NYTRA
Es war noch stockdunkel, als mich das leise Piepen meiner Armbanduhr weckte. Genervt suchte ich nach dem Knopf, der mich erlösen und das Gepiepe stoppen würde. Es war genau vier Uhr nachts.
Müde kuschelte ich mich noch einmal in meine warme Decke. Ich hatte gar keine Lust, aufzustehen. Aber in spätestens drei Stunden würden die meisten anderen wach werden, dann könnte ich meinen Plan vergessen. Gerade als ich seufzte, hörte ich erneut ein nerviges Piepsen. Doch es kam nicht von meiner Uhr, sondern vom Bett unter mir.
Stöhnend durchlief Tanya dieselben Schritte, wie ich zuvor. Knopf suchen, drücken und zurück ins Kissen sinken. Anders als ich, stand sie jedoch nach wenigen Sekunden wirklich auf. Neugierig schaute ich von oben, wie sie vorsichtig und möglichst leise zu ihrem Schrank ging und irgendetwas darin suchte.
„Guten Morgen“, flüsterte ich grinsend, um sie zu erschrecken.
Sie fuhr natürlich ertappt zusammen und schaute mich böse an. „Warum bist du wach?!“, zischte sie.
„Warum bist DU wach?“ Die Gegenfrage schien sie aus dem Konzept zu bringen und so ignorierte sie mich.
Vorsichtig, um Arisa und Zora nicht zu wecken, kletterte ich jetzt ebenfalls aus dem Bett und trat neben Tanya. „Zwei Doofe, ein Gedanke, hm?“, grinste ich, während ich mir auch die Sportsachen heraus suchte.
„Vergleich mich bitte nicht mit dir...“ Ich konnte mir ihr genervtes Gesicht richtig gut vorstellen.
„Wir müssen noch Sukira abholen“, informierte ich Tanya, während wir uns umzogen.
„Ist das dein Ernst?“
„Natürlich. Komm schon, es macht doch zu dritt viel mehr Spaß als alleine.“
Endlich gab sie nach und sagte versöhnlich: „Okay, du hast recht. Aber sonst kommt niemand mehr?“
„Du kannst keinem verbieten, dieselbe Idee zu haben, aber ich weiß von sonst niemandem.“
Wir waren fertig umgezogen, da wollte Tanya, während ich zum Fenster ging, erst mal ihre Zähne putzen. „Ich dachte, wir wollten Arisa und Zora schlafen lassen?“, fragte ich gespielt verwirrt und schaute sie unschuldig an.
Peinlich berührt hielt Tanya inne. „Aber wir können doch nicht rausgehen ohne die Zähne geputzt zu haben...“, wandte sie unsicher ein.
„Meinst du, mir gefällt das? Aber wenn du das Wasser hier drinnen anmachst, werden die beiden garantiert wach. Also, komm jetzt endlich hier rüber.“ Vorsichtig versuchte ich, so leise wie möglich das Fenster zu öffnen.
Tanya stellte sich neben mich und fragte: „Du willst nicht wirklich aus dem Fenster klettern?“
„Doch. Dann sind wir direkt auf dem Hof. Und es ist leiser als durch die Tür rauszugehen.“ Dazu konnte sie dann nichts mehr sagen und obwohl ich natürlich merkte, dass ihr diese ungewöhnliche Herangehensweise nicht passte, folgte sie mir still. Wir waren kaum herausgeklettert, da kam auch schon Sukira aus dem Fenster neben uns. Wir nickten einander zur Begrüßung zu und gingen dann ein Stück vom Gebäude weg.
Wir hatten kaum fünf Schritte gemacht, da tauchte auf einmal ein Mädchen vom dritten Jahrgang vor uns auf. „Was soll das werden?“, fragte sie kalt. Erschrocken schauten wir sie an.
„Wir wollen nur trainieren. Zusätzlich, um nicht zurückzubleiben“, erklärte Tanya ein wenig eingeschüchtert. Da grinste die Drittklässlerin und begann laut zu lachen.
