Narichre Tanide ist eine der größten Mysterien der Geschichtsschreibung. Fast jeder Autor der älteren Geschichtsschreibung beruft sich auf sie, doch der größte Teil ihrer Werke und ihrer Vergangenheit ist in Vergessenheit geraten.
Aus "Die größten Wissenschaftler Varynys".
Spätestens nach den ersten Stunden auf dem Pferderücken verging den Rekruten das Lächeln. Sie alle konnten reiten, doch der stundenlange Ritt war etwas Anderes als die gemächlichen Ritte der häufigen Aristokratensöhne. Die Muskeln begannen sich zu verkrampfen und unruhig rutschten die ersten im Sattel ihrer Tiere hin und her. Den Letzten verging die Freude, als sie begriffen, dass ihr Rittmeister nicht plante, vor dem Abend anzuhalten.
Die Pferde hatten einen lockeren Trab eingeschlagen, den sie lange durchhalten konnten, der aber sehr unbequem zu sitzen war.
Die Veteranen dagegen scherzten und erzählten sich Anekdoten, während die Rekruten neugierig lauschten, um herauszufinden in was für eine Einheit es sie verschlagen hatte. Ab und an wanderte ihr Blick auch zu ihrem Rittmeister, der mit seinen kalten Augen die Umgebung absuchte und dessen kriegerisches Erscheinungsbild und Ruhm sie schon in den ersten Tagen beeindruckt hatte.
Heled musterte die Gegend mit wachsamen Augen, weil sie nahe der Grenze waren und es nicht selten vorgekommen war, dass die Tjaroler als Rache für verlorene Schlachten arthergische Dörfer plünderten. Es war eine offene Steppenlandschaft, die von einer leichten Schneeschicht bedeckt war und durch die kleine Bäche flossen, die ihre Eislast schon länger abgeworfen hatten. In einem Strauch, der schon die ersten grünen Triebe zeigte, zwitscherten einige Vögel und in der Ferne erklang der Jagdschrei eines Bussards. Einige Rehe suchten unter der Schneeschicht nach Gras und Kräutern und wenig später erblickten sie die Majestät einer Herde Wildpferde, die sofort davon stieben, als sie der Reitergruppe gewahr wurden.
Am späten Nachmittag zeichnete sich im Norden ein Gebirge ab und Heled stellte zufrieden fest, dass sie schneller vorangekommen waren, als er gehofft hatte. Sie folgten einem Tierpfad zum Gebirge und verbrachten in seinem Schatten die erste Nacht.
Der erfahrene Rittmeister stellte doppelte Wachen auf, nicht weil er eine Gefahr erwartete – sie hatten die Grenze zu Tjarol hinter sich gelassen – sondern weil er die Rekruten trainieren wollte. Veteranen und Rekruten würden sich die Wache teilen.
Die Rekruten hockten zusammen und erzählten sich wahrscheinlich Geschichten über ihre Heimat und ihre Familien. Die Veteranen trieben mit den Rekruten ihren rauen Soldatenhumor, erschreckten sie mehrmals und verspotteten sie.
Heled ließ sie gewähren. Wenn es zum Kampf kommen würde, würden sie die Rekruten, wie Löwen es bei ihrer Beute taten, gegen alle Angreifer verteidigen.
Als Heled sich vor sechs Jahren dem arthergischen Heer angeschlossen hatte, war es anders gewesen, denn Hiskijar hatte schon zuvor in allzu vielen Schlachten gekämpft, um vergessen zu können.
Er hatte es immer wieder versucht, Hiskijar hinter sich zu lassen und die Erinnerungen zu vergessen, doch gänzlich funktioniert hatte es nie. Mochte er sie am Tag auch ignorieren, kehrten sie in der Nacht zurück.
