Anfang November 1254
Es war eine plötzliche Laune gewesen, die den Geist bewogen hatte, den Jungen für den letzten Teil der Reise in ein Fass zu stecken. Diese Laune versetzte Tarun in helle Panik. Zwar hatte der Geist Luftlöcher in das Fass stechen lassen, aber für Tarun bedeutete es dennoch, dass er stundenlang gegen das Gefühl ankämpfen musste, zu ersticken, ebenso lange den Schmerz seiner verkrampften Glieder zu ertragen hatte, und über allem stand die Frage, ob ihn am Ziel der Reise nicht noch Schlimmeres erwartete.
»Du da, sei vorsichtig mit dem Fass«, befahl der Geist und versetzte dem unachtsamen Schiffer einen Klaps hinter die Ohren. »Ich kann es nicht ausstehen, wenn meine Waren beim Transport Schaden nehmen. Also sieh zu, dass die Sachen ordentlich vertäut werden. Wenn ich sehe, dass mein Fass während der Fahrt an Deck herumrollt, kannst du was erleben.«
Während der nun folgenden Geschäftigkeit hatte Tarun kaum Zeit, dem bohrenden Angstgefühl in seinem Bauch Beachtung zu schenken. Sein Behältnis wurde über den Boden gerollt, dann hochgehoben und schließlich mit einem unsanften Ruck wieder abgestellt. Tarun fühlte sich wie erschlagen von den unzähligen schmerzhaften Stößen, die er hatte einstecken müssen.
Rufe ertönten, Stoff knatterte im Wind, Holz knarrte, woraus er schloss, dass er sich erneut auf einem Schiff befand. Doch wohin brachte es ihn? Warum war er plötzlich in dieses schreckliche Gefängnis gesteckt worden, nachdem der Geist ihn doch zuvor kaum beachtet hatte? Bestand die Gefahr, dass er auf diesem Teil der Reise etwas wiedererkennen könnte? Nur was?
Sich den Kopf über diese Frage zu zermartern, lenkte ihn ein wenig von seinen Schmerzen und seiner Angst ab. Irgendwann fielen ihm die Augen zu und er döste ein.
Ein leichter Nieselregen fiel auf die gesenkten Köpfe der Männer und benetzte die lautlos ins Wasser tauchenden Ruder. Auf dem Deck herrschte Totenstille, niemand sprach ein Wort. Das Festland, das vor ihren Augen auftauchte, lag unter einem Nebelschleier verborgen, der mit jedem Schlag der Ruder dichter zu werden schien. Hinter der Nebelwand erhob sich die Ehrfurcht gebietende Silhouette der Schneeberge. Das wusste er, weil ihn sein Onkel einmal mit auf den Glockenturm von San Marco genommen hatte. Von dort hatte er weit über die Dächer von Venèzsia bis zum Festland blicken können. Die Berge füllten den Horizont vollkommen aus und schienen eine nahezu unüberwindliche Barriere zu bilden. Doch von seinem Lehrer wusste er, dass hinter den Bergen das Land der Tedeschi lag, mit seinen Handelsstädten Augsburg und Nürnberg.
In diesen Stunden auf dem Boot jedoch, irgendwo zwischen Dämmerung und Tag konnte er das Meer zwar hören und riechen, aber mehr ahnen als wirklich sehen.
Als der Kiel des Bootes endlich über den nassen Sand knirschte, war die Dämmerung einem trüben Morgen gewichen. Er sprang mit seinen Kameraden in die anrollende See und zog den Bootsleib noch ein paar Fuß weiter auf den Strand.
Dann ging alles sehr schnell. Die Männer luden einige Ballen und Kisten aus dem flachen Stauraum unter Deck und stapelten sie im Sand. Fünf der Männer schoben das Boot zurück ins Meer. Als das Wasser ihnen schon bis zur Hüfte reichte, gaben sie dem Boot einen letzten Stoß und zogen sich an Bord. Die Ruder wurden aufgenommen, senkten sich im Gleichtakt, das Boot nahm langsam Fahrt auf und war bald im Dunst verschwunden.
Ein Mann mit einem Eselskarren trat aus den Schatten heraus und kam auf sie zu. Mit einer Geste gab er ihnen zu verstehen, dass sie sich mit dem Aufladen beeilen sollten.
Wenig später setzte sich die kleine Kolonne in Bewegung.
Der Regen war stärker geworden; lautlos fiel er auf Karren und Esel und die sieben Männer, die zu Fuß nebenher liefen.
Während der nächsten Tage regnete es ununterbrochen. Vielleicht war dies der Grund, warum die Männer weniger aufmerksam waren - vielleicht war es auch der Anblick der Schneeberge, die bis in den Himmel zu reichen schienen, der sie über Gebühr ablenkte.
Als sie vom Talgrund aus einen Hügel hinaufstiegen und um eine Kurve bogen, brach vor ihnen eine Schar Vögel aus den Sträuchern, die die Böschung links und rechts bedeckten. Der Esel musste sie aufgeschreckt haben. Trotzdem beschlich Tarun ein seltsames Gefühl. Wenn jemand mitbekommen hatte, was sie mit sich führten …
Der Anführer ihrer Kolonne schien ähnliche Befürchtungen zu hegen. Mit einer Handbewegung forderte er die Männer auf, ihre Waffen bereitzuhalten. Der Karrenführer trieb seinen Esel zu einem holprigen Trott an. Die Männer folgten ihm im Laufschritt um die letzte Biegung der Kurve und sahen sich, völlig überraschend und wie aus dem Boden gewachsen, einer Schildwand gegenüber. Vermummte Gesichter über Panzerhemden, Speere, die sich ihnen bedrohlich entgegenreckten. Die Männer rissen ihre Waffen hoch, warfen sich brüllend auf die Angreifer und verwickelten sie in ein wildes Handgemenge, während er tat, was man ihm für einen Fall wie diesen eingeschärft hatte: Er schlug sich in die Büsche und rannte.
