Es mangelte Ravena nicht an Freiwilligen, die sie auf der Reise begleiten wollten. Sie wählte fünf ihrer zuverlässigsten Soldaten aus, dazu drei Knechte, die sich um das Gepäck und den späteren Rücktransport der Pferde nach Rocca d´Aquila kümmern sollten. Wobei sie sehr schnell bemerkte, dass die Männer sich Nael zum Anführer wünschten. Seit dem Kampf auf der Wiese brachten sie ihm eine neue Art von Respekt entgegen, der vorher nicht da gewesen war. Das erfüllte sie einerseits mit Freude, andererseits machte es sie ärgerlich. Lange genug hatte sie sich um alle Belange ihrer Burg gekümmert und niemand hatte einen Grund zur Klage gehabt. Doch nun schob man sie zugunsten eines Mannes einfach beiseite. Es fiel ihr schwer, sich damit abzufinden. Ihr Stolz litt. Trauten ihre Leute ihr etwa nicht zu, mit der ungewohnten Situation fertig zu werden?
Doch sie war einsichtig genug, keinen Machtkampf vom Zaun zu brechen. Denn Nael machte seine Sache gut.
Zu Ravenas Verblüffung bestand er darauf, dass ihre Begleitsoldaten die Grundzüge der Bootsführung erlernten - ein Gedanke, der ihr niemals gekommen wäre. Er bewies Organisationstalent und Umsicht und fand Lösungen für Probleme, von denen sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie existierten. Selbst Arel schwärmte davon, wie segensreich Naels Detailversessenheit für ihre kleine Truppe war. Es würde ihnen weder an Proviant, noch an Pferden, Ausrüstung oder Kenntnissen mangeln.
Ravena wünschte, der Tag der Abreise käme endlich herbei. Doch bevor sie aufbrechen konnten, musste sie Nael das Versprechen abringen, auf Rocca d´Aquila zu bleiben.
Zwischen dem täglichen Waffentraining, den Vorbereitungen und dem Unterricht im Segeln und Rudern, schien es jedoch kaum einen Augenblick zu geben, in dem Nael nicht von den Burgleuten oder den Kindern umlagert war. Sie war versucht, die Burgherrin herauszukehren und ihn zu einer Unterredung in ihre Kammer zu zitieren. Gerade wollte sie Peire damit beauftragen, ihn zu suchen, als sie sah, wie Nael alleine den Garten betrat. Eilig folgte sie ihm.
Sie fand ihn an seinem Lieblingsplatz neben der Rosenlaube. Er saß mit untergeschlagenen Beinen im Gras, die Hände im Schoß und hielt die Lider geschlossen. »Setz dich einen Moment zu mir«, sagte er, ohne die Augen zu öffnen.
Sie suchte sich eine Stelle, die von der Nachmittagssonne gewärmt wurde, und ließ sich neben ihm im Gras nieder. »Woher wusstest du, dass ich es bin?«
»Mein Herz kann dich fühlen«, sagte er und schenkte ihr ein verlegenes Lächeln. »Es beginnt sofort schneller zu schlagen, sobald du in meine Nähe kommst.«
Sie schüttelte belustigt den Kopf. »Was bist du doch für ein glattzüngiger Schmeichler.«
»Es ist keine Schmeichelei, Ravena. Nur die Wahrheit.«
»Ich weiß.«
»Aber es gefällt dir nicht.«
»Es verwirrt mich.«
»Herrje, Ravena, warum denn das?«
Ravena beugte sich nach vorne, zupfte einen Grashalm aus und begann rastlos damit zu spielen. Schließlich sagte sie: »Weil du solche Dinge sagst und mir trotzdem meinen sehnlichsten Wunsch nicht erfüllen willst. Ja, ich glaube, das ist es, was mich so verwirrt. Und enttäuscht.«
»Enttäuscht? Komm schon, mach mir nichts vor. Du hast überhaupt keinen Grund enttäuscht zu sein. Ich sorge dafür, dass die Reise tadellos vorbereitet wird und das in der Hälfte der Zeit, die du allein dafür gebraucht hättest.«
»Du verfügst ganz selbstverständlich über meinen Haushalt, du scheuchst meine Leute umher wie ein Feldherr und lässt sie schuften wie Sklaven. Du verwandelst dich vor meinen Augen in einen Mann, den ich kaum wiedererkenne.«