Seine Gedanken kehrten kurz zu Jehiel zurück. Wie er gehört hatte, machte sich sein ehemaliger Stellvertreter gut an der Spitze seiner neuen Einheit, doch gesehen hatte er ihn, obwohl sie an demselben Ort stationiert gewesen waren, nur vom Weiten. Sie beide hatten zu viel zu tun gehabt, um alte Freundschaften zu pflegen.
Dann schlief er ein.
Im Morgengrauen brachen sie nach einer kurzen Mahlzeit auf. Die Feuerstellen wurden ausgetreten, die letzten Sachen auf dem Pferderücken verstaut und der Rest Mahlzeit in den Mund gestopft, um die Zügel in die Hände nehmen zu können.
Sie folgten dem Lauf des Strai ein wenig westlich, tauchten in das Halbdunkel der Inias-Wälder ab und erreichten endlich am neunzehnten Tag in der Dunkelheit Elam. Trotz des nur geringen Lichtes war die Pracht von Elam offensichtlich. Heled selbst war schon häufiger in der Stadt der Herzöge von Tarea gewesen, doch erschlug ihn der Anblick immer wieder. Die Stadt breitete sich am Ufer des Harai aus und das Wasser schimmerte dunkel im Licht Adars. Inmitten des Flusses konnte ein Mann mit scharfen Augen einzelne Lichter erkennen, die von den Fackeln der wachhabenden Soldaten stammten. Die Burg von Elam erhob sich in der Mitte dieses Flusses auf einer kleinen Insel, gegen deren Klippen der Fluss donnerte. Es war eine wehrhafte Festung mit dicken Mauern und großen Türmen und auch wenn Heled sie nicht sah, wusste er, dass sich über ihnen das Wappen der Herzöge von Tarea erhob: Ein Ritter in schimmernder Rüstung, der sein Schwert in den Schlund eines roten Drachen bohrte.
Das Schwadron wandte sich von dem beeindruckenden Anblick ab und führte seinen Weg auf der Straße zur Stadt fort. Obwohl die Dämmerung schon hereingebrochen war, herrschte noch erstaunliche Geschäftigkeit. Einige Karren rumpelten auf die Stadttore zu, die meisten von ihnen waren leer von Waren. Heled blickte auf müde und abgehärtete Gesichter, die die Soldaten mieden und misstrauisch musterten. Einige fluchten, als sie der Reiter wegen in den Straßengraben ausweichten mussten. Ein Junge, der neben seinem Vater herging, zeigte auf sie und flüsterte einige Worte, woraufhin sich die Miene des Älteren noch mehr verfinsterte. Dann verlor Heled das Paar aus den Augen und wandte die Augen dem mächtigen Stadttor zu. Ein Wassergraben umgab die Stadt und die Planken der Zugbrücke ächzten unter den Schritten der Pferde. Zwei Gardisten wachten am Eingang und musterten die Reiter ebenso misstrauisch wie die Menschen, die hinter ihnen warteten, als ob sie in ihnen Rivalen sähen.
„Welche Einheit?", fragte der Ältere der Beiden.
„Rittmeister Heled, erstes Schwadron des Eraliy-Regiments.", verkündete der Rittmeister, während er seine Fuchsstute zu bändigen versuchte, die unruhig tänzelte. Sie wollte ebenso gerne Ruhe finden wie er selbst.
„Eine gute Einheit.", empfand der zweite Gardist, der deutlich jünger war und in dessen Augen noch die Lebensfreude strahlte.
Er lächelte Heled an, während der Ältere sie mit einer Handbewegung weiterwinkte.
