Die Herzkönigin:
"Was soll das denn?", fauchte Max. "Die sind nicht einmal aus Esspapier!"
Der Junge starrte mit einem Ausdruck der Empörung auf die Spielkartenkrieger, die um den Fuß der großen Glassäule spülten, auf deren oberer Fläche Kassie, Mo, Karo und Max standen.
"Wir haben es auch erst gerade verstanden", sagte Mortimer in versöhnlichem Tonfall. Nach seinem Wutausbruch kurz zuvor schien er sich jetzt entschuldigen zu wollen. "Es sind die Soldaten der Herzkönigin. Das hier ist nicht nur ein Kinderparadies, sondern auch Alice' Wunderland."
Max starrte Mo entgeistert an. "Was?"
"Naja, mit ein bisschen Glück treffen wir den Hutmacher oder das weiße Kaninchen", Mo zuckte mit den Schultern. "Ich glaube aber eher, dass wir allerhöchstens die Herzkönigin treffen. Seht mal."
Mo deutete zum Waldrand, wo sich soeben eine große, rote Gestalt aus dem Schatten schälte.
Kassie kannte die Wunderland-Geschichte, wenn sie ganz ehrlich war, nur aus den Filmen von Tim Burton, doch mit einer großköpfigen Helena Bonham Carter hatte dieses Wesen wenig gemeinsam. Es erinnerte eher an eine riesige, lackrote Gottesanbeterin, die sich mit ungelenken Schritten auf dürren Beinen vorwärts bewegte. Der Körperbau war annähernd menschlich, mit Armen, Beinen und einem dreieckigen Insektenkopf, doch alle Gliedmaßen waren grotesk verlängert und dürr, mit knotenartigen Gelenken. Am Kopf befanden sich zwei lange Fühler, die in herzförmigen, organischen Auswüschen endeten.
"Was zur Hölle?", entfuhr es Max.
Das Wesen war groß genug, um sie mit seinen Greifzangen sogar auf der Säule zu erreichen. Seine Haken an den Füßen und Händen spießten Kartenkrieger auf, als die Königin auf ihre Beute zu kam.
"Das nenne ich mal eine Neuinterpretation", murmelte sie.
"Naja, hält sich nicht wirklich an die Buchvorlage, und wenn man mal ehrlich ist, ist das auch ein echt fantasieloses Design", antwortete Mo.
"Warum seid ihr so?", fragte Karo ängstlich. "Wieso müsst ihr ständig eure dummen Witze reißen? Wir könnten hier jeden Moment sterben!"
"Wissen wir", Kassie lächelte ihrer ehemaligen Mitbewohnerin traurig zu. "Das ist ein Trick von Sam und Mira. Es hilft gegen die Angst."
Karo sah sie an, als zweifele sie an Kassies Verstand. Und Kassie hatte einen Geistesblitz. Ging es im Wunderland nicht darum, verrückt zu sein?
"Hey, guten Morgen!", rief sie der Herzkönigin zu und winkte. "Majestät, Ihr seht heute bezaubernd aus!"
"Was tut sie da?", hörte sie Max hinter sich flüstern.
"Keine Ahnung", antwortete Mo, "aber sie hat bestimmt einen Plan."
Die riesige Gottesanbeterin blieb stehen und klickte mit den Greifzangen.
"Wir haben Ihre Rosen gesehen, ein wirklich zauberhaftes Rot", fuhr Kassie fort. Obwohl ihr das Herz bis zum Hals schlug, versuchte sie, ihre Stimme gelassen klingen zu lassen. Fieberhaft überlegte sie, was sie sonst noch von der Herzkönigin wusste.
Die Gottesanbeterin stieß einen schrillen Schrei aus und die Soldaten hämmerten heftiger gegen die Säule. Feine Risse durchzogen das Glas.
Mit weiten Schritten kam die Königin auf sie zu, weitere Soldaten unter sich zertrampelnd und eindeutig wütend.
"Hat nicht funktioniert", teilte Kassie den anderen mit. "Plan B!"
"Wir haben keinen Plan B!", fauchte Mo. Panik klang in seiner Stimme mit.
Max griff ihre Arme und zog sie nach hinten. "Springt!"