Allein, allein:
Mortimer tastete sich über das Netz aus bunten Seilen. Er hörte das unheimliche Stöhnen seiner Verfolger nicht mehr, trotzdem fühlte er sich nicht sicher. Er lief weiter, bemüht, keinen Lärm zu machen. Wo war der Rest der Gruppe?
„Kassie? Kassandra!“, rief er leise. Doch es war still. Kein Geräusch drang an seine Ohren. Es war, als hätte sich der Nebel in Watte verwandelt, und als würde diese Watte seine Ohren verstopfen. Mo hastete weiter und kam an eine Leiter, die ihn weiter nach oben führte. Er erreichte ein Baumhaus, das – soweit er es erkennen konnte – in dem Geäst eines alten, toten Baumes errichtet war.
Ach hier fand er keine Spur seiner Freunde. Langsam musste er sich eingestehen, dass er sie verloren hatte. Er hatte Karos Hand losgelassen, um mit der Pistole besser zielen zu können, in dem Glauben, dass er sie schon wiederfinden würde.
Er hatte sich geirrt. Irgendwann hatte die Gruppe einen anderen Weg genommen, und Mo war in die falsche Richtung weiter gegangen. Jetzt war er allein.
Er durchquerte das Baumhaus, das einmal geräumig und wunderschön gewesen sein musste. Jetzt war das Gebäude – infolge des Wachstum des Baumes – schief und krumm. Die Wände drehten sich, die Türen und Fenster waren herausgebrochen, nur noch klaffende Löcher blieben. Das Holz war morsch unter Mos Schritten. Er ging weiter, rutschte über grün angelaufene Holzbretter und brach einmal sogar durch den Boden – zum Glück konnte er sich sofort festhalten, doch die Holzsplitter bohrten sich trotzdem in seinen Knöchel.
Als er ein Seil entdeckte, das nach unten führte, rutschte Mo ohne Zögern hinab. Alles war besser, als sich weiter in diesem verdrehten, nicht enden wollendem Alptraum von einem Baumhaus aufzuhalten.
Er landete auf einem asphaltierten Weg und merkte zu seinem Erstaunen, dass der Nebel sich ein wenig gelichtet hatte. Im gleichen Moment rieb er sich die Augen, denn er erkannte hohe Bürogebäude mit Glasfassaden, eine Straßenzeichung, Bürgersteige, Mülleimer, Straßenlaternen, Vorgärten mit Hecken – er war nicht länger im Vergnügungspark.
Verwirrt sah Mo sich um. Hatte er den Park überlebt und die nächste Welt betreten? Etwas an dieser immer noch von Nebel verhüllten Stadt machte ihm Angst. Je weiter er ging, desto deutlicher fiel ihm auf, dass er allein war – keine Menschen gingen über die Straßen, nicht einmal ein Auto war zu hören. Entmutigt schlich Mo durch die eintönigen Straßen, die immer genau gleich breit, lang und gerade waren – es gab ausschließlich Winkel von neunzig Grad, jede Hauskante, der Bordstein und auch die Fenster schienen wie mit dem Lineal gezogen. Die Mülleimer und Laternen boten keine Abwechslung, denn nichts unterschied die einzelnen voneinander. Mortimer fand sich in einer Copy-Paste-Welt wider. Er hatte das Gefühl, immer und immer wieder durch die gleiche Straße zu laufen.
Bis sich etwas änderte: Plötzlich erklangen Geräusche, Schritte und leise Stimmen. Mortimer sah sich nach einem Versteck um, doch es gab keine Deckung. Die Schritte kamen plötzlich von überall, und im nächsten Moment wurde die Welt überrannt.
Menschen in grauen Anzügen tauchten aus dem Nebel auf. Sie marschierten im Gleichtakt über die Bürgersteige, in perfekten Reihen, folgten einem Weg wie Straßenbahnen auf den Schienen. Auf der linken Seite liefen sie in die eine, auf der rechten in die andere Richtung. An den Kreuzungen löste sich ein dünner Faden von den menschlichen Kolonnen, und wechselte die Straßenseite – es waren vier dünne Fäden, jeweils zu jeder Richtung, sodass ein Quadrat entstand.
Mortimer stand auf der Straße, drehte sich im Kreis und sah in die grauen, leeren Gesichter der Menschen. Sie liefen im gleichen Rhythmus, monoton geradeaus, sahen nicht zur Seite, nicht nach unten. Sie redeten, aber nicht miteinander: Jeder murmelte leise und flüstern vor sich hin.
Ohne es zu wollen, setzte Mo sich in Bewegung. Er wollte anhalten, aber seine Beine gehorchten ihm nicht. Als er an sich herab blickte, merkte er, dass seine Hose grau war, und das Grau kroch immer höher an ihm herauf, färbte ihn ein.
Er schrie. Aus der Jeans wurde eine graue Anzughose, aus dem T-Shirt eine Jacke, seine Haut verlor jede Farbe, wurde fahl und trocken. Die Verwandlung ging von unten nach oben, bald konnte Mo nicht einmal den Kopf bewegen. Er hatte sich längst in eine der Kolonnen eingereiht, in einen leeren Platz, der nur auf ihn gewartet zu haben schien.
Er wurde Teil dieser mechanischen Straße, so sehr er sich wehren wollte. Das Grau kroch höher, verschlang ihn.
„Nein!“, schrie Mo in seinem Inneren.
Aber nach Außen war er Luca Jones, und er befand sich auf dem Weg zur Arbeit, wie jeden Morgen um sechs Uhr, setzte die Füße genau dort auf, wo er sie jeden Tag aufsetze, wo hunderte und tausende der Grauen Männer bereits kleine Kuhlen im Asphalt hinterlassen hatten, von Schuhen, die alle die gleiche Größe besaßen.
Luca Jonas war Teil der EINHEIT.