzückt. Was für eine wundervolle Stimme, was für eine traurige Melodie! Sie merkte, dass es sie zu Tränen rührte. Wer immer da sang, sie musste aufstehen und sie trösten.
Ohne zu wissen, wie sie auf die Beine gekommen war, fand sie sich plötzlich vor dem Vampir wieder. Es war eine Frau, und der Schreck über ihr fahles, ausgehungertes Gesicht riss Mira ein Stück weit aus ihrer Trance. Die Haare türmten sich wirr auf dem Kopf, die dürren Finger mit den Krallen daran streckten sich nach ihr aus, voller Verlangen, voller Gier. Ein Wirbel schwarzer Flugtiere fasste sie beide ein.
Ekel regte sich in Mira. Das Lied versuchte, ihn zu bekämpfen.
Sie musste sich an etwas klammern, das wirklich war, erinnerte Mira sich träge. Ihre Hand tastete und fand das Kreuz. Seine Kanten bohrten sich in ihre Hand, als sie zupackte.
In der anderen Hand spürte sie plötzlich den Pflock. Der Vampir fauchte, als sie damit ausholte und zustieß.
Das Holz zersplitterte, ohne tief in die magere Brust einzudringen. Die Vampirin schlug zu, Krallen kratzten über Miras Gesicht. Sie landete seitlich in einer Hecke und gab ein leises „Umpf“ von sich, als sie auf dem Boden landete.
Mit einem Schrei stürmte jemand an ihr vorbei.
„Sam!“, keuchte Mira, aber der Wächter beachtete sie nicht. Er schlug seinen eigenen Pflock in die Brust der Vampirin.
Diesmal heulte sie laut auf. Die Fledermäuse kreisten orientierungslos um sie und verschwanden dann in alle Himmelsrichtungen.
Keuchend stand Sam auf, zückte sein Messer und stürzte sich auf den Hals der Untoten. Mira wandte eilig den Blick ab.
Es säbelte. Sam knurrte. Dann hörte Mira Gluckern und Spritzen, wie von Wasser.
Blutverschmiert kam Samstag zurück. Mit der einen Hand warf er einen unförmigen Gegenstand mit langen, wirren Haaren weg.
„Nummer Eins“, keuchte er. „Geht auf meine Rechnung.“
Mira rieb sich die Hände an der Hose ab. Ein paar Splitter hatten ihre Haut aufgerissen. „Wir sollten zusehen, dass wir hier weg kommen. Die anderen Vampire werden sicher nachsehen wollen, was ihrer Freundin passiert ist.“
Sam nickte. Luca, Amy und Maya folgten ihnen eingeschüchtert.