„Kein Problem. Es gibt immer ein paar Erstklässler, die auf die Idee kommen. Und deshalb gibt es auch immer ein paar Drittklässler, die sich einen Spaß draus machen, diese zu erschrecken“, erklärte sie und zwinkerte uns zu. „Dann noch viel Glück!“ Danach verschwand sie so schnell wie sie gekommen war. Erleichtert atmeten wir auf und schauten einander beruhigt an.
„Na, dann mal los, hm?“, sagte ich und lief los. Ich hatte immer noch Muskelkater und jeder Schritt war eine Qual. Die kalte Morgenluft machte das ganze auch nicht besser.
„Hey!“, rief Tanya von der Seite. „Noch wird nicht aufgegeben. Wenigstens eine Runde laufen wir durch“, sagte sie.
„Klar!“, entgegnete ich und beschleunigte ein bisschen. Sie hatte recht. Jetzt ging es ums Laufen. Darum wenigstens die erste Runde komplett zu schaffen. Mindestens! Also: keine negativen Gedanken mehr und konzentrieren. Das versuchte ich zumindest.
Doch ich hatte mir mal wieder zu viel vorgenommen und durch mein schnelleres Tempo wurde ich auch verdammt schnell müde. Verbissen lief ich weiter, nur um dann nach einer Runde mit heftigem Seitenstechen halb zusammenzubrechen. Tanya blieb neben mir stehen und schüttelte den Kopf.
„Wenn du dich am Anfang schon so überanstrengst wird das nichts. Komm, weiter. Wir haben noch 14 Runden vor uns.“ Entgeistert starrten Sukira und ich sie an.
„Findest du nicht, dass das ein bisschen zu viel ist?“, fragte Sukira vorsichtig.
„Nein, sie hat recht“, sagte ich und ging weiter. „Erstens laufen wir normalerweise draußen, da sind die Runden länger und außerdem ist es nur sinnvoll noch weiter zu laufen als sonst.“
„Ganz genau. Wir müssen schließlich nicht nur aufholen, sondern auch ein paar von den anderen überholen. Nur die besten kommen in den dritten Jahrgang“, erklärte Tanya und stapfte uns voraus.
„Boah, zieh uns bitte nicht in deinen Ehrgeiz, was den dritten Jahrgang angeht, rein“, maulte ich und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Eigentlich sollte ich sie gegen die Seitenstiche hochhalten, aber das tat mit meinem Muskelkater weh. Tanya warf mir einen scharfen Blick zu.
„Ich weiß nicht, was dein Plan hier ist, aber das ist meiner. Und wenn dir meine Trainingsmethoden nicht passen, dann denk' dir eigene aus.“
„Ich hatte ja wohl zuerst die Idee, auch am Wochenende laufen zu gehen! Mein Wecker hat vor deinem geklingelt!“
„Ist das dein Ernst?! Dieses Argument ist ja mal sowas von kindisch. Aber was soll man von dir auch anderes erwarten...“
„Nennst du mich gerade kindisch?!“
„Leute...“, Sukira versuchte dazwischen zu kommen, aber wir regten uns zu sehr auf, um sie auch nur zu bemerken.
„Natürlich tue ich das. Du bist absolut kindisch.“
„Ach, und du bist ach so erwachsen? Bild dir mal nichts ein, kleines reiches Fräulein. Ich hab garantiert schon mehr durchgemacht, als du dir auch nur vorstellen kannst!“
„Sei stolz drauf. Du sprichst ja nie von irgendwas, aber dass du Probleme hast, das sieht man auf den ersten Blick!“
„Jetzt reicht's mir. Dafür kriegst du eine in die Fresse!“
„Leute!“, unterbrach Sukira dann endlich unseren Streit. Tanya hatte meine Faust einfach mal wieder festgehalten und so schauten wir beide hinter uns.
„Was denn?!“, fauchten wir gleichzeitig, nur um uns im nächsten Moment gegenseitig an zu funkeln.
„Wir sollten vielleicht trotzdem leise sein. Wer weiß, was die Lehrer zu unserer Aktion sagen? Und die anderen Schüler wollen wir ja wohl erst recht nicht wecken.“
Das ließ uns zwar verstummen, doch für uns beide war klar, dass dieser Streit nur verschoben war. Wir warfen einander noch ein paar giftige Blicke zu, ehe wir dann wieder laufen mussten und ich mich auf nichts anderes mehr konzentrieren konnte.