»Was hast du dir denn vorgestellt?«, entgegnete Nael aufgebracht. »Glaubst du, Taruns Entführung berührt mich nicht? Ich sage dir eins, Ravena: Sie macht mir zu schaffen! Vielleicht mehr als dir …«
»Mehr als einer Mutter?« Ravena schnaubte. »Das sollte kaum möglich sein.«
Er schwieg mehrere Herzschläge lang, dann schüttelte er den Kopf. »Du musst dich nicht mit dem Gedanken herumschlagen, Anlass für seine Entführung zu sein.«
Ravena war für einen Moment sprachlos, denn mit dieser Antwort hatte sie nicht gerechnet. Dann erwiderte sie: »Die einzige Verbindung, die ich zwischen dir und dem Jungen erkennen kann, ist Venedig. Und da wissen wir ja nicht einmal sicher, ob es tatsächlich Taruns Heimatstadt ist. Wie kann seine Entführung da mit dir zusammenhängen?«
»Ursache und Wirkung, Ravena. Tarun ist der Köder, der mich nach Venèzsia locken soll.«
»Das Problem ist einfach zu lösen, Nael. Bleib hier. Auf Rocca d´Aquila bist du sicher.«
Sie sah in seinen Augen, wie sehr ihre Worte ihn aufbrachten, und das machte sie ebenfalls wütend. Es kostete sie Mühe, die Stimme nicht zu erheben, als sie fortfuhr: »Wenn du glaubst, Tarun zu helfen, indem du deinen Feinden bereitwillig in die Arme läufst, dann hast du nicht mehr Verstand als eine Fliege.«
»So siehst du mich also?«, fragte er höhnisch. »Noch vor Kurzem warst du bereit, mir deine geliebte Burg anzuvertrauen.«
Sie nickte. »Das bin ich immer noch. Weil es die richtige Entscheidung ist. Taruns Entführer erwarten dich. Festzustellen, dass du nicht kommst, wird sie an ihrem Plan zweifeln lassen. Sie werden sich fragen müssen, ob sie mit der Wahl ihrer Geisel nicht einen Fehler begangen haben.«
»Nein, danke«, konterte er, ohne sie anzuschauen. »Ich verzichte auf die zweifelhafte Ehre, mich auf deiner Burg zu verstecken. Du magst von einem baldigen Wiedersehen mit deinem Sohn träumen, aber ich nicht. Tarun ist ein hübscher Junge. Er kann so schnell verkauft und auf dem Weg in das Schlafgemach seines neuen Herrn sein, wie sich Brot in den Leib Christi verwandelt. Was dann? Weißt du, welchen Preis ein Lustknabe einbringt, der die Geheimnisse seiner Herrschaften nicht ausplaudern kann? Ein Vermögen!«
Sie nickte nur.
Nael runzelte die Stirn. »Du lässt dich nicht abschrecken.«
»Richtig.«
»Hm.«
Sie ließ ihn nicht aus den Augen. »Was denn, keine Vorhaltungen? Keine Vorwürfe, dass ich unvernünftig bin, meine Freiheit und mein Leben aufs Spiel setze und all das?«
Er schüttelte den Kopf. »Wozu? Ich werde immer in deiner Nähe sein, um dich zu beschützen.«
Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder, sah hilfesuchend zum Himmel und dann wieder zu Nael. »Nein«, sagte sie betont. »Nein, das wirst du nicht.«
»Ravena.« Er sagte nur dieses eine Wort, doch sein Tonfall bewirkte, dass sie jeden Widerspruch hinunterschluckte.
Da war er wieder.
Der unbeugsame Krieger. Dieser Fremde, der ihren Herzschlag zum Rasen brachte.
Sie musterte sein Profil. Seine Gesichtszüge erschienen ihr kantiger, die Wangenknochen klarer ausgeprägt, das Kinn energischer. Noch immer strahlte er diese unterschwellige Wildheit aus, die er aus dem Kampf mitgebracht hatte. Beim Gefecht gegen Staleberc hatte er den Medicus einfach abgestreift wie einen ungeliebten Mantel. Darunter war ein gnadenloser Krieger zum Vorschein gekommen, so leicht und so schnell, als sei er schon immer dort gewesen, und habe nur darauf gewartet, endlich hervorbrechen zu dürfen. Das hatte sie erschüttert. Nicht, dass sie seine Fähigkeiten missbilligte. Ganz im Gegenteil. Ohne sein Eingreifen hätte sie ihre Burg an einen Betrüger verloren.
