Morgengrauen:
Sie hielt sich an Milos Hand fest, ihrem einzigen Rettungsring in dieser Hölle. Taschenlampen, die die anderen bei der Flucht wild durch die Schwärze schneiden ließen, blendeten sie. Sie stieß sich den Kopf an einer niedrigen Decke und taumelte immer wieder gegen die Wand rechts von ihr. Die Luft war so muffig, dass ihr schon nach wenigen Schritten das Atmen schwer fiel. Trotzdem zwang sie ihre erschöpften Beine, weiter zu rennen.
Sie wusste, dass die Wesen überall waren. Feuer huschte durch die Gänge vor und hinter ihnen, schlug ihnen heiß ins Gesicht.
Ein Funke landete auf Eves Hand, sie schlug ihn schreiend aus. Trotzdem blieb das Echo des Feuers heiß auf ihrer Haut zurück. Sie wusste, dass dort eine hässliche Brandnarbe bleiben würde, aber sie glaubte nicht, dass sie entkommen könnte. Es gab kein Entkommen aus den engen Tunneln, kein Entkommen dieser Jagd. Unsichtbare Schatten, fest und hart wie Knochen, dürr und kalt und glitschig, bewegten sich über und unter ihr. Vielleicht stieß sie überhaupt nicht gegen die Decke. Sie war so klein, die Decke musste weit entfernt sein. Vielleicht war es das harte Gesicht eines dieser Wesen.
Hände griffen nach ihr, schlossen sich um Oberarme, Schultern, Knöchel, fassten sie, wollten sie festhalten. Krallen zerschnitten Haut und Stoff, wenn Eve sich losriss.
Sie weinte. Sie schrie wortlos, voller Angst und Wut. Die anderen schrien auch, und es war unmöglich, Worte zu erkennen.
Als sie stolperte und Milo sie nicht sofort weiter zog, trat jemand auf ihre Beine. Der andere hätte sie sicher zu Tode getrampelt, wenn sie liegen geblieben wäre. Doch Milo riss sie weiter, floh vor der Dunkelheit, und da sie ihn nicht losließ, wurde sie hinterher gezogen.
Endlich hörte sie etwas vor sich.
"Der Aufzug!", schrie eine Stimme - Amy? - voller Triumph.
Sie rannten ein letztes Mal schneller, dann stolperten zehn panische Menschen in den klapprigen Fahrstuhl. Samstag riss die Tür zu, die nur ein Metallgitter war.
"Hoch!", brüllte er. Sein Gesicht sah furchtbar aus, er blutete aus mehreren tiefen Kratzern. Eve wurde so übel, dass ihr Magen sich zu überschlagen schien. Amy trommelte wie wild auf den Knöpfen herum. Knirschend, mit einem altersschwachen Stöhnen, setzte sich der winzige Fahrstuhl in Bewegung. Etwas schlug von Außen gegen das Gitter. Eve sah dürre, braune Finger mit langen Krallen und eine Haut, die wie die vertrocknete Haut von Mumien wirkte. Augen leuchteten blass aus den Tunneln, dann hob sich der Aufzug in die Höhe und nur ein frustriertes Kreischen folgte ihnen in das blasse Licht eines Morgens.
Im Aufzug war es so eng, dass sie nicht umfallen konnten. Doch als sie oben in die Freiheit stolperten, fielen die zehn einfach auf den Boden. Mira weinte hemmungslos. Samira wiegte sich wie in Trance vor und zurück.
Eve übergab sich direkt vor den Aufzug. Milo stolperte an ihr vorbei und warf sich auf die Erde. Niemand sprach ein Wort. Sie lagen da, starrten in den aufziehenden Morgen und weinten, bis schließlich ein neuer Bus auf den kleinen Platz fuhr, um sie abzuholen.
Selbst da reagierten sie erst auf den dritten Ruf.