In meinem Kopf war nur noch Schmerz. Der Schmerz von der kalten Luft in meinem Hals. Der Schmerz vom Muskelkater in meinen Armen und Beinen. Der Schmerz in meinem Innersten von der Erinnerung, die durch Tanyas Worte wieder aufgetaucht war. Der Schmerz in meinen Füßen bei jedem Auftreten, der mich ablenkte und immer wieder ins hier und jetzt holte.
Als wir nach den 15 Runden endlich fertig waren, brach ich fast zusammen. Ich war so am Ende... Mein Puls pochte in meinem Kopf, in meinen Handgelenken, in meinen Beinen... Ein paar Momente konnte ich nur so dastehen, den Kopf hängen lassen und atmen. Dann erst, schaute ich nach den anderen beiden, die zu meiner Erleichterung mindestens genauso fertig aussahen wie ich. Und erst danach wurde mein Kopf wieder so klar, dass ich das leise Trommeln von Knöcheln auf Holz hörte.
Wir hatten mit dem Rücken zum Schülergebäude gestanden und drehten uns panisch gleichzeitig um. Auf dem überdachten Weg standen Elin, Milan und noch ein dritter Junge, dessen Namen ich nicht kannte. Wenn ich nicht eh schon rot gewesen wäre, wäre ich es jetzt geworden. Wie lange hatten die uns wohl schon zugeguckt?!
Während ich vor Scham noch stumm blieb, hatte Tanya sich schnell wieder im Griff. „Na, Jungs, schön zugeguckt?“, fragte sie. Man konnte ihre Gereiztheit hören, auch wenn ihre Worte höflich blieben.
„Mach keinen Stress. Wir sind erst seit zwei Minuten draußen, weil wir dieselbe Idee hatten“, erwiderte der Junge, dessen Namen ich vergessen hatte. Er hatte etwas längeres, schwarzes Haar und durchdringend blaue Augen.
„Ist es denn nicht schwer, so früh aufzustehen, wenn ihr doch gestern Nachtwache hattet?“, fragte jetzt Sukira. Überrascht schaute ich sie an. Sie begann sonst nie Gespräche. Erst recht nicht mit den Jungs.
„Schwierig ist es schon“, grinste Elin ein wenig verlegen und fuhr sich mit der Hand durch sein kurzes, dunkelblondes Haar.
„Ja, aber Training ist wichtiger als Schlaf. Wir wollen schließlich auch den dritten Jahrgang erreichen“, erklärte Milan mit funkelnden Augen.
„Na dann, wünsche ich euch viel Glück“, lächelte Tanya aufrichtig. Konnte sie ja auch sein. Die Jungs mussten schließlich um ihre eigenen 16 Plätze kämpfen und waren für sie keine Konkurrenz. Wir verabschiedeten uns und gingen wieder zu unseren Fenstern herüber.
„Hey, Nytra, was ist denn los mit dir? Du bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen?“, stichelte Tanya noch, ehe wir das Fenster aufdrückten und ins Zimmer kletterten.
Ich schwieg, während wir unsere Waschsachen holten. „Bin ich auch nicht. Hatte nur keine Lust, zu reden“, entgegnete ich giftig, als wir den Flur zu den Duschen hinunter gingen.
„Von wegen. Du warst knallrot und hast keinen Ton rausgebracht. Selbst Sukira hat was gesagt.“
„Ich war rot vom Laufen. Und wie gesagt, hatte ich keine Lust, zu reden.“
Sie warf mir noch einen Blick zu und zuckte dann die Schultern. „Ich muss dich nicht verstehen. Will ich auch ehrlich gesagt gar nicht.“ Sukira huschte jetzt gerade auch auf den Flur, also blieb ich stehen und wartete auf sie.
„Was war das denn gerade?“, fragte ich gereizt. Erschreckt schaute sie mich an. Normalerweise sprach ich nie so grob mit ihr. War mir auch ehrlich gesagt raus gerutscht, aber im Prinzip hatte sie mich durch ihr Verhalten vor Tanya bloßgestellt. Dieser Gedanke war natürlich Schwachsinn, aber das war mir in dem Moment egal.
