Morgendämmerung:
Sie rannten. Amy konnte allerdings nicht so schnell rennen, wie sie gerne würde, denn vor ihr liefen die Zivilisten, ausgebremst durch den Rollstuhl.
Hinter ihnen kreischten die Wendigowak. Sie waren dem Lärm der Explosion gefolgt, die die Gäste aus ihrem Raum vertrieben hatte. Jetzt waren die Wesen hinter ihnen, immer nur gerade am Rand des Lichtkegels. Amy konnte die blassen Augen aufblitzen sehen, wenn sie über die Schulter sah.
Samstag führte die Gruppe an. Luca hatte er vor geschickt, um am abgestürzten Aufzug zu retten, was zu retten war. Amy konnte zum Glück nicht allzu genau darüber nachdenken, wie groß Lucas Chancen allein in der Dunkelheit waren. Aber Sorgen machte sie sich trotzdem. Denn wenn sie durch den Aufzug nicht entkommen konnten, saßen sie hier fest – gefangen.
Mira hatte eine große Tasche umhängen, aus der etwas wie eine Schnur verlief. Ähnlich wie bei einer Lichterkette waren an der Schnur größere Gegenstände befestigt, doch die leuchteten nicht und so wusste Amy nicht, um was es sich handelte. Mira ließ die Schnur ablaufen und legte eine Art Spur hinter ihnen.
„Amy!“, rief Samstag von vorne. Sie sah auf und folgte dem Strahl von Sams Uhr, den er auf etwas in der Wand gerichtet hielt.
Eine Feueraxt!
Amy nickte, sprintete vor und riss die Axt von ihrer Halterung an der Wand. Das kalte Metall war ein erfreuliches Gefühl. Amy wartete auf Mira und rannte dann neben ihr weiter.
Schon hatten sie den Aufzug erreicht.
„Hoch!“, befahl Sam. Mira blieb stehen und zog den ganzen Rest der seltsamen Schnur aus ihrer Tasche. Durch das Loch des Aufzugschachtes fiel ein wenig Licht herein.
Amy riss die Augen auf: „Dynamit?!“
„Ja“, sagte Mira grimmig. „Wir lassen den Berg einstürzen. Das wollte ich schon seit der ersten Tour machen!“
Bevor Amy etwas erwidern konnte, fauchte ein Wendigo ganz in der Nähe. Das Wesen sprang vor und schlug nach Mira, als ahne es ihren Plan.
Amy sprang dazwischen und hieb mit der Axt auf den dünnen Arm ein.
Der Wendigo kreischte, dann entfernten sich seine Schritte, aber noch immer sahen unzählige Augen aus der Dunkelheit auf sie herab.
Amys Herz schlug wie wild. Sie sah zurück, wo gerade die ersten beiden Gäste durch den Schacht kletterten.
„Amy!“, rief Mira und Amy richtete ihre Aufmerksamkeit gerade noch rechtzeitig zurück. Diesmal griffen drei Wendigowak an, und Amy ließ die Axt durch die Luft sausen. Das Schneideblatt stieß gegen die Wände, traf keinen der drei, aber es scheuchte sie ein wenig zurück.
Mira hatte die Schnur vollständig ausgelegt und berührte Amy an der Schulter, um sie zurück zu ziehen. Die Wendigowak folgten ihnen, am Boden, an den Wänden, an der Decke. Sie fauchten und knurrten, bewegten ihre dürren Gliedmaßen so beweglich wie übergroße Spinnen. Die Gelenke bogen sich in unmögliche Richtungen.
„Nur noch der Rollstuhl und Sam“, sagte Mira nach einem kurzen Blick zurück. „Hältst du so lange aus, Amy?“
Amy nickte und biss sich auf die Unterlippe. Sie musste aushalten.
Wieder sprang ein Wendigo vor. Sie trieb ihm die Axt in den Schädel. Doch die Waffe steckte fest. Amy zerrte daran, doch der nächste Wendigo sprang auf sie zu.
Mira ging dazwischen und stieß dem zweiten Angreifer das Messer ins Auge.
„Du hast das eben schon richtig gemacht: Bei vielen Angreifern nicht töten, sondern lieber auf Abstand halten!“, sagte sie und befreite Amys Axt mit einer lockeren Geste.
„Jetzt, lauf!“, schrie sie und zog Amy mit sich.
Sie rannten in den zerstörten Schacht, kletterten über die verbogenen Gitter des Aufzugs nach oben. Im Rennen zündete Mira ein Streichholz an und warf.
Amy kletterte auf den Aufzug. Sie streckte sich nach oben und sah mehrere Gesichter von Menschen, die flach auf dem Boden lagen und ihr Hände reichten. Sie ergriff ein paar der Hände und stieß sich mit den Füßen von der Schachtwand ab, als sie nach oben gezogen wurde. Mira folgte im Flug und dann schloss sich eine heiße Druckwelle an, auf die ein bedrohliches Rumpeln folgte. Amy spürte Hitze im Rücken. Sie brannte!
Ehe sie in Panik geraten konnte, war Sam vor ihr, packte ihre Arme und stieß sie auf den Boden. Das Feuer erstickte.
Keuchend lag Amy da und sah die Rauchwolke an, die aus dem Aufzugschacht nach oben in den Nachthimmel stieg. Um sie her keuchten die Tourgäste. Sam sah ihr prüfend in die Augen.
„Alles gut?“
Amy nickte. Tatsächlich zitterten ihre Finger kaum. Sie stand auf und zog ihre Jacke aus, um den Schaden zu begutachten.
„Na toll! Die war frisch geklaut.“
Sam grinste und Mira trat zu ihnen.
Amy sah sich um. „Wo ist Luca?“
Doch außer ihnen dreien waren nur sieben Tourgäste anwesend.