Alte Bekannte:
Aus dem Boden wanden sich Wurzeln wie Schlangen. Luca starrte mit offenem Mund auf das unglaubliche Schauspiel. Er brauchte eine Weile, um zu realisieren, dass die Wurzeln sie eingekreist hatten. Die vier Zivilisten von der Tour schrien vor Angst.
„Maike!“, rief Samstag laut. „Du musst das nicht tun!“
Maike lachte laut und schrill. „Natürlich muss ich! Wenn ich euch nicht fange, dann tötet Samira mich, wie sie Thomas getötet hat! Sie hat mich gezwungen, es zu tun, wusstet ihr das?“
„Nein!“, antwortete Luca. Er nahm all seinen Mut zusammen und machte einen Schritt auf Maike zu, obwohl er damit den sich windenden Wurzeln näher kam. „Wir wussten nichts davon! Wir sind hier, um Samira zu besiegen. Wir wollten alle retten, auch dich und Thomas!“
Er spürte Samstag hinter sich.
„Sehr gut. Halt sie am Reden“, flüsterte der Mann Luca ins Ohr. „Lenk sie ab.“
„Ein tolles Rettungsteam seid ihr!“, rief Maike. „Ich habe gesehen, wie gut ihr auf die Gäste aufgepasst habt!“
Luca nickte. „Du hast Recht. Wir können das trotzdem schaffen, aber nicht alleine. Du musst uns helfen, Maike. Dann können wir Samira töten, damit niemand sonst mehr stirbt!“
Maike hatte die Augen weit aufgerissen, Luca konnte das Weiße darin erkennen, obwohl sie noch einen guten Steinwurf entfernt war. Er machte noch einen Schritt nach vorne, wo die Wurzeln inzwischen eine hüfthohe Mauer aus verflochtenen Hölzern bildeten. Es wirkte, als wäre Maike unschlüssig. Lucas Herz schlug wie wild, während er ihre Aufmerksamkeit allein auf sich zog.
„Es tut mir furchtbar leid, dass wir nicht früher gekommen sind“, sagte er leise. „Du hast uns damals gerettet, dafür sind wir dir alle mehr als dankbar.“
Maike schwieg.
„Weißt du, wir sind durch alle Hotels bis hierher gekommen, und haben die Monster dort besiegt“, erzählte Luca schnell weiter. „Wir haben die Werwölfe erschossen, Norman Bates in der Dusche erstochen, und -“
„Ich weiß“, sagte Maike. „Samira hat mir davon erzählt. Sie hat gelacht.“
Jetzt entdeckte Luca Tränen in den Augen der Frau.
„Sie hat über euch gelacht“, brüllte Maike. Die Wurzeln türmten sich plötzlich in die Höhe, „Weil ihr keine Bedrohung für sie seid! Ihr könnt mir nicht helfen!“
Damit zischten die Wurzeln auf sie zu. Luca stolperte nach hinten und wurde im nächsten Moment von einer Hand auf den Boden gerissen. Er erkannte Sam, als er neben ihm landete.
Dann fauchte etwas über ihnen. Eine Hitzewelle, gefolgt von hellem Licht, verdeckte den Himmel. Luca schnappte nach Luft, bevor er Mira erkannte. Sie hatte ein Streichholz in der einen Hand und eine Deoflasche in der anderen.
Das Feuer griff auf die Wurzeln über und Maike schrie. Es war heilloses Chaos ausgebrochen. Luca sah, wie sich die Bäume am Waldrand bewegten.
Sam zerrte ihn auf die Füße, Amy schnappte sich den Rollstuhl.
„Los!“, brüllte Sam.
Sie rannten aus dem Ring der peitschenden Wurzeln heraus, die inzwischen Feuer gefangen hatten. Direkt vor Luca wurde einer der beiden Jungen getroffen und in die Luft geworfen.
Dann verließ er den tödlichen Ring und rannte, verfolgt von den lauten Schreien von Maike. Sie hielten direkt auf die Straße zu und entkamen den Bäumen, die langsam auf sie zu gerückt waren. Auf dem asphaltierten Weg wurden sie schneller.
Irgendwann verklangen die Schreie und sie hielten an. Luca starrte in den Wald zu beiden Seiten, doch nichts bewegte sich.
„Maike war also auch böse“, murmelte er.
„Nein“, sagte Sam und musterte die Gruppe, die sich bis hierher geschlagen hatte. Sie waren zu siebt. „Sie war ganz normal. Bis sie uns geholfen hat. Samira muss ihr die Macht über diese Mörderbäume verliehen haben.“
Luca merkte, dass seine Beine zitterten. Er musste sich auf die Straße setzen, wo auch schon die Zivilisten hockten.
„Hätten wir sie nicht retten können?“, fragte er leise.
Sam schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Sie war bereits Teil dieser Welt, eines von Samiras Spielzeugen. Ich fürchte, es war zu spät.“
„Sie ist tot?“, fragte Amy bleich. „Aber war sie nicht ein richtiger Mensch?“
Diesmal schweigen Sam und Mira lange. Sie schienen stumm darum zu kämpfen, wer die Wahrheit erzählen musste. Mira verlor den Kampf offenbar.
„Sie war ein Mensch, ja. Auch, wenn die Macht, die Samira ihr verliehen hat, sie teilweise zu einer Figur gemacht hat.“
„Wir sind Mörder!“, hauchte Amy entsetzt. Nicht einmal Sam oder Mira konnten darauf etwas erwidern.
Der Rollstuhl quietschte, als der Junge darin auf sie zu rollte.
„Wer seid ihr überhaupt?“, fragte er.
Sam grinste freudlos. „Wir sind diejenigen, die der alten Tour entkommen sind. Ich bin Samstag – Sam – das sind Mirabelle Catrina Taylor, Luca Jones und Amelie Fairfourth. Oder kurz Mira, Luca und Amy.“
Der Rollstuhlfahrer reichte ihnen höflich die Hand, eine etwas seltsame Geste, wie Luca fand. Nach allem, was sie erlebt hatten, war sie zu normal.
„Ich bin Tobias. Das sind Salim und Ronja“, erklärte der Junge im Rollstuhl.
Salim und Ronja sahen kaum auf.
„Freut mich“, sagte Sam. „Dann wird es jetzt Zeit, dass ich euch einiges erkläre. Punkt eins: Wir sind nicht mehr an dem Ort, den ihr als Realität kennt. Hier herrschen andere Gesetze.“
Wie zu erwarten, wurde es ein langes Gespräch.