Der Rittmeister trieb seine Stute an, die in ihren Schritten weit ausholte, froh darüber sich von der Stelle zu bewegen. Die Pferdehufe klapperten durch die Straßen Elams, an Fachwerkhäusern, Fresken und Springbrunnen vorbei. Die Bewohner dieser Stadt waren stolz und das drückten sie auch aus. Die Straßen waren breit, die Häuser großzügig geschmückt und überall sah man das Wappen des Herzogs. Auf dem beeindruckend großen Marktplatz war die Sage über die Entstehung der Stadt in einer Statue abgebildet. Der junge Ritter Elam, über dem der Drache aufragte und zornig mit den Flügeln schlug. Sein Schwanz ringelte sich um seinen Gegner, der ihm das Schwert in den Rachen rammte. Die Figuren waren ein Zeichen meisterhafter Elamer Gussarbeiten und waren so lebensnah abgebildet, dass einigen Männern der Atem stockte. Die Rekruten flüsterten aufgeregt, sie alle waren zwar aus Telach und der Umgebung rekrutiert worden, doch die Stadt der Herzöge von Scheeru konnte nicht mit der der Herzöge von Tarea mithalten. Elam war gewaltig, ihre Position als wichtiger Handelsplatz hatte durch Zölle viel Geld in die Stadt getragen.
Assur ritt neben Heled und obwohl er nicht sprach, konnte der Rittmeister die Bewunderung und zugleich den Widerwillen die Leistungen dieser Stadt anzuerkennen, wahrnehmen.
Nach einer Weile, in der sie der breiten Hauptstraße gefolgt waren, erreichten sie das Nordtor. Einige Gasthäuser lockten mit ihren offenen Türen, aus denen lautes Gelächter erklang. Davor hockten Betrunkene, ihre Weinschläuche immer noch fest umklammert. Doch waren es nicht die Gasthäuser, die ihr Ziel waren, sondern die Burg. Die Soldaten am Stadttor befragten sie ebenfalls kurz, bis sie weiter reiten durften. Eine Brücke aus festem Stein bestückt mit Wasserspeiern, die die Reisenden grinsend erwarteten, lag vor ihnen. Das kurze Stück Weg zwischen Stadtmauer und der Brücke war mit Wällen und Palisaden geschützt, vor denen derselbe Wassergraben floss, der auch die Stadt umgab und der nun zurück in den Fluss geleitet worden war. Soldaten patrouillierten hier und auf der Brücke, wo sich an beiden Enden zusätzlich jeweils zwei wehrhafte Türme erhoben. Dieser Ort war wahrhaftig auf Angreifer vorbereitet und Heled war froh, dass es ihnen erlaubt war, die Stadt zu betreten und sie sich nicht den Weg erkämpften mussten. Sie mussten sich erneut an beiden Enden der Brücke und am Burgtor zu erkennen geben, dann durften sie endlich auf den Burghof reiten.
Es waren viele zu der Beerdigung von Doeros gekommen. Grafen, Barone und Ritter, die nun Davror dienten und ihm den Treueid leisten würden. Herzog und Kurfürst Havinon von Scheeru, Herzog und Kurfürst Asriel von Asea und Herzog und Kurfürst Alemet von Keriso waren eigens angereist und nur der vierte Herzog und Kurfürst, Beera von Alak hatte aus Gesundheitsgründen seinen ältesten Sohn als Vertreter geschickt. Ebenfalls gekommen war Kronprinz Jasreel als Gesandter von König Jerimot, da dieser die Hauptstadt Mearis selten verließ, sowie die Herzöge von Reamoig, Esendryl und Garyt.
Sie alle versammelten sich in der großen Halle und warteten auf den Gastgeber.
Dieser trat an der Seite seiner Frau und seiner beiden Töchter auf das Podest, das die Herzogsfamilie so von den Gästen trennte. Eine Tafel stand darauf, doch war sie bis auf zwei Kerzenleuchter, die den Raum mit flackerndem Licht erfüllte, leer. Davror war einfach gekleidet und trug nur eine einfache schwarze Hose, eine weinrote Tunika und darüber einen schwarzen Kapuzenumhang. Dennoch war er sich der Bedeutsamkeit dieses Momentes durchaus bewusst. Er begrüßte seine Gäste nicht, der Brauch verbot es zu sprechen, bevor der Tote seine Ruhe gefunden hatte.