„Was meinst du?“, fragte sie eingeschüchtert.
„Eben einfach so mit den Jungs zu reden. Machst du doch sonst nicht.“
Sofort lief sie rot an und schaute weg. „Tut mir leid. Ich wollte nur nett sein...“
„Nur nett sein, hm?“, grinste ich in meinem üblichen Tonfall, den ich auch anschlug, wenn ich Arisa ärgerte. „Sicher, dass es nicht an jemand bestimmtem lag?“
Sie schaute mich erschreckt an, als hätte ich ihre geheimsten Gedanken erraten.
„Ach, jetzt ärgerst du auch noch Schwächere? Früh aufstehen tut dir wohl nicht gut, dann wird dein Charakter noch miserabler als er eh schon ist“, mischte sich dann Tanya von vorne ein.
„Was willst du denn jetzt schon wieder? Ist doch nicht böse gemeint. So ein bisschen aufziehen muss man jeden mal.“
„Ja, ja. Jeden. Aber wenn ich dich ärger, rastest du gleich aus.“
„Ich geb' dir gleich eine, du dumme Kuh!“
„Genau davon spreche ich.“
„Mann, Leute! So geht das nicht, die anderen schlafen noch. Ihr könnt euch nicht schon so früh streiten! Tanya, du brauchst mich nicht zu verteidigen, das kann ich schon selbst. Und Nytra, du musst dich jetzt wirklich mal beruhigen. Du kannst doch nicht immer drohen, sofort zuzuschlagen, wenn dir mal was nicht passt!“, brach es auf einmal aus Sukira heraus. Natürlich flüsterte sie, aus Rücksicht auf die anderen, es war schließlich erst halb sechs, doch die Wirkung war dieselbe, als hätte sie geschrien.
Sprachlos schauten wir sie beide an.
Tanya fing sich mal wieder als erste und flüsterte: „Tut mir leid, Sukira. Du hast recht.“ Dann wandte sie sich ab und ging ohne ein weiteres Wort in den Duschraum.
Ich schwieg noch einen Moment, presste dann ein kurzes 'Tut mir leid' zwischen den Zähnen hervor und folgte Tanya. Schweigend zog ich mich aus und huschte dann unter eine der Duschen. Ich wusste, dass all die Vorwürfe, die sich in der letzten Stunde angehäuft hatten, gleich über mich hereinbrechen würden und ich wollte nicht, dass eine von den anderen das mitbekam.
Natürlich hatte Tanya recht. Natürlich hatte Sukira recht. Natürlich hatten sie alle recht. Es war mal wieder alles mein Fehler. Mein Fehler, dass ich mit den beiden Laufen gegangen war; mein Fehler, dass uns die Jungs gesehen hatten; mein Fehler, dass ich mich nicht schnell genug im Griff hatte und mich schämte und dafür von Tanya aufgezogen wurde; mein Fehler, dass ich überhaupt aufgezogen wurde, ich zog ja auch andauernd andere auf. Alles meine Fehler, alles meine Schuld. Meine Schuld, dass jetzt wieder diese Scheißtränen kamen. Dass ich jetzt wieder heulte wie das unfähige, kleine, schwache Kind, das ich war. Ich verfluchte diese Schwäche.
ARISA
„Aufstehen!“, schallte der vertraute Ruf durch unser Zimmer. Sofort setzte das ebenfalls vertraute zweistimmige Stöhnen ein, das jeden Morgen darauf folgte. Tanya und Nytra, die ihre letzte Stunde Schlaf sicher genossen hatten, drehten sich an die Wand. Zora und ich grinsten einander an, als wir aufstanden. Wir wussten, dass wir die beiden jetzt aus dem Bett schmeißen müssten. Um 7:30 gab es am Wochenende Frühstück. Wer nicht kam, hatte Pech und musste bis zum Mittagessen hungern. Und das würden die beiden nach ihrem frühmorgendlichen Training nicht durchhalten.
