„Wo seid ihr gewesen?“
Noch bevor Misa die Tür richtig geöffnet hat, dringt Marc Luminors wütende Stimme aus dem Eingangsbereich. Er schlägt uns die Tür entgegen, dass Misa aus deren Schwingbereich springen muss.
„Hey, pass auf!“, schimpft sie. Dann nochmal: „Hey!“, diesmal ängstlicher.
Marc hat ihren Arm gegriffen und zieht sie in das Haus. Ich folge ihnen schnell, bevor der wütende Marc die Tür vor meiner Nase zuschlägt. „Wo seid ihr gewesen?“, schreit er nochmals.
„Wir waren auf der Straße.“, antwortet Misa und versucht, sich aus seinem Griff zu winden. „Lass mich los!“
„Wo wart ihr auf der Straße? Madam, hast du eine Ahnung - hast du auch nur eine wage Vorstellung davon, wie spät es ist?“
„Ich weiß, dass es sehr spät ist und du deshalb nicht so schreien solltest!“, faucht Misa zurück: „Du weckst noch die halbe Nachbarschaft auf!“
Marc verstummt und bringt sein Gesicht ganz nah an Misas heran: „Die Nachbarn“, beginnt er flüsternd: „STEHEN GRADE WIEDER AUF!“
Misa zuckt unter der harten Stimme ihres Vaters zusammen. Ich versuche derweil, mich unbemerkt vor der Tür zu halten. Vielleicht vergisst Marc ja, dass ich da bin...
„Phosphor!“ Mist. „Hör auf zu winseln und komm her!“
››Hör auf zu winseln‹‹ bedeutet, dass ich mich verwandeln soll. Solche Codeworte gibt es zuhauf in den Ruinen, und Familie Luminor hat sie schnell übernommen.
Ich seufze und trete mit gesenktem Kopf an Misas Seite.
„Sollst du nicht darauf acht geben, dass ihr vor Einbruch der Nacht nach Hause kommt? Es ist SECHS Uhr morgens!“
„Entschuldigung, Sir.“, sage ich. „Das Tor war geschlossen.“ Ich sehe ihn ängstlich an.
Misa neben mir guckt aus den gleichen Hundeaugen zu Marc auf. Wir müssen echt ein tolles Paar sein.
„Das Tor war geschlossen!“, braust Marc auf: „Habt ihr die ganze Nacht draußen verbracht? Was habt ihr euch dabei gedacht?“
„Es hatte geregnet und wir wollten die Aussicht-“, beginnt Misa, aber sie kommt nicht weit.
„Was habt ihr spät Abends auf der Holzstraße verloren? Seid ihr beide vollkommen verblödet?“ Marc schnauft tief. Wir beide schweigen und betrachten den Teppich. Kleine Regentropfen fallen aus unseren Haaren und von der Kleidung zu Boden. Es hat auch in der Nacht geregnet.
„Ihr beide habt Hausarrest. Zwei Wochen, mindestens. Und macht euch auf was gefasst, wenn Velaa nach Hause kommt!“, knurrt Marc ein wenig leiser. Mit einer wütenden Bewegung schickt er uns beide in Richtung Misas Zimmer. „Wisst ihr eigentlich, was wir uns für Sorgen gemacht haben?“
Nebeneinander schlurfen wir über die Läufer im Flur ins Wohnzimmer und dann in Misas Zimmer. Marc stampft hinter uns her und zählt auf, was erschwerend zu dem Hausarrest hinzu kommt. „Kein Essen für Heute! Und jeder Ausflug auf die Holzstraße ist bis auf weiteres verboten. Die Kleider dürft ihr selbst wieder sauber machen, seht zu, wie ihr die Flecken da raus bekommt. Und ich will kein Geräusch hören, von keinem von euch! Habt ihr mich verstanden?“
Mit reumütigem Blick nicken wir. Dann schleichen wir durch die Tür in Misas Zimmer. Marc schließt hinter uns ab. Wir horchen dem Schlüssel nach, der im Schloss gedreht wird. Dann entfernen sich Marcs Schritte.
„Was für ein Donnerwetter!“, murmele ich anerkennend und zupfe an meiner nassen Weste.
Misa nickt und streift ihre Jacke aus: „Aber die Aussicht war das wert!“
„Wenn du meinst.“ Ich nehme ihre Jacke entgegen und ziehe sie auf einen Kleiderbügel. Dann verwandele ich mich und rolle mich auf meinem Bett zusammen, während Misa sich umzieht. Sie ist durch einen Raumteiler aus Papier vor meinen Blicken verborgen, aber ich kann jede Bewegung hören. Als sie fertig ist, hängen wir ihre Sachen zum Trocknen am Fenster in die Sonne. Mein Fell wird mit einem Handtuch trocken gerubbelt. Meine eigene Kleidung ist mehr oder weniger mit mir verwachsen und wird auf keinen Fall ausgezogen!