Schweigend folgten die Adeligen dem Herzog und seiner Familie aus der Halle auf den Burghof, wo sich Bürger aus der Stadt versammelt hatten, um von ihrem Herzog Abschied zu nehmen. Reihen aus Soldaten trennten sie von den Adeligen, die in einer stummen Prozession hinter Davror hergingen, über schwarze Rosenblätter, die den Boden bedeckten und sich vom Schnee abhoben. Einzelne Flocken schwebten auch jetzt zu Boden, vom heftigen Wind hoch getragen, der an den Mänteln der Männer und Frauen zerrte.
Es gab nur ein Burgtor, so dass alle Menschen dort hinaus strömten und im Gänsemarsch dem kleinen Pfad folgten, der sie zu dem höchsten Punkt der Insel leitete. Im Norden und Osten reichte die Burg direkt an die Klippen heran, doch im Westen erhob sich ein Hügel, auf dem sich nur Raben um Futter stritten und ein Eichhörnchen, durch den Lärm der nahenden Gruppe aufgeschreckt, das flink eine Tanne hinaufkletterte. Einige Jungen wollten es mit Schneebällen abwerfen, doch auf die mahnenden Blicke ihrer Väter unterließen sie es.
Mühsam stiegen sie den Hügel hinauf, Frauen auf ihre Männer gestützt, die Kleinkinder von älteren Geschwistern getragen. Das Volk versammelte sich unterhalb des Anstieges, erneut durch einen Kreis von Soldaten davon abgehalten, in die Nähe der Adeligen zu kommen.
Die Hügelkuppe war nichts als ein schneebedeckter Aussichtspunkt, von dem man über die Stadt blicken konnte, in der die Statuen die Geschichte dieses Ortes nachbildeten. Hier gab es keine Gedenktafeln, Statuen oder Ähnliches, die darauf schließen ließen, welche Legenden sich um diesen Ort rankten und dennoch kannten alles Menschen die Besonderheit dieses Hügels.
Angeblich war dies der Ort, an dem der junge Ritter Elam den Drachen getötet hatte. Ihn nannte man den Stammvater der Herzöge von Tarea und seinen Sohn nannte man den Gründer von Elam. Ob diese Legende der Wahrheit entsprach, wusste keiner, doch war die Stadt immer noch nach ihm benannt und das Wappen zeigte die Tötung des Drachen.
Heute war dieser Ort nicht normal, denn ein Scheiterhaufen war errichtet worden, auf dem der Herzog von Tarea lag. Man hatte ihm seinen Waffenrock angezogen und er hatte sein Schwert mit den nun erkalteten Händen umfasst, auf dem Waffenrock prangte das Wappen, dessen Rechte Doeros so eifrig vertreten hatte in leuchtenden Farben. Seine Augen waren geschlossen und doch schien es, als ob Davror dieser vorwurfsvolle Blick immer noch durchbohrte.
Er selbst führte die Fackel, die den Holzstoß in Brand setzte. Obwohl es immer noch leicht schneite, fraßen sich die Flammen hungrig durch das Holz. Für einen kurzen Moment fragte er sich merkwürdigerweise, was wohl das Volk dachte, wenn es das kostbare Brennholz, das ihren Kindern das Leben retten könnte, einfach so brennen sah. Dann stellte er fest, dass sie ebenso Abschied nahmen wie er selbst und ihrem Herzog für das Erreichte dankten.
Er wusste nicht genau, was er empfand, als die Flammen das Gesicht seines Vaters umschlungen, an ihm tasteten, als ob sie ihn mit sanften Küssen bedecken würden. Trauer? Zorn? Erleichterung? Vielleicht wusste Amasa es besser als er, denn ihre Hand legte sich sanft in die seine und obwohl sie Handschuhe trag, nahm er die Wärme ihres Körpers mehr wahr als die der Flammen. Möglicherweise war es ihre Liebe, die ihm geholfen hatte, all die Verletzungen durch seinen Vater besser zu ertragen.