Doch das Töten hatte Spuren hinterlassen. Einen … Schatten auf seiner Seele. Es war, als ob sich der Krieger dem Medicus nicht länger beugen wollte. Und sie fühlte sich davon angezogen, wie der Falter vom Licht.
Sie ließ den malträtierten Grashalm fallen und legte die Hände in den Schoß. »Ich weiß, dass dir Tarun am Herzen liegt. Deshalb werde ich mit dir nicht über deine Beweggründe streiten. Ich werde sie auch nicht hinterfragen, obgleich ich das Gefühl habe, damit einen schwerwiegenden Fehler zu begehen …«
Er stellte ein Bein auf und verschränkte die Finger um das angewinkelte Knie. »Du misstraust mir«, stellte er fest.
Sie starrte auf ihre Hände hinab. »Nein, ich … ich frage mich nur, ob Arel dir etwas von seinen berauschenden Pilzen gegeben hat vor dem Kampf. Oder was mag es sonst gewesen sein, dass diese erstaunliche Wandlung bewirkt hat?«
Nael zog die Brauen hoch. »Von welcher Wandlung sprichst du?«
»Du hast nicht einen Herzschlag lang gezögert zu töten. Schwert, Messer, Axt, deine Hände - du wusstest genau, wie du sie einsetzen musst, um größtmögliche Verheerung anzurichten.«
»Das Töten war notwendig, Ravena.«
»Ich weiß …« Sie stieß hörbar die Luft aus. »Aber du hättest mich vorwarnen können. Ich bin beinahe gestorben vor Angst.«
»Aha, verstehe. Jetzt ist alles meine Schuld. Ich armseliger Medicus habe es versäumt, der Frau Burgherrin zu berichten, dass ich mich durchaus meiner Haut zu wehren weiß, sollte es nötig sein. Welche Dreistigkeit!«
»Du hast mich rundweg belogen, Nael.«
»Nur raus damit, Ravena. Ich kann verstehen, dass du wütend bist. Aber du brauchtest einen ritterlichen Zweikämpfer und keinen ungeübten Raufbold aus der Gosse.«
Ein unangenehmer Druck breitete sich in ihrem Magen aus. »Ungeübt. Dass ich nicht lache. Im Stich gelassen hast du mich, gib es zu.«
»Das siehst du falsch …«
»Warum hättest du mir auch beistehen sollen, nachdem ich dich gegen deinen Willen eingesperrt habe«, fuhr sie fort. »Eine bessere Gelegenheit zur Rache konntest du schließlich kaum finden, nicht wahr?«
Nael schüttelte den Kopf, ohne sie anzusehen. »Schön, es mag so gewirkt haben. Doch du hast mich vor eine Wahl gestellt, bei der es nur falsche Entscheidungen mit unabsehbaren Folgen gab. Die ich nicht treffen konnte.«
Sie fuhr herum und stieß ihm den Zeigefinger vor die Brust. »Die du nicht treffen konntest? Und wenn Roana an meiner Stelle gewesen wäre? Was dann?«
Er schob ihre Hand beiseite. »Lass Roana aus dem Spiel. Verflucht, du tust gerade so, als hätte ich bei ihr anders gehandelt.«
»Was genau hat es Arel denn gekostet, deine Unterstützung zu gewinnen?«
»Ich bin nicht käuflich, Ravena.«
»Beantworte meine Frage, dann glaube ich dir das vielleicht.«
Nael schwieg einen Moment, als suche er nach den richtigen Worten. »Meister Arel hat mir erzählt, wie dein Ehemann gestorben ist.«
Ravena verdrehte die Augen. »Oh, natürlich. Meine Erlaubnis braucht er dazu ja nicht.«
»Grundgütiger, Ravena, Baron Bruno wurde vergiftet! Und du hast es nicht für nötig gehalten, auch nur mit einem Wort zu erwähnen, in welcher Gefahr du warst! Du hast dich um deine verdammte Burg gesorgt, während ganz nebenbei dein Leben auf dem Spiel stand!«
»Und das war es? Das hat genügt, um deine Meinung zu ändern?«
»Wofür hältst du mich eigentlich? Für einen Finsterling, den Frauen und Kinder in Not nichts angehen?«
Sie seufzte. »Manchmal weiß ich einfach nicht, woran ich mit dir bin.«
Er setzte sich kerzengerade auf und starrte sie an.