Auch wenn sie sich Mühe gegeben hatten, leise zu sein, war ich doch um 4 bei Nytras erstem Alarm auch schon aufgewacht. Ich hatte zwar fünf Minuten später wieder einschlafen können, doch vorher hatte ich ihnen kurz bei ihrer ersten Runde zugeguckt. Und ich war schon wieder wach gewesen, als sie sich um 6 wieder ins Zimmer geschlichen hatten. So wie ihre Haare aussahen, waren sie sogar noch duschen gewesen.
„Leute, aufstehen! Wer nicht rechtzeitig da ist, kriegt kein Frühstück“, sagte ich laut und versuchte die beiden so aus ihren Betten zu locken.
„Ist mir egal... Ich brauche nichts zu Essen...“, murmelte Nytra wurde aber sofort durch ihren grummelnden Magen verraten.
„Hm? Warum habt ihr denn nasse Haare?“, fragte Zora, die scheinbar als einzige wirklich bis eben durchgeschlafen hatte.
„Die beiden waren schon fleißig, im Gegensatz zu uns“, lachte ich und ging zu meinem Schrank.
Zora ging zum Waschbecken hinüber und fragte: „Was meinst du damit?“
„Wir waren schon laufen...“, murmelte Tanya, die sich jetzt langsam aufsetzte. Ihre Haare standen ungewohnt wirr vom Kopf ab, sodass ich ein Lachen unterdrücken musste.
„War 'ne blöde Idee... Dafür steh ich nicht nochmal um 4 Uhr auf. Jetzt hab ich noch mehr Schmerzen, Hunger und bin dazu auch noch müde...“, maulte Nytra, während auch sie aufstand. Sie kletterte die Treppe ihres Hochbettes hinunter und blieb dann stehen. Im nächsten Moment hallte ihr lautes Gelächter durchs Zimmer. „Pfff... Wie siehst du denn aus?!“ Sie kriegte sich gar nicht mehr ein vor Lachen, während Tanya sie nur unendlich genervt anschaute.
„Was? Wovon redest du schon wieder?“, fragte sie.
„Ich glaub, du hast vergessen, dir nach dem Duschen die Haare zu kämmen“, erklärte Zora.
Sofort lief Tanya rot an. „Oh, nein. Wirklich? Oh, das tut mir leid!“ Alle Müdigkeit schien vergessen, als sie aufsprang und panisch nach ihrer Haarbürste suchte.
„Ist doch alles gut“, lachte ich. „War nur ungewohnt, dich so zu sehen. Du achtest ja sonst immer auf alles.“
„Ich war heute früh einfach zu müde. Da hab ich es wohl vergessen... Es tut mir wirklich leid.“ Sie schien aufrichtig geknickt, weshalb ich sie verwundert anschaute.
„Aber Tanya, ungekämmte Haare sind doch nichts, wofür man sich entschuldigen müsste“, erklärte ich und schaute zu Zora, die zustimmend nickte.
„Stimmt. Sonst müsste Nytra sich dauernd entschuldigen.“
„Ich würde mich für so was lächerliches nie entschuldigen!“, wandte diese ein und steckte sich dann zum Glück die Zahnbürste in den Mund. Jetzt würde sie mal drei Minuten die Klappe halten.
„Du bist auch schlecht erzogen“, nahm ich Tanya ihren Kommentar dazu ab, damit die beiden nicht gleich wieder anfingen zu streiten. Mir schien Nytra solche Sprüche nicht so übel zu nehmen.
„Das auch, aber vor allem galt es bei uns immer als absolut unmöglich sich als Mädchen nicht um seine Haare zu kümmern. Mutter war dann immer sehr enttäuscht. Deswegen hab ich mir das wohl so angewöhnt...“, erklärte Tanya und schaute zu Boden.
„Wie Arisa schon sagte: Ist doch alles gut. Bei uns nimmt dir sowas keiner übel“, grinste Zora dann.
Wir machten uns dann in Ruhe fertig und gingen schließlich zum Speisesaal hinüber, wo wir pünktlich zum Frühstück ankamen.