So standen sie da, während die Flammen vor ihnen brannten und ihre Liebe ihre Herzen entflammten. Es dauerte lange, bis der Holzstoß verbrannt war und so lange standen sie alle da, wartend. Der Wind trieb Asche und Funken vor sich her, leuchtende Spuren, die sich durch die Luft zogen und die Geschichte von Doeros, Herzog von Tarea erzählten. Es roch nach verbranntem Fleisch, nach Schnee und Hitze.
Erst als die Flammen erloschen waren und nur noch die Glut dunkel schwelte, bewegte Davror sich, zog sanft die Hand aus der seiner Frau und trat auf die Überreste des Holzstoßes zu. Die Hitze war immer noch vorhanden, durchzog seinen Körper wie die leise Warnung von Gefahr. Sicheren Schrittes trat er zwischen die Asche, sich wohl bewusst, dass seine Kleidung leicht Feuer fangen konnte. Doch so wollte es der Brauch und sollte ein angehender Herzog von Tarea Feuer fangen, so musste er selbst damit zu Recht kommen und wenn er es nicht überlebte, hatte der Vater sein Urteil gesprochen.
Davrors Fuß fuhr durch die Asche und unter der Hitze geborstenes Holz, bis er endlich auf das Gesuchte stieß. Allmählich ging er in die Hocke und umfasste den Knauf von Doeros' Schwert. Er war kühl, doch brannte sich die Asche auf dem Boden durch die warmen Fellhandschuhe und eilig stand Davror wieder auf, das Schwert in der Hand. Es trug keinerlei Anzeichen eines Feuers, doch das hatte er auch nicht erwartet. Es war Zwergenstahl und allein dieses Volk wusste wie man solch eine Waffe wieder zerstören konnte. Er hob das Schwert über seinen Kopf, überrascht von dessen Gewicht, das so viel schwerer war, als er sich erinnerte. Es war Drachenfall, das Schwert der Herzöge von Tarea, das allein nach dieser Zeremonie von einem Vater auf den Sohn vererbt werden konnte. Davror hatte es überstanden und galt nun als offizieller Nachfolger von Doeros. Zwar musste der König seine Nachfolge noch bestätigen, doch müsste er einen guten Grund vortragen, um Davrors Nachfolge abzulehnen.
Erneut hob er das Schwert über den Kopf und hörte den Jubel, als das Volk seinen neuen Herzog erkannte. Und nun akzeptierte auch er selbst die Bürde endlich, die er von nun an zu tragen hatte.
Als die Gäste sich erneut in der Halle versammelten, lärmten sie so wie sie zuvor geschwiegen hatten. Gelächter und Gespräche hallten durch die alten Gemäuer und der lauteste war Doeros’ jüngerer Bruder Elesqor. Von seinen beiden Onkeln war Elesqor schon immer derjenige gewesen, den Davror am meisten gemocht hatte. Tarendor besaß denselben Ernst und kalten Stolz, den auch sein Vater besessen hatte, während Elesqor die Bücher ebenso wie sein Neffe dem Krieg vorgezogen hatte.
Das Essen wurde aufgetragen und die Tafel bog sich unter Fasanen, erlesenen Früchten, Austern aus dem Osten, die Nester des Ziphas-Vogels, die extra aus Awith importiert worden waren, und vielen weitere exotische Köstlichkeiten, die selbst viele Adelige noch nie gekostet hatten.
Es war nicht arthergische Sitte, lange zu trauern, sondern der Tote wurde dadurch geehrt, dass man sein Werk weiterführte und weiterlebte. Gewaltige Brotkörbe wurden heraus getragen und unter dem Volk verteilt, die immer noch mit der Hoffnung auf dem verschneiten Burghof standen, einen weiteren Blick auf ihre Herrscher zu erhaschen.