Misa lässt sich in jetzt sauberer Kleidung auf ihr Bett fallen und lädt mich mit einem Klopfen der Hand ein, neben ihr zu schlafen. Wir sind so müde, dass wir schon wenige Minuten später halb schlafen. Mein Kopf liegt auf Misas Bauch und ich lauschte ihrem Atem.
„Das sollten wir unbedingt wiederholen!“, murmelt Misa träumerisch. Ich drehe den Kopf leicht und werfe ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. Mein Magen knurrt. „Ja, aber der Regenbogen! Und dann mit der Schafherde - wenn ich zeichnen könnte, würde ich die Szene malen! Und als dann der Schmetterling gelandet ist...!“
Ich drehe den Kopf zurück und seufze. Misa streichelt mir den Kopf: „Paps wird sich schon beruhigen. Wenn wir -“ sie gähnt „-Mutters Schimpftirade überstanden haben.“
Ich gähne ebenfalls, angesteckt durch Misa. Mit geschlossenen Augen genieße ich das Gefühl ihrer kraulende Hand hinter meinen Ohren und träume von Geleesandwiches. Den Rest von Misas schlaftrunkenem Reden bekomme ich nicht mehr mit. Vielleicht ist sie auch mitten im Satz eingeschlafen.
Am Abend blinzele ich verschlafen. Es fühlt sich seltsamerweise so an, als wäre keine Zeit vergangen. Ich bin immer noch müde, aber mein Mund ist trocken und der Hunger wird langsam unerträglich.
Als ich den Kopf hebe, regt sich Misa. Wir beide liegen noch genauso, wie wir eingeschlafen sind. Während ich vom Bett rolle, streckt sich Misa langsam und stöhnt. Ich gähne und strecke die Hinterbeine, dann die Vorderbeine. Misa schwingt langsam die Beine aus dem Bett und reibt sich die Augen. Ihre Frisur erinnert mich an die wilden Moorpflanzen, die vom Wind zerzaust in der Ebene wachsen und Schafen als Nahrung dienen. Misa glättet die Haare auf dem Weg zur Tür. Testweise rüttelt sie am Knauf.
Wir sind immer noch eingesperrt. Ich trabe langsam an ihre Seite.
„Paps? Hallo? Ich müsste mal... einen Ort aufsuchen. Hallo?“
Jetzt trommelt Misa gegen die Tür. Dann hält sie inne und wir lauschen. Ich spitze die Ohren und Misa betrachtet mich. Ich schüttele den Kopf: Kein Geräusch.
„Hallo? Papa!“, Misas Stimme ist nervös. Auch ich spüre ein Kribbeln im Fell. Wir sind jetzt nicht zum ersten Mal in Misas Zimmer eingesperrt, wenn auch zum ersten Mal so lange. Trotzdem ist Marc immer in Hörweite, oder er öffnet die Tür leise, bevor er geht. Immerhin ist das Zimmer kein Gefängnis. Dass jetzt keine Antwort kommt, ist unüblich.
„Papa!“
Ich belle laut und springe halb an der Tür hoch. Misa schlägt erst mit den Fäusten, dann mit einer Tischlampe gegen das Holz. Sogar ein paar Macken bleiben zurück.
Doch erst nach einer Viertelstunde Toben wird die Tür schließlich geöffnet. Auf der anderen Seite steht Velaa, noch in ihrer förmlichen Arbeitskleidung, ihre Tasche in der Hand. Sie ist grade nach Hause gekommen.
„Misa! Ihr seid zurück! Was ist hier los?“
Misa erstarrt: „Hat Marc dir noch keinen Boten geschickt? Wir sind seit heute Morgen zurück!“
Velaa erbleicht. Ich wusele als Hund zwischen ihren Beinen herum und schnüffele den Boden ab. Da: Ein fremder Geruch! Jemand war in der Wohnung, der nicht Marc, Velaa oder Misa war. Da ist ein fremder Geruch nach Blumen. Lilien, glaube ich. Ich schnuppere weiter. Blut!
Ich belle und laufe im Kreis. Dann winsele ich. Velaa und Misa kommen zu mir. Das Blut wurde aufgewischt, unsichtbar für menschliche Augen. Aber ich kann ihnen Kratzer an der Couch zeigen und Misa entdeckt schließlich einen Bluttropfen, der übersehen wurde.
„Es gab einen Kampf!“, keuche ich als Mensch.
„Habt ihr denn nichts mitbekommen?“, fragt Velaa und begutachtet kniend Misas Fund.
„Wir haben geschlafen!“, sagt Misa elend. „Ich habe nichts mitbekommen! Du, Wolf?“
„Nein.“, eine Gänsehaut überläuft mich. Velaa steht auf, dann bilden wir einen stummen Kreis im dunklen Wohnzimmer und suchen in den Augen der anderen nach einer Antwort.