Heimweh:
Karo rieb sich die kalten Schultern, während sie mit Max, Jason und den anderen Gefangenen durch das Moor stapfte. Sie mussten die Gäste der Tour suchen und dafür sorgen, dass diese zur Hauptstraße gelangten. Am besten, ohne sich zu Erkennen zu geben.
Was für ein unwirtlicher Ort! Nur Mücken konnten hier gedeihen, und trotz der winterlichen Temperaturen taten sie das sehr gut. Karo war selbst mit ihrer dicken Winterjacke nicht geschützt und ihre Arme und Beine juckten wie wahnsinnig.
Mit ihren Taschenlampen leuchteten sie in den frühen, verregneten Morgen hinaus. Hinter ihnen stieg Rauch von dem Herrenhaus auf.
Das zweite Hotel, das einfach abgebrannt war. Karo war das Ganze zu unheimlich. Konnte wirklich Amy dahinter stecken? War sie am Ende eine Psychopathin?
Andererseits waren die Besitzer des Hotels in diesem undurchschaubaren Spiel sicherlich nicht die Guten. Karo schauderte bei der Erinnerung an das, was Max ihr erzählt hatte. Stimmte es wirklich? Ging es hier um Leben oder Tod? Sie hatte noch nicht mit Jason darüber gesprochen. Es hatte keinen ruhigen Moment gegeben. Mit einem Mal wurde ihr klar, wie einsam sie war. Max war nicht ihr Freund, nur ein Typ, mit dem sie eine Wohnung und Miete teilte. Über Amy und Luca wusste sie überhaupt nichts, weder über ihre Ziele, noch über ihr Wesen. Und Jason …
Es kribbelte, als Karo an ihn dachte. Sie spürte, wie ihr Hitze in den Kopf schoss. Sofort hatte sie ihn vor Augen, sein Lächeln, seine unordentlichen, schwarzen Haare, das unrasierte Kinn, seine Muskeln, sein Lächeln, seine Stimme … Es war hirnrissig, sich in einer solchen Situation zu verlieben. Aber sie musste zugeben, dass sie genau das getan hatte. Jason war für sie da. Er beschützte sie.
Sie konnte ihm alles erzählen, was sie selbst zuhause nie jemandem erzählt hatte. Vielleicht war es eben ihre Situation, die sie dazu brachte.
Aber im Gegensatz zu allen anderen behielt Jason einen klaren Kopf und blieb bei Verstand. Karo glaubte nicht, dass ihr irgendetwas geschehen könnte, solange er in der Nähe war.
Und sie wollte, dass er in ihrer Nähe blieb. Er machte die ganze Angst, das Heimweh, die Unsicherheit erträglicher.
Sie suchte in der Dunkelheit seinen Blick und merkte, dass er zu ihr herüber sah. Unsicher lächelte sie und er grinste breit zurück. Als er ihr zuzwinkerte, wurde ihr ganz warm im Bauch.
„Augen zu und durch“, murmelte sie leise. Wenn Max Recht hatte – danach würde sie Jason noch fragen – dann musste sie tun, was von ihr verlangt wurde. Aber sie glaubte, dass sie es schaffen würde. Ohne zu verlieren, was sie ausmachte. Sie würde ihre Familie retten.
Wenig später rief einer derjenigen, die vorgingen, dass er die Gäste erspäht hatte. Tatsächlich bewegten sich vor ihnen dunkle Gestalten über das Moor, davon aufgehalten, dass einer von ihnen im Rollstuhl saß und dessen Räder immer wieder im Schlamm einsanken.
„Okay, wir treiben sie“, befahl Max, der aus irgendeinem Grund der Anführer ihrer Gruppe geworden war. „Wer kann wie ein Wolf heulen?“
Mehrere Hände hoben sich. Nach kurzem Zögern meldete sich auch Karo. Sie würde das schon schaffen. Und sie durfte kein Misstrauen erregen.
Jason meldete sich kurz nach ihr. Sie war erleichtert, dass er bei ihr blieb. Sie trennten sich von der anderen Gruppe und folgten Max, der ihnen mit dem Instinkt eines Schäferhundes Anweisungen erteilte.
Bald veränderte sich das Tempo der Gäste und ihre Wanderung fort vom Hotel wurde zur Flucht – in Richtung der Straße, wo ein Bus bereits auf sie wartete.