Kronprinz Jasreel saß auf dem Podest an der Tafel der Herzogsfamilie und das auch nur weil seiner Schwester die Herzogin war. Weiterhin saßen an der Tafel des Herzogs die beiden Brüder von Doeros und Davrors Schwester Marisa mit ihrem Gemahl Fariart, Herzog von Reamoig.
In der Halle der Herzöge von Tarea galt ihr Recht und jeder hatte sich dem unterzuordnen, selbst wenn er eigentlich höher stand.
Jasreel und Davror unterhielten sich höflich, tauschten Informationen über den Feldzug in Tjarol aus, den Winter und die Familien des jeweils Anderen.
Jasreel berichtete grade mit hörbarer Begeisterung in der Stimme von der Einnahme der Festung Astjiras.
„Unzählige Männer fielen vor der zweiten Mauer und der einzige Erfolg war der ständig wachsende Blutzoll unserer Männer. Ich wollte den Angriff schon abblasen, um auf eine Belagerung vorzubereiten, als ich unsere Flagge auf dem höchsten ihrer Türme wahrnahm.".
Auch Davror lauschte höchst interessiert dem Bericht, bisher hatte er nur Gerüchte wahrgenommen, doch die Wahrheit lag oft weit von ihnen entfernt. Selbst Amasa konnte ihr Interesse nur äußert schwer verbergen.
„Und wisst Ihr, wem wir das zu verdanken haben? Einem einfachen Rittmeister, der das Gebirge hochgeklettert ist, um so mit seinen Männern auf die Mauer zu gelangen.".
Davror runzelte die Stirn, während er einen Schluck von seinem Wein nahm.
„Mir war nicht bekannt, dass Kavallerie in Tjarol kämpfte.".
„Nur zwei Regimenter.", beantwortete Jasreel seine Frage. „Darum geht es mir jedoch nicht. Ist das nicht ein Beweis dafür, dass Dedan Recht hat? Dass eine Auflockerung der soldatischen Hierarchie und das Hören auf den einfachen Soldaten die Erfolgsquote erhöhen würde?".
Beim letzten Satz hatte er die Stimme gesenkt, doch Amasa tat geflisslich so, als ob sie ihren Bruder nicht gehört hatte, die beiden Mädchen waren viel zu beschäftigt mit ihrem Essen und seine Onkel unterhielten sich angeregt mit seiner Schwester und ihrem Mann.
Doch als hätte der Kronprinz verstanden, dass er zu weit gegangen war, wandte er sich nun wieder harmloseren Themen zu.
Während des Mahles führte der junge Herzog immer wieder Gespräche mit Adeligen, die ihrem neuen Herrscher ihre Bedenken und Wünsche mitteilen wollten, ihn um Hilfe für die Ernteinfuhr baten oder ihm erklärten, warum sie die Steuern auf keinen Fall bis zur Frist zahlen konnten. Davror musste herausfinden, in wessen Scheunen wirklich ein Brand ausgebrochen war und wer nur versuchte sich einen Vorteil zu verschaffen. Es war anstrengend.
Dann redete er auch mit den Herzögen, mit Reaja, dem ältesten Sohn von Herzog Beera, der ihm seine Unterstützung und die seines Vaters zusicherte, sowie ihm einige Ratschläge gab. Herzog Beera war nun der älteste Herzog und sein vierundfünfzigjähriger Sohn wartete immer noch darauf, dass er auf den Thron steigen konnte. Doch hatte er sich damit abgefunden und unterstützte seinen Vater ohne Vorbehalte.
Herzog Asriel, der Bruder seiner Mutter, sicherte ihm ebenfalls seine Unterstützung und Hilfe zu und beruhigte ihn.
Herzog Alemet sprach kaum mit ihm und schien ihm nicht zu verzeihen, dass er so offensichtlich auf Seiten Jasreels stand.
Sein Rivale, der Kronprinz, dagegen ermutigte Davror, bot ihm Hilfe und Beistand an und besprach mit ihm die aktuellen Probleme wie die fehlenden Steuern von einem seiner Grafen oder die Unruhen in der Stadt.
