Mitten in der Nacht lässt mich ein Geräusch von meinem Schlafplatz auf dem Wohnzimmerteppich auffahren. In dem dunklen Haus ist es unheimlich. Die Stille hat mich schon halb wahnsinnig gemacht - wo ist der Lärm, den ich aus den Ruinen kenne?
Deshalb fällt mir das leise Kratzen auch sofort auf. Ich springe automatisch auf die Beine, jede Faser meines Körper ist gespannt. Ich lege die Ohren an und unterdrücke ein Knurren.
Ich schnuppere: Es ist jemand im Haus. Ich rieche Zigarette, Kälte und Schweiß - es ist jemand Fremdes. Aufgeregt renne ich zweimal im Kreis. Was tue ich jetzt? Wer sich mitten in der Nacht in ein Haus schleicht, kann ja nichts Gutes bedeuten - oder ist das hier oben anders? Es wird doch nicht in den Häusern der Reichen genau die gleichen Diebe wie bei uns geben!
Schließlich entschließe ich mich, zu Misa zu laufen. Ich kratze an der Tür, bis sie mich hört und herein lässt - natürlich bin ich wieder zu aufgeregt, um mich zurück zu verwandeln. Marc wird entsetzt sein, wenn er morgen meine Hand untersucht.
Ich winsele. Misa reibt sich verschlafen die Augen: „Was ist denn los, Wolf?“
Ich lege ein Ohr zurück. Ich bin kein Wolf.
Dann zupfe ich an Misas Nachthemd, darauf bedacht, es nicht zu zerbeißen. Es riecht teuer.
Ich winsele wieder.
„Musst du raus? Warum verwandelst du dich nicht?“
Ich fiepe. Dann deute ich mit der Nase in den dunklen Flur. Und knurre.
Misa legt den Kopf schief. Ich wuffe gedämpft.
Misa beginnt zu flüstern: „Wolf? Ist etwas anders als sonst? Ist Jemand im Haus?“
Ich nicke. Sofort rieche ich, wie Misa Furcht bekommt. Sie schnappt sie eine Statue vom Nachttisch, die schwer aussieht. Es ist ein Mann in langen Gewändern. Mit beiden Händen umklammert sie den Griff und tapst auf bloßen Füßen in den Flur hinaus. Ich folge ihr und spüre ihre Hand auf meinem Rücken, als sie die Statue mit einer Hand wie eine Waffe hoch hebt.
„Zeig mir, wo!“, flüstert sie.
Ich trabe auf drei Pfoten in die Richtung, aus der ich den Lärm gehört habe. Mein Herz klopft schnell, beinahe schneller als Misas. Ich wittere tief und lotse Misa durch das Wohnzimmer und in den schmalen Flur zum Eingang. Dann durch den zweiten Flur weiter, wo es zur Küche und den privateren Räumen geht. Ich spüre, wie Misas Finger sich in mein Fell krallen und ziepen. Es geht auch auf das Schlafzimmer ihrer Eltern zu. Ich laufe schneller, obwohl meine Vorderpfote bei jedem Schritt schmerzt. Die Geruchsspur des Eindringlings ist deutlich: Zigarre. Die gleiche Sorte - in billiger - hatte Storfsön geraucht.
Wir rennen so leise wir können durch den langen Flur und schlüpfen geräuschlos durch die Tür an dessen Ende in das Esszimmer. Ich führe Misa an der Küche vorbei die Treppe hinauf. Das Haus ist auf eine Bergflanke gebaut, das Schlafzimmer von Misas Eltern liegt im ersten Stock, der jedoch durch die Steigung gleichzeitig ebenerdig ist. Deshalb gibt es im Untergeschoss auch keine Fenster nach Hinten. Dort ist der Hügel und damit nur Erde.
Auch hier oben gibt es einen Glasgang mit Aussicht, von dem zwei Türen abgehen. Wir kümmern uns nicht um die Aussicht, denn vor einer der beiden Türen kniet ein Mann im schwachen Mondlicht. Misa hält die Luft an, ich erstarre.
Der Einbrecher bemerkt uns nicht. Er arbeitet hochkonzentriert an dem Schloss zu Marcs Schlafzimmer herum.
