Schuld und Erinnerung:
Amy saß auf dem kalten Boden und spürte jeden Stein an den Schienbeinen. Das feuchte Moos hatte ihre Hose durchtränkt, der Winter drang endgültig durch ihre Jacke hindurch.
Sie schlang die Arme um den Oberkörper und kämpfte gegen die Tränen. Wie Sam befohlen hatte, kreisten ihre Gedanken um ihre Freunde. Eve, die überhaupt nicht mitgewollt hatte, Milo, der nur versucht hatte, sie zu beschützen. Liam, der kleine, ängstliche Liam, das Maskottchen ihrer Clique.
Amy weinte. Der Wald verschwamm vor ihren Augen. Luca hatte die Tour entdeckt, und Amy hatte die ganze Fahrt geplant. Sie hatten Milo nicht groß überreden müssen, wohl aber Eve und Liam. Das gab Amy die Schuld an ihrem Tod. Ohne sie wären die beiden niemals mitgefahren. Sie würden noch leben, wären in Sicherheit.
Und wenn Amy Luca diese Show nur ausgeredet hätte, dann wären sie alle noch zu Hause, oder würden studieren. Praktika machen. Einander wie alle anderen Schulfreunde aus den Augen verlieren und wieder finden. Sie wären alle normale Menschen geblieben.
„Es tut mir so leid!“, flüsterte sie in den eisigen Wind. Ihre Lippen bebten, waren aufgesprungen. Ihre einzige Möglichkeit war es jetzt, Samira zu besiegen, um den Tod ihrer Freunde zu rächen. In der Jackentasche ballte Amy die Hände zu Fäusten. Im Irrenhaus hatte man ihnen die Handys abgenommen. Jetzt war ihnen endgültig nichts von ihren Freunden geblieben.
Als Amy blinzelte, waren ihre Wimpern mit Tränen zugefroren. Sie riss mit einiger Anstrengung die Augen auf.
Frost kroch blau schimmernd über die Lichtung. Zwischen den Baumstämmen drang dichter Nebel hervor, und dann hörte Amy eine Stimme, die ihren Namen rief.
„Aaaaaamyy!“
Sie sah auf. Das war Eves Stimme! Aber das konnte nicht sein!
Sie merkte, dass Luca sich ebenfalls bewegte. Sie warf ihm einen Blick zu und sah ihre Angst auf seinem Gesicht gespiegelt.
„Aaaaaaaamyyy!“, kam es wieder aus dem Wald. „Komm her, Amy!“
Sie stand auf. Ihre Beine waren steif und taub. Sie sah, dass Sam und Mira bereits standen, die Messer gezückt.
Dann kamen sie aus dem Wald, drei hohe, schlanke Gestalten, in zerrissene, weiße Kleider gehüllt, Gesichter mit schwarzen Löchern statt Mund und Augen und ohne Nase. Die dürren Arme so weiß wie die einer Frostleiche.
Die weißen Frauen hatten keine Füße. Sie schwebten über das Gras, das vor Frost klirrte. Amys Atem stieg als dichte Wolke auf, während sie nach ihrer Waffe tastete.
Sie bekam den Griff zu fassen, als Sam sich auf die vorderste Frau stürzte. Die kreischte auf, als das Messer in ihre Brust drang, und für Amy war es, als würde ein Traum zerspringen. Plötzlich verschwand ein Rauschen aus ihren Ohren, das sie zuvor nicht einmal bemerkt hatte.
„Sie fliehen!“, brüllte Mira und stürzte sich auf die zweite Frau, während Sam die erste zu Boden gerungen hatte.
Amy und Luca rannten beide auf die dritte zu. Amy stieß ihr das Messer in den schmalen Rücken, Luca packte einen Arm. Die Frau kreischte. Hässliches, schwarzes Blut sprudelte aus der Wunde und auf die Lebenden. Die Frauen wälzten sich am Boden, vertrockneten beim Zusehen zu schwarzen, deformierten Leichen, klein wie Kinder.
Es war schneller vorbei, als Amy den Gedanken fassen konnte. Drei unförmige Klumpen blieben auf der Lichtung zurück, mehr nicht.
Und es war immer noch kalt.