Am Glücklichsten war Davror jedoch, als Herzog Havinon eintrat. Der Herzog trug ein grünes Wams, die Farbe des Neuanfangs und eine schwarze Hose. Sein kurzes Haar war grau und seine blauen Augen funkelten vor Freude und Sorge. Er war schon immer Davrors Freund und Mentor gewesen und hatte ihm teilweise den Vater ersetzt, der Doeros nie gewesen war.
„Herzlichen Glückwunsch. Ich möchte ja nicht sagen, dass mich den Tod deines Vaters freuen würde, aber eine gewisse Erleichterung verspüre ich schon.".
Davror lächelte.
Havinon strich mit der Hand über die Buchrücken, die sich in Regalen bis zur Decke stapelten. Davror hatte seine Bibliothek als Gesprächsort ausgewählt, doch war bisher keiner auf die Bücher eingegangen.
„An welchem Werk arbeitest du grade?", fragte Havinon und Davror war froh darüber, dass er nicht irgendwas von ihm wollte.
Davror ging zu einem Pult und zog das Tuch weg, welches er vorsorglich über das Original und seine angefangene Übersetzung gelegt hatte. Es war ein dicker Wälzer mit einem roten Einband und vergilbten, dünnen Seiten, die mit geschwungenen hersorischen Buchstaben gefüllt war.
„Die Kriege von Tchaveskov Ascarna.", übersetzte Havinon. „Ich habe nur davon gehört. Woher hast du es?".
„Mein Großvater hatte es mit einigen anderen Werken versteckt. Er schien wohl den Bücherhass meines Vaters genauso zu fürchten wie ich.". Er lächelte, als er sich an seinen Großvater erinnerte, der ein lausiger Herzog jedoch ein großer Literaturliebhaber gewesen war.
„Weißt du, wer der Autor ist?", fragte der Herzog.
„Den Namen kann ich nicht übersetzen, aber es schien eine Hersora gewesen zu sein, da sie einen Vergleich mit der Verbindung zu einem Adler herstellt, ebenfalls war sie eine Stammesfürstin.".
„Zeigst du mir den Namen?", bat er und Davror schlug das Buch vorsichtig auf, bis er zu der letzten Seite kam, die braun und rissig war.
Ganz unten stand ein halb verblasster Name, von dem ein Teil durch einen Riss verschwunden war.
Ein Lächeln strich über Havinons Gesicht, während er sich über das Papier beugte.
„Wenn mich meine Ahnung nicht täuscht, stammt dieses Werk von Narichre Tanide. Sie lebte im sechsten bis achten Jahrhundert des vierzigsten Jahrtausend, zur goldenen Zeit Varynys unter der Regentschaft König Nichos' und seines Vaters. Zeitweise war sie die Stammesfürstin von Tichre.
Laut eigenen Aussagen hat sie elf Bücher geschrieben. Die meisten von ihnen behandelten politische und geschichtliche Themen. Ich besitze fünf Bücher von ihr, dieses ist ihr letztes Werk und muss von einer anderen Person weitergeführt worden sein.“ Seine Augen leuchteten.
„Fantastisch. Kannst du mir es ausleihen?".
Davror nickte lächelnd. Es tat so gut über andere Themen zu reden.
„Du sprichst deutlich besser altes Lernai als ich und in nächster Zeit werde ich nicht viel Zeit haben, an der Übersetzung weiterzuarbeiten.".
„Ich werde es mitnehmen, wenn ich von meiner Reise wiederkehre.", entschloss sich Havinon, die Freude immer noch offen auf dem Gesicht geschrieben.
Davror fragte nicht nach dem Ziel, er bezweifelte, dass Havinon es irgendjemandem erzählen würde.
„Pass auf dich auf.", wünschte Davror ihm, während er das Werk der nun benannten Hersora wieder abdecken.