Misa ist still geworden. Doch als der Einbrecher die Tür öffnet, kann ich nicht anders, als tief zu knurren. Das Geräusch lässt den Eindringling erschrocken herum fahren. Ich rieche, wie er Angst bekommt.
„Keine Bewegung!“, ruft Misa mit ungewöhnlich hoher Stimme. „Wolf, fass!“
Ich knurre und belle zweimal, bevor ich auf den Einbrecher zuspringe. Leider sieht er meinen Angriff voraus und sein Fuß trifft mich in die Seite. Jaulend schlage ich gegen die Wand, wo ich mich sofort aufrappele. Der Einbrecher hebt einen langen Gegenstand über den Kopf - ein Brecheisen - um mich zu schlagen.
Zu meinem Glück springt Misa dazwischen und schlägt dem Mann die Statue auf den Hinterkopf. Der Einbrecher sackt auf der Stelle in sich zusammen. Seine Beine knicken einfach ein und sein Oberkörper folgt der Schwerkraft.
Ich atme die Luft aus, von der ich nicht gemerkt hatte, dass ich sie angehalten habe. Im Schlafzimmer von Marc geht Licht an: „Was ist das für ein Lärm?“
Als Marc in der Tür erscheint, geben auch Misas Beine nach, als hätte sie sich selbst mit der Statue erwischt. Ich springe an ihre Seite und fange sie auf - mit Menschenhänden diesmal. Misa zittert unkontrolliert. Marc starrt auf den leblosen Einbrecher in seinem Türrahmen.
Mit lauten Schritten poltert auch Velaa aus dem Nebenzimmer herbei. Als sie den Bewusstlosen sieht, schlägt sie die Hände vor dem Mund zusammen.
„Ich habe ihn geschlagen!“, haucht Misa. „Er war an deine Tür, Paps. Wenn Wolf mich nicht geweckt hätte...“
Erst jetzt sehe ich, dass der Einbrecher ein schwarzes Messer im Gürtel trägt, eine rituelle Mordklinge. Er ist ein Assassine!
Velaa hat sich schnell gefasst, kniet sich neben den Bewusstlosen und nimmt ihm die Waffe ab. Dann nutzt sie dessen Gürtel, um ihm die Hände zu fesseln.
„Wir müssen die Polizei rufen.“, sagt sie geschäftigt. Sie sieht Marc an: „Bring Misa ein Glas Wasser, ich setze den Notruf los.“
Plötzlich sind beide verschwunden. Marc kommt jedoch bald mit einem Glas Wasser und einer Wolldecke zurück, in die Misa eingewickelt wird. Meine Hand schmerzt: Die Wunde ist aufgebrochen. Ich widerstehe dem Drang, über den Verband zu lecken. Nicht als Mensch, sage ich mir.
Velaa kommt zurück. Sie trägt nur einen weißen Morgenmantel, ihre rötlichen Haare fallen offen über die Schultern. Doch sie wirkt ruhig und gefasst und kein bisschen so, als wäre sie grade erst aufgewacht. Sie geht zu ihrer Familie: „Das war vermutlich ein politischer Anschlag, um uns einzuschüchtern. Wir dürfen nicht nachgeben. Und vorallem dürfen sie Phosphor nicht entdecken.“
Marc und Misa nicken, beide noch verschlafen und verwirrt. Zum Glück behält Velaa die Kontrolle über die Situation: „Verwandel dich, Phosphor. Du bist der Familienhund - nicht mehr.“ Ich gehorche automatisch. Misa trinkt in langsamen Schlucken ihr Wasser. Sie sieht aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Ich lecke ihr tröstend über die Hand.
Velaa gibt Anweisungen: Misa sei bei Marc gewesen, sie hätten Geräusche gehört und Misa habe in Notwehr mit der Statue zugeschlagen. Keine erstaunlichen Heldenhunde, schärft sie Misa ein. „Am besten, ihr sagt nicht mehr, als ihr sagen müsst.“
Schon klingelt es. Velaa zerzaust sich auf dem Weg zur Tür die Haare. Ich lege mich zu Misas Füßen vor das Sofa. Mein Herz pocht unheimlich laut. Jeder ander Tiermensch würde es auf einen Kilometer Entfernung hören. Mir fällt der Geruch des Mannes auf. Nicht nur Zigarrenrauch, sondern auch ein wenig Öl. Seltsame Kombination.