Doch sie bemerkten seine Flucht und drei der Vermummten setzten ihm eilig nach. Er schlug Haken und wandte jeden Trick an, den er gelernt hatte. Was ihm jedoch nicht viel nützte. Sie holten ihn ein und warfen ihn zu Boden. Er biss und trat um sich.
Jemand schrie. Das Geräusch ging ihm durch Mark und Bein. Farben wirbelten vor seinen Augen, zerflossen zu langen Bahnen. Schwarz und Silber, Rot und Schwarz, Silber und Rot.
Plötzlich stand ein Mann vor ihm. Braune Augen starrten ihn aus einer weißen, leeren Fläche an, dort wo das Gesicht hätte sein müssen. Langsam hob er eine Hand, griff nach einem Fetzen bleicher Haut, der lose von der Schläfe herabhing, und zog daran. Er hörte einen Laut, der klang wie zerreißendes Pergament. Als die Maske zu Boden fiel, wollte er schreien, doch er brachte keinen Ton hervor.
Schweig, Junge, donnerte die Stimme seines Vaters. Was immer sie mit dir tun: Schweig!
Donnernde Schläge rissen ihn aus seiner Benommenheit. Kühle Luft strömte über sein schweißnasses Gesicht und ließ ihn erschauern.
Grobe Hände packten ihn und zogen ihn aus dem Fass. Keuchend schnappte Tarun nach Luft und versuchte zu erfassen, wo er sich befand. Er war tatsächlich auf einem Schiff, oder besser gesagt: Er lag auf den Decksplanken. Verzweifelt begehrte er gegen seine Fesseln auf, versuchte, seine Gliedmaßen zu bewegen, doch es war alles umsonst. In seiner Hilflosigkeit blieb ihm nichts anderes übrig, als der Versuch, so viel wie möglich über seine unmittelbare Umgebung herauszufinden.
Das Schiff war klein, eines jener schnellen Küstenfahrzeuge, mit einem dreieckigen Segel. Tarun zählte fünf Mann Besatzung, barfüßige, raue Gesellen, die ihn misstrauisch beäugten.
»Ich hoffe, das wird nicht zur Gewohnheit bei dir.« Die entnervende Samtstimme des Geistes ertönte hinter seinem Rücken. Schritte näherten sich. Völlig überraschend kauerte sich der Geist neben ihn, hob seinen Kopf an und hielt ihm einen Becher Wasser an die Lippen. »Dein Stöhnen hat die Besatzung nervös gemacht.« Leiser, wie zu sich selbst, fügte er hinzu: »Abergläubisches Pack.«
Tarun schluckte gierig. Das Wasser fühlte sich wundervoll an in seinem Mund und rann wie Balsam durch seine ausgedörrte Kehle. Nachdem er getrunken hatte, zog der Geist eine Taurolle heran und schob sie ihm unter den Kopf, eine Geste, die Tarun erneut aus der Fassung brachte.
Doch er durfte sich von der Fürsorge, die der Geist ihm zuteilwerden ließ, nicht einlullen lassen. Die Nähe dieses Mannes löste eine prickelnde Unruhe aus, ganz so, als sei unmittelbar neben ihm eine Falle ausgelegt, die jeden Augenblick zuschnappen konnte.
Sein Nacken war steif, und ein stechender Schmerz durchzuckte ihn, als er den Kopf anzuheben versuchte. Eine Gruppe weißer Vögel geriet in sein Blickfeld, die ein unmelodisches Kreischen ausstießen. Möwen, dachte Tarun. Folglich musste Land in der Nähe sein. Was er mit dieser Erkenntnis in seiner gegenwärtigen Lage allerdings anfangen sollte, wusste er nicht.
Wenig später kam ein Seemann, packte ihn bei den Schultern und stellte ihn auf die Füße. Ein zweiter warf ihm eine Decke über den Kopf und trug ihn fort. Wieder wurde er in das Fass gesteckt. Die Angst zu ersticken überfiel ihn erneut mit aller Macht. Verzweifelt rang er nach Luft, doch dann erinnerte er sich, dass er ausreichend atmen konnte, wenn er ruhig blieb. Ich will nicht sterben, dachte er, Gott, lass mich nicht sterben.
Schließlich fiel das Segel und der Rumpf des Bootes stieß an den Kai. Das Fass wurde angehoben und getragen, schräg, wohl die Laufplanke hinunter, es holperte und schüttelte. Immer wieder wurde das Fass abgesetzt, wieder angehoben. Die Zeit schien endlos lang. Schließlich blieb das Fass stehen. Jemand öffnet den Deckel und half ihm heraus. Hastig sah er sich um.
In einiger Entfernung stand der Geist und beobachtete die Szene. »Dein neuer Herr ist noch nicht eingetroffen«, sagte er. »Du wirst also noch eine Weile mit meiner Gastfreundschaft vorliebnehmen müssen.« Er wandte sich zum Gehen. »Ich rate dir, mach mir keinen Ärger, Junge. Sonst teilst du schnell das Schicksal deines Freundes Nael. Er dürfte inzwischen tot sein.« Dann war er fort.
Tarun schloss die Augen, schwankte. Assasino, dachte er, Mörderschwein. Du wirst mich nicht weinen sehen.
Die beiden Seeleute ergriffen ihn, brachten ihn in einen fensterlosen Raum und befreiten ihn von seinen Fesseln. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss. Es war dunkel. Er war allein.