»Du hast es gerade nötig, mir Vorhaltungen zu machen«, stieß er wütend hervor. »Ich bin gut genug um dich flachzulegen, wenn es dir gerade beliebt, doch wenn ich Anteil nehmen möchte an deinem Leben, deinen Sorgen und Nöten, schiebst du mich beiseite, wie einen Brocken Mist, der dir zwischen die Füße geraten ist. So nicht, Ravena!«
»Darüber haben wir doch schon ausführlich gesprochen. Zu dem Thema gibt es nichts mehr zu sagen.«
Er beugte sich zu ihr hinüber, bis ihre Nasenspitzen sich beinahe berührten. »Im Gegenteil. Ich habe einiges zu sagen. Und du wirst mir zuhören.«
Sie starrte ihn an und schluckte heftig, um die Übelkeit zu unterdrücken, die ihr in die Kehle stieg.
»Ich hatte in Arels Haus viel Zeit zum Nachdenken. Über mich und - Roana. Ich glaubte, in ihr die Frau gefunden zu haben, die mein Leben wieder vollständig machen würde … Ich liebte sie so, dass ich schon ganz krank war. Ich wollte sie besitzen, obwohl ich nicht das leiseste Recht dazu hatte! Ich lag nächtelang wach vor Angst, sie könnte an den Folgen der Fehlgeburt sterben. Und dabei erwiderte sie meine Liebe nicht! Sie wollte immer nur Rafael, diesen hartherzigen Finsterling …«
Sie stemmte ihre Handflächen gegen seine Brust und schob ihn von sich. »Rafael ist kein Finsterling.«
»Lass mich ausreden, ja? Ich bin nämlich noch lange nicht fertig.«
Sie biss sich auf die Lippe und nickte.
»Ich war verblendet«, fuhr Nael fort. »Unfähig die Wahrheit zu erkennen. Bis ich dir begegnet bin. Du bist eine der schönsten Frauen, die Gott geschaffen hat. Nicht wegen deines Gesichtes oder deiner Figur. Sondern weil dir nichts Hässliches oder Kleinliches anhaftet, weil du frei bist von Bosheit oder Gehässigkeit, weil du weder Neid, noch Eifersucht, noch Hass kennst. Erst in Arels Haus habe ich das erkannt und verstanden. Denn du hast mir gefehlt. Du. Nicht Roana. Zuerst war es noch auszuhalten. Doch mit jedem Tag, der verging, habe ich dich mehr vermisst, dein Lachen, deine Lebensfreude, deine Stärke, alles von dir. Stoß mich jetzt nicht von dir. Lass mich für dich da sein. Das ist alles, worum ich dich bitte.«
Ravena sah ihn an und brachte kein Wort hervor. Ihre Lippen bebten, ohne dass sie etwas dagegen zu tun vermochte. Wasser sammelte sich in ihren Augen und sie schloss hastig die Lider. Nur nicht heulen!
Doch die Feuchtigkeit drängte unter ihren Wimpern hervor, benetzte ihre Wangen, tropfte von ihrem Kinn in ihren Schoß und lief über ihre Handfläche. Sie griff nach dem Saum ihres Gewandes und wischte sich mit fahrigen Bewegungen über die Wangen. Naels Finger schlossen sich um ihr Handgelenk. Sein Blick haftete dunkel und voller Mitgefühl auf ihr.
»Nicht. Lass mich«, stieß sie hervor. Sie schloss die Augen, doch als sie ihren Kopf von ihm wegdrehte, nahm er ihr Gesicht in beide Hände, in zwei raue und starke Hände, und innerhalb weniger Herzschläge wusste sie, dass sie noch nie in ihrem Leben so geküsst worden war. Von keinem Mann. Nicht einmal von Bruno.
Endlich riss sie sich von ihm los. In der seltsam drückenden Stille, die nun folgte, war nur Maddas Stimme zu hören, die Alessa und Desi zur Mahlzeit in die Küche rief.
Er sah sie an, und sein Blick war ernst. »Ich werde nicht hier zurückbleiben, Ravena. Was die Reise betrifft, lasse ich nicht mit mir reden. Ich habe nicht die Absicht, mich auch nur noch einen Herzschlag lang von dir zu trennen. Es bleibt also dir überlassen, ob du die Dinge akzeptieren und mit mir gemeinsam kämpfen willst. Oder davonlaufen. Du musst diese Entscheidung treffen. Hier und jetzt. Wie wird sie lauten?«
Sie sah ihn an und ihre Kehle war wie zugeschnürt. Er wusste nicht, dass sie ihre ganze Kraft zusammennehmen musste, um ihre Furcht zu bezwingen. »Ich akzeptiere«, sagte sie mit einer Stimme, die in ihren Ohren rau und brüchig klang.
