Wie immer in der Nacht:
Nach dem Essen hatten sie einen Versuch unternommen, mehr über Lucas und Fays Verschwinden herauszufinden. Doch kaum, dass sie auf dem Gang standen und sich berieten, tauchte eine Putzfrau auf, die den Boden in ihrer unmittelbaren Umgebung wischte und nicht weiter zog. Schließlich gingen sie auf ihr Zimmer, wo Milo sich erschöpft auf sein Bett fallen ließ. Sie hatten die Trennwand noch geöffnet und den Stuhlkreis noch aufgebaut. Irgendetwas sagte Milo, dass sie auch diese Nacht nicht wirklich schlafen würden.
Eve setzte sich neben ihn auf das Bett, die Arme vor der Brust verschränkt und mit düsterem Gesichtsausdruck.
"Was ist, Babe?", fragte Milo sie und berührte ihren schmalen Rücken. Eve seufzte: "Es ist meine Schuld!"
"Was?", fragte Milo und setzte sich auf.
"Dass Luca weg ist. Wenn ich nicht abbrechen wollte, wäre er nicht alleine losgezogen", Eve schlang die Arme noch enger um den Körper. Milo ergriff ihre Schultern und schüttelte sie leicht: "Es ist nicht deine Schuld. Du konntest ja nicht wissen, was passieren würde. Oder?"
"Nein", seufzte Eve, "trotzdem ..."
"Nichts da, trotzdem!", sagte Milo: "Du kannst nichts dafür!"
Samstag, der schon eine ganze Weile über die Betten in ihrem Zimmer geklettert war, kam jetzt bei ihnen an. Ohne etwas zu sagen, sprang er zwischen ihnen auf die Matratze und streckte sich zu der Wand über dem Kopfkissen.
"Was tust du da?", fragte Milo ärgerlich.
"Suche was", meinte Sam und klopfte gegen das Holz.
Dimitri und Samira standen mit ratlosen Gesichtern in der Mitte des Raumes. Lily, Tee-jo, Wild Child und Mira hüpften genau wie Samstag über die Betten. Liam saß niedergeschlagen auf einem der Stühle und Amy saß neben ihm, einen Block auf den Knie und eifrig damit beschäftigt, zu zeichnen.
Milo sah, wie Samstag etwas von der Wand ab zupfte und in seiner Hosentasche verschwinden ließ. Dann zog er ein Stück Klebeband von einer Rolle ab, die er um sein Handgelenk gestreift hatte, und klebte damit an einer anderen Stelle etwas ab.
"Moment mal, was wird das?", fragte Milo, der mehrere solcher Streifen entdeckte.
Eve, die den Rücken an seinen Bauch gelehnt hatte, versteifte sich: "Ihr glaubt, dass man uns beobachtet?"
Samstag schüttelte den Kopf: "Ich glaube es nicht nur. Hier sind Kameras, und hier", er griff in seine Tasche und zog mehrere kleiner, schwarzer Kästen heraus, "sind Wanzen."
Eve schnappte nach Luft. Auch Milo setzte sich auf: "Was? Warum sollte jemand das tun?"
Auch Amy sah jetzt auf.
"Wir sollten uns hier umziehen!", quiekte Eve.
"Ich weiß noch nicht, was hier gespielt wird", sagte Samstag, "Aber ich werde nicht tatenlos darauf warten, dass es schlimmer wird."
Schweigend beobachteten Milo und Eve, wie Samstag die restlichen Wände abklapperte und schließlich die Wanzen im Wohnzimmer aus dem Fenster warf. Milo fand die Tour inzwischen mehr als nur ein bisschen gruselig. Und er bekam furchtbare Angst, dass Luca etwas wirklich Schlimmes zugestoßen war.
Ziemlich blass kamen sie in dem Sitzkreis zusammen. Obwohl sie jetzt sicher sein müssten, flüsterte Samstag: "Wir werden euren Freund und Fay suchen. Inzwischen lässt sich nicht mehr ausschließen, dass es gefährlich wird. Darum muss jeder von euch unbedingt tun, was ich oder jemand von dne vier Grazien dort sagt, habt ihr das verstanden?"
Milo drückte Eves Hand, vielleicht etwas zu fest. Er hatte Angst. Das war mehr als nur Grusel und Geheimnis. Das hier war ... zu real.
"Was tun wir?", fragte Amy ruhig. Alle anderen tauschten noch Blicke und musterten Samstag und die vier Mädchen mit neuen Augen.
Keiner der fünf hatte sich gesetzt. Sie zückten Taschenlampen und - Eve zuckte zusammen - Klappmesser.
"Was genau seid ihr?", fragte auch Dimitri und musterte die Waffen.
Samstag grinste: "Wir haben zu viele Filme gesehen, nehme ich an."
Die Mädchen nickten bestätigend.
Milo glaubte ihnen nicht vollständig, doch er stellte keine Fragen mehr. In erster Linie, weil Samstag bereits die Tür öffnete und auf den Gang trat.
"Bleibt zusammen", wies die rothaarige Wild Child sie an. Nach dem Duschen hatten die Mädchen offenbar die Kleidung gewechselt, und Wild Child trug jetzt etwas, das wie Roben wirkte: Mehrere weite, übereinander gezogene Stoffe in Herbstfarben. Unzählige Stoffbahnen hingen zu ihren Seiten herunter. Es wirkte ziemlich anthroposophisch, soweit Milo das beurteilen konnte.
Eve ließ seine Hand nicht los, als er Samstag folgte. Ihre Handflächen, die aneinander rieben, waren schwitzig. Milos leichte Stoffjacke war mit einem Mal viel zu warm.
Sie kamen ungesehen bis ins Foyer und schlichen, da die Schalter auch so spät am Abend noch besetzt waren, durch den menschenleeren Garten. Das Gras war nass vom Regen.
Amy hatte sich tagsüber einen Überblick verschafft und wusste, durch welche Tür sie in den Gang zur Küche kamen. Sie war versperrt, aber Samstag machte kurzen Prozess.
Die Küche war leer und dunkel. Die Gruppe fand mehrere Türen, die von dem Gang abgingen, und suchte sie systematisch ab. Samstag klopfte in einem bestimmten Rhythmus gegen die Metalltüren - und in einem Gang antwortete ein ähnliches Klopfen.
"Fay!", rief Mira sofort.
"Mira?", kam die gedämpfte Stimme aus einem abgeschlossenen Raum.
"Haha, wir haben sie!", jubelte Samstag und zückte eine Haarspange.
Wild Child trat an die Tür zum Gang und stand Wache, während Samstag das Schloss knackte wie ein Meisterdieb.
Im Licht der Taschenlampen blinzelten ihnen Fay und Luca entgegen.