Velaa führt zwei Polizisten in das Vorzimmer von Marc Schlafzimmer. Sie sind beide sehr kräftig. Ihre Uniformen riechen nach Gummi und Feuer. Der Größere reibt sich das Kinn mit einem Geräusch, als würde man Holz schleifen.
„Das ist also der Einbrecher?“, fragt er.
Velaa nickt. Sie sieht erschöpft und verwirrt aus, als hätte der Einbruch ihr Angst gemacht. Ich kann jedoch keine Angst an ihr riechen.
„Wer hat ihn niedergeschlagen?“, fragt der kleinere Polizist und zieht einen Notizblock hervor.
„Das war unsere Tochter. Mit einer Zierstatue.“, Velaa deutet auf Misa, die sich hastig Tränen aus dem Augenwinkel wischt.
Der kleinere Polizist kniet dicht neben den Einbrecher und untersucht die Wunde. Misa klammert die Finger in die Wolldecke.
„Er ist bewusstlos. Wir werden ihn in ein Krankenhaus bringen.“, gibt der Polizist an. Er schreibt Daten in sein Notizbuch. Misas Hände zittern.
„Es ist nicht weiter schlimm. Du warst sehr mutig.“, Marc lehnt sich zu Misa und reibt ihr die Schultern. Misa nickt, beißt sich auf die Unterlippe.
„Was, glauben Sie, war der Grund für den Einbruch?“, fragt ein Polizist.
„Vermutlich Geld.“, meint Velaa achselzuckend. Ihre Finger zittern ebenfalls, aber ich bin mir sicher, dass sie das vorspielt. Die Polizisten sehen sich im ganzen Raum um. Ihre Blicke fallen auch auf mich und meine verletzte Pfote. Ich bin starr vor Angst und wende den Blick ab. Sie dürfen auf keinen Fall meine Augen sehen! Ein Hund mit grünen Menschenaugen würde sie misstrauisch machen.
Ich strecke den Hals nach Misa und winsele nervös. Mein Schwanz klopft auf den Holzboden. Meine Kehle ist trocken. Misa krault mich abwesend. Ihre Finger sind kalt.
Die Polizisten wenden sich desinteressiert von mir ab. Ich atme so leise und flach wie ich kann.
„Gut.“, sagt der große Polizist. „Da der Eindringling schwer verletzt zu sein scheint, müssen Sie uns bitte den genauen Tathergang schildern.“ Er deutet auf das Notizbuch und sieht alle drei Luminors an.
„Ist es okay, wenn ich die Aussagen meiner Tochter wiederhole? Ich möchte sie gerne schonen.“, fragt Velaa. Die Polizisten stimmen sofort zu und gehen mit ihr ins Nebenzimmer. Misa sieht wirklich elend aus.
Marc atmet leicht auf. Misa zittert noch immer. Ihr Vater nimmt sie in den Arm. Mein Herzschlag beruhigt sich nicht. Ich warte die ganze Zeit darauf, dass aus dem Nebenzimmer ein Schrei ertönt. Die Polizisten hatten Schlagstöcke dabei. Und sie müssen doch merken, dass etwas nicht stimmt!
Die ganze Zeit liegt der gefesselte Einbrecher im Türrahmen. Wir starren ihn an, als könnte er sich jeden Moment erheben und uns von neuem angreifen. Misa weint stumm. Aus einer Platzwunde am Hinterkopf des Mannes sickert Blut. Die Polizisten scheinen keine Eile zu haben, ihn fort zu schaffen. Es wird kalt im Zimmer.
Nach zwanzig Minuten sind die Polizisten endlich fertig. Sie kommen mit Velaa zurück, nehmen den Einbrecher mit und verabschieden sich höflich. Erst, als die Tür hinter ihnen ins Schloss fällt, kann ich ausatmen.
Velaa kommt mit ordentlicher Frisur und vollkommen gefasst zurück. Es ist beinahe, als wäre sie plötzlich wieder eine andere Frau.
„Das war knapp.“, sagt sie und lässt sich auf Misas andere Seite auf das Sofa fallen. Alle drei schweigen eine ganze Weile erschöpft. Misas Hände zittern nicht mehr so stark.
„Was wollte er hier?2, fragt sie ihre Eltern.