»Gut.« Er erhob sich und streckte ihr die Hand entgegen. »Komm, ich helfe dir auf.«
»Nein, danke«, sagte sie und wischte sich mit abgehackten Bewegungen die restliche Feuchtigkeit von den Wangen. »Ich komme schon zurecht. Keine Sorge. Du kannst aufhören, mich zu behandeln, als sei ich ein angeschlagener Krug, den man schonen muss.« Sie raffte ihre Röcke zusammen. Dann erhob sie sich und rauschte an ihm vorbei zum Gartentor, welches sich hinter ihr mit einem hörbaren Knall schloss.
Endlich kam der Tag der Abreise heran. Ravena hatte darauf bestanden, dass Madda der Kinder wegen zurückblieb und so nahm die Kammerfrau im Hof tränenreich Abschied von ihrer Herrin. Peire blieb als neu ernannter Burgvogt ebenfalls auf Rocca d´Aquila zurück. Er machte nicht viele Worte. Nachdem er sich mit Handschlag von Arel und Rollo verabschiedet hatte, trat er zu Nael hin, legte ihm die Hand auf die Schulter und murmelte: »Pass gut auf Ravena auf, Medicus«, in einem Ton, der das ganze Vokabular an Drohungen enthielt, über das der Sänger verfügte.
»Versprochen«, erwiderte Nael. »Wenn du im Gegenzug dafür sorgst, dass hier alles beim Alten bleibt, bis wir mit Tarun zurückkehren.«
»Keine Sorge, Nael«, rief Dinêl. »Wir werden Rocca d´Aquila halten.«
Nael hob grüßend die Hand, ließ aufsitzen und ritt, gefolgt von Ravena und dem Tross, zum Tor hinaus.
Obwohl der Weg durch die Berge beschwerlich war, erreichten sie drei Tage später die Stadt Verona, wo sie eine kurze Rast einlegten, bevor sie im Frühgrau eines nebligen Morgens nach Padua aufbrachen.
Für Nael war es ein seltsames Gefühl, diese Strecke zu reisen. Er hatte es in den vergangenen Jahren tunlichst vermieden, in die Nähe von Venèzsia zu kommen, hatte sich hauptsächlich in Kalabrien und Sizilien aufgehalten. Manchmal, wenn die Sehnsucht zu stark geworden war, hatte er einen Hafen aufgesucht, um mit den Seeleuten zu trinken. Wenn er Glück hatte, wusste einer von ihnen Neuigkeiten über die Handelsgaleeren seines Stiefvaters zu berichten. Auf diese Weise erfuhr er zumindest, ob Florimond noch am Leben war. Was jedoch seine Mutter, oder seine Geschwister nicht einschloss. Von ihnen hatte er eine Ewigkeit lang nichts mehr gehört und die Aussicht, in Venèzsia vielleicht von ihrem Tod zu erfahren, erfüllte ihn mit Furcht und einer qualvollen Unruhe. Selbst wenn sie noch lebten, durfte er sich ihnen nicht nähern, wenn er sie nicht in Gefahr bringen wollte. Der Gedanke daran, was passieren würde, sollten seine Feinde jemals die Verbindung herstellen, schnürte ihm die Kehle zu.
»Jungchen, mir scheint, du bist nicht recht bei der Sache«, sagte Arel und griff seinem Pferd in die Zügel. »Wenn du deinen Hengst noch weiter vom Weg abkommen lässt, landet ihr beide im Graben.«
Nael schüttelte den Kopf, als müsse er einen Spuk vertreiben, bevor er sich dem alten Medicus zuwandte. »Ich war in Gedanken«, entschuldigte er sich.