„Das werde ich.", versprach sein Gesprächspartner. „Noch einen toten Herzog können wir wahrlich nicht gebrauchen.".
Und vor allem Havinon nicht, er war der einzige Herzog der keinen Sohn und keine Geschwister hatte. Ein Erbfolgekrieg hatte Artherg wahrlich nicht nötig.
Sie verließen die Bibliothek und die Geborgenheit, die sie verhieß und gingen in die Halle zurück, in der die Gäste lärmten.
Als das Mahl abgetragen worden war, kamen die Adeligen, die nun Untertanen von Davror waren nach vorne, um ihm den Treueid zu leisten. Mit erhobener Hand sprachen sie den Schwur, küssten seinen Siegelring und berührten den Knauf von Drachenfall. Keiner verweigerte ihm die Treue und Davror war erleichtert, als dieser Teil der Zeremonie beendet war. Die Ersten begannen sich zu verabschieden und begaben sich auf den Heimweg. Jasreel und Havinon verblieben Noch einen Tag und sie führten viele gute Gespräche. Es tat gut mit Menschen zu sprechen, die an ihn glaubten und als vollwertiges Mitglied in ihrer Gesprächsrunde behandelten. Zugleich war es aber auch das, welches ihm zeigte, dass sich nun alles verändert hatte. Er hatte Verantwortung zu übernehmen in einer Welt voller Intrigen, die er nicht verstand.
Auch Heled hatte die Verbrennung des Leichnams von Herzog Doeros aus der Ferne beobachtet, während seine Männer den freien Tag nutzen, um sich auszuruhen, auch wenn sie sich anfangs beschwert hatten, dass ihr Rittmeister ihnen verboten hatte, die Stadt aufzusuchen. Doch wusste Heled nicht, wann Herzog Havinon aufbrechen wollte und wollte, dass sein neuer Befehlshaber das Schwadron von seiner besten Seite sah, nicht als Männer, die verzweifelt versuchten, sich ihre Betrunkenheit nicht anmerken zu lassen. Dennoch war er sich sicher, dass der ein oder andere seiner Männer eine Magd gefunden hatte, die ihnen bereitwillig das Bett wärmte und diese ihnen bestimmt auch Alkohol gegeben hatten. Doch da sie wussten, was ihnen blühte, wenn er sie betrunken erwischte, würden die meisten Männer sich beherrschen und spätestens wenn sie es nicht taten, würden die Rekruten verstehen, dass ihr Kommandant in diesem Punkt keinen Spaß verstand.
Havinon rief ihm am frühen Abend zu sich und zum ersten Mal stand Heled dem Herzog von Scheeru direkt gegenüber.
„Ich gratuliere Ihnen zu ihrer Einnahme der Festung von Astjiras.", begann Havinon das Gespräch und Heled genoss es mit einem Mann zu sprechen, der seine Untergebenen höflich und respektvoll behandelte.
„Ich danke Ihnen, Herr.".
Heled entgegnete den Blick des Herzogs aufrecht, bemühte sich jedoch den Respekt und die Achtung, die er für den Herzog empfand, sehen zu lassen.
„Wir werden im Morgengrauen aufbrechen.", erklärte Havinon.
„Darf ich fragen, wohin?".
Der Herzog musterte ihn einen Moment, dann deutete er ein knappes Nicken an.
„Vorerst reicht es, wenn Ihr wisst, dass wir die Furt bei Asmawet nehmen.".
Die Zwillingsreiche entschied Heled, oder Varyny. Es gab keine großen arthergischen Städte westlich des Husai so weit südlich und wenn Havinon sich nach Asmawet nordwärts wenden wollte, hätte er direkt eine nördlichere Furt genommen. Und das Havinon die Furt und nicht die Brücken direkt in Asmawet nahm, zeugte von der Bedeutung der Geheimhaltung des Reisezieles.
Es würde eine sehr interessante Reise werden, überlegte Heled und lächelte leicht.
Er mochte interessante Reisen.