Marc zuckt beiläufig mit den Schultern: „Keine Ahnung.“
Mein Rückenfell stellt sich auf. Er lügt! Er hat durchaus eine Ahnung. Aber Misa bemerkt nichts.
Velaa streckt die Beine aus: „Es gibt seltsame Menschen.“
Ich kann hören, dass hinter ihren Worten noch mehr steckt. Misa reagiert nicht darauf.
Plötzlich beugt sich Marc zu mir herunter und krault mir den Kopf: „Eins weiß ich: Wir haben unserem Wolf viel zu verdanken! Er ist ein prima Wachhund!“
Ich sehe Marc Luminor entgeistert an.
Velaa lächelt auch: „Das hast du gut gemacht, Phosphor.“
Velaa Luminor lächelt mich an! Misa stupst mit den Füßen in meinen Rücken. „Natürlich ist er ein guter Wachhund! Er ist der beste!“
Marc legt einen Arm um Misa: „Ihr beide seid die besten, meine kleine Kämpferin!“, verbessert er.
Ich traue mich endlich, meine menschliche Form anzunehmen. Nervös spiele ich an meiner Weste.
„Ich brauche jetzt einen Cherry auf den Schock! Für dich auch?“, Velaa wendet sich an Marc. Der nickt.
„Misa?“ Die zögert überrascht.
„Es ist Medizin!“, wirft Marc ein. Zögerlich nickt Misa.
Und dann: „Du auch, Phosphor?“
Ich schrecke auf. Was? Ich?
Ich will grade ablehnen, da antwortet Marc für mich: „Tu ihm viel Wasser rein.“
Velaa verschwindet durch die Tür. Meine Blicke schießen zwischen dem Flur und Marc hin und her. Haben die vergessen, wer ich bin?
„Entspannt dich!“, flüstert Misa und stupst mich wieder an. Ich sitze im Schneidersitz auf dem Boden und mein Rücken ist ihr schutzlos ausgeliefert. Ich rücke meinen Verband zurecht. Marc streckt die Hand aus und begutachtet die Wunde: „Ich fürchte, jetzt muss es doch genäht werden.“, sagt er. Ich bin zu betäubt, um auch noch davor Angst zu haben.
Velaa kommt mit vier Gläsern auf einem Tablett zurück. Sie gibt jedem jeweils eines - meines hat eine rosa Färbung statt hellrot. Ich schnuppere vorsichtig. Das Getränk riecht scharf und säuerlich. Ich nehme einen kurzen Schluck. Es schmeckt alles andere als gut.
Velaa trinkt ihr Glas in einem, Marc in drei Zügen. Misa trinkt genauso vorsichtig wie ich. Nach ein paar Schlucken breitet sich ein leichtes Kribbeln in meinem Bauch ein. Ich sehe mich um. Sehe ich schon verschwommen? Oder fühle ich mich anders?
Eigentlich spüre ich nichts, aber langsam entspanne ich mich.
„Er würde einen guten Familienhund abgeben.“, meint Marc aus heiterem Himmel. Vermutlich hat ihn der Cherry um den Verstand gebracht. Er sieht Velaa an: „Was meinst du?“
Misas Augen leuchten auf: „Ja! bittebittebittebitte, Mama! Lass ihn hierbleiben, ja?“
„Ähm.“, wende ich ein.
Velaa legt den Kopf schief. Dann legt sie ihn auf die andere Seite. Der prüfende Blick ihrer Augen lässt mich verstummen.
„Mam?“, fragt Misa gespannt. Ich schlucke. Mein Hals ist plötzlich so trocken!
„Aber niemand darf wissen, dass er ein Cereceri ist. Er geht nur als Hund aus dem Haus. Und er braucht ein Halsband!“, sagt Velaa. Misa macht aus dem Sitzen heraus einen Luftsprung. Mir fällt die Kinnlade nach unten. Marc prostet mir mit dem leeren Glas zu.
„Auf unseren neuen Wachhund Wolf!“, ruft er.
„Auf Wolf!“, ruft Misa und fällt mir um den Hals.
Velaa lächelt dünn und zwinkert mir zu.
Vielleicht muss ich mich ja doch nicht darauf vorbereiten, von meiner Mutter in Stücke gerissen zu werden. Das machen schon die widerstreitenden Gefühle in meiner Brust.