»Seltsam. Das bist du schon, seit wir aufgebrochen sind. Und Ravena ist auch nicht gerade gesprächig.«
»Was erwartest du? Sie macht sich Sorgen.«
»Sie ist ganz offensichtlich nicht gut auf dich zu sprechen, Nael. Woran mag das wohl liegen?«
»Da musst du sie schon selber fragen.«
»Glaub mir, das habe ich.«
»Und?«
»Sie sagt, es sei nichts.«
»Warum siehst du mich dann so missfällig an? Was habe ich denn jetzt wieder verbrochen?«
»Mach dich nicht lustig, Nael. Ich kenne Ravena, seit sie ein kleines Mädchen war. Sie lässt sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen.«
»Ich widerspreche dir nicht.«
»Aber jetzt ist sie ungeduldig und barsch mit jedermann. Sie isst wie ein Spatz und brütet stundenlang vor sich hin. Ich kenne nur einen Mann, der die Macht hat, sie derart aus dem Gleichgewicht zu bringen.«
»Ah, ich verstehe. Einmal mehr bin ich der Sündenbock. Tja, so langsam sollte ich mich wirklich daran gewöhnt haben.«
»Das habe ich nicht gesagt. Aber es ist offensichtlich, dass etwas nicht stimmt. Hattet ihr Streit miteinander?«
»Das geht dich nichts an.«
Arel nickte unverbindlich. »Du hast recht, Nael. Es geht mich nichts an.« Er dachte eine Weile nach. »Nur bin ich es allmählich leid, die reservierte Höflichkeit zu tolerieren, die ihr einander erweist, weil ihr nicht in der Lage seid, eure Differenzen aus der Welt zu schaffen. Vor uns liegt eine schwierige Aufgabe. Sollten wir uns da nicht alle einig sein?«
Nael zuckte die Schultern. »Mir musst du das nicht sagen.«
»Hm.«
»Ich trage zu unserem Unternehmen bei, was ich kann.«
»Ja, das ist wahr«, erwiderte Arel. »Seltsam … das hätte ich von dir gar nicht erwartet.«
Nael zog die Brauen in die Höhe. »Was meinst du damit?«
»Nun, der Kampf gegen Staleberc hat sich in mehr als einer Hinsicht als Wunder erwiesen, denn er hat bewirkt, dass Ravenas Untertanen dich als ihren Herrn anerkennen. Wobei ich gestehen muss, dass ich nicht glaubte, du könntest dieser Stellung auf Dauer gerecht werden. Ein unentschlossener Trunkenbold als Befehlshaber einer Burg? Unvorstellbar.«
»Ach ja? Wer hat mich denn in diese unmögliche Lage gebracht? Habe ich vielleicht darum gebeten, in deiner Scharade mitspielen zu dürfen?«
Arel presste einen Augenblick die Lippen zusammen und hob beide Hände. »Schon gut. Ich dachte mir, besser einen Rettungsversuch unternehmen und scheitern, als tatenlos zusehen.«
Nael schnaubte. »Als gescheitert würde ich unseren Rettungsversuch nun gerade nicht bezeichnen …«
»Richtig. Was mich erneut zu der Frage führt, die mir schon länger unter den Nägeln brennt: Wer bist du, Nael? Wer verbirgt sich hinter der Maske des einfachen Medicus?«
»Hm«, machte Nael ironisch. »Warum versucht neuerdings jeder, mehr aus mir zu machen, als ich bin? Das, was du vor dir siehst - mehr habe ich nicht anzubieten. Traurig, nicht wahr? Es gibt einfach keine wahren Helden mehr in der Welt.«
Rollo hatte mit konzentrierter Miene gelauscht. Nachdem Nael schwieg, sagte er: »Ich glaube, du hältst uns alle zum Narren. Ich habe es zuerst nicht verstanden, aber in dem Wirtshaus in Segeste, da hast du nur mit mir gespielt. Du hättest mich leicht mit ein paar Handgriffen töten können, gib es zu.«
»Nein. Ich habe keine Ahnung von solchen Dingen. Außerdem war ich angetrunken.«
»Und trotzdem so gefährlich wie ein Skorpion«, warf Arel ein. »Rollo hat recht. Du hast uns alle zum Narren gehalten. Es ist ein Glück, dass deine Kraft von einem klugen Verstand im Zaum gehalten wird. Es kommt nicht allzu häufig vor, dass du so in Rage gerätst wie dort auf der Wiese.« Arel sah ihn eindringlich von der Seite an. »Nicht wahr?«
Nael hob das Kinn. »Ich muss und werde nichts dergleichen zugeben«, entgegnete er steif, ärgerlich, dass Arel ihn nicht in Frieden ließ.
Der Medicus deutete ein Schulterzucken an. »Man ist gut beraten, sich nicht zu verstellen, solange man von Freunden umgeben ist.«
Nael zog es vor, darauf nicht zu antworten.