Nach dem Frühstück faulenzten wir gerade alle zufrieden in unseren Betten und redeten, als man auf einmal lautes Poltern auf dem Flur hörte. Durch die Wand hörten wir, wie jemand an die Zimmertür neben uns hämmerte. Nytra sprang auf, ging zur Tür und schaute nach. Sie war ja schließlich überhaupt nicht neugierig. Ich auch nicht, deswegen stand ich fünf Sekunden später neben ihr.
Im Flur stand Risa und grinste uns böse an. „Na, wen haben wir denn da. Nytra und Arisa. Ihr könnt den anderen beiden aus eurem Zimmer schon mal sagen, dass jetzt aufgeräumt wird.“
Nytra klappte die Kinnlade runter. „Häää?“
„Nix 'hä'. Ihr räumt jetzt eure Zimmer auf und wenn ihr damit fertig seid, schaue ich mir an, ob auch alles ordentlich ist“, Risas Grinsen war sogar noch eine Spur breiter geworden. Jetzt wurde jedoch die Tür von Zimmer 1-b geöffnet und sie wandte sich von uns ab.
„Das ist doch wohl nicht deren Ernst... Aufräumen? Sonst interessiert es doch auch keinen, was wir hier in unserer Freizeit machen. Und letztes Wochenende mussten wir auch nicht aufräumen...“, protestierte Nytra verzweifelt, doch ich zog sie einfach mit ins Zimmer zurück.
„Ich glaube, es ist egal, was du sagst. Du hast ihr Grinsen gesehen, oder? Da kommen wir jetzt nicht drum herum“, erklärte ich. Dieses sadistische Grinsen setzte Risa auch immer auf, wenn sie Zeo irgendwie für sein Fehlverhalten bestrafte.
„Was ist denn los? Warum guckt sie als würde die Welt untergehen?“, fragte Zora mit hochgezogener Braue.
„Wir müssen aufräumen“, antwortete ich, während Nytra auf ihr Bett kletterte und anfing zu schmollen.
„Das ist doch lächerlich“, schnaubte Tanya. „Jetzt mach da kein Drama draus, letztes Wochenende hast du noch freiwillig aufgeräumt.“
„Das war was anderes“, antwortete Nytra genervt. „Ich mag es einfach nicht, kontrolliert zu werden. Und ich mag es nicht, herumkommandiert zu werden.“
„Wenn das stimmt, dann hast du hier nichts zu suchen“, mischte sich jetzt eine unbekannte Stimme ein. In unserer Tür stand eine Frau mit kurzem rotem Haar, das wild von ihrem Kopf ab stand. Sie war erwachsen, also musste sie eine Lehrerin sein.
„Und wer sind Sie jetzt?“, fragte Tanya wie üblich misstrauisch.
Die Frau lächelte und ihre ebenfalls roten Augen funkelten. „Amaya Kinta, Lehrerin der 2-A. An der Akademie seit 1503. Und du bist Tanya Akiraka, unter den Schülern bekannt als 'lahme Tanya' und wahrscheinlich nächste Sprecherin des ersten Jahrgangs. 1-C unter Raiga. Viel Glück dabei, ihn davon zu überzeugen, dass er dich in den dritten Jahrgang lässt. Die richtigen Instinkte scheinst du schon mal zu haben“, erklärte sie gönnerhaft, was mir eine Gänsehaut bescherte.
„Gut zu wissen“, entgegnete Tanya. „Und was willst du in unserem Zimmer? Wir fangen jetzt an, aufzuräumen. Wir melden uns, wenn wir fertig sind.“
„Wie schön. Dann will ich gar nichts weiter in eurem Zimmer. Ich hatte nur euer Gespräch überhört“, sie warf jeder von uns noch einen Blick zu und verschwand dann.
Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, schauten wir einander an. „Was war das denn für eine?“, platzte es aus Zora heraus.
„Da können wir froh sein, dass wir dieses Jahr erst angenommen wurden...“, murmelte ich.
„Das kannst du laut sagen. Sind die Lehrer an dieser Schule denn alle verrückt?“, fragte Nytra kopfschüttelnd. Sie stand jedoch auf und ging zu ihrem Schrank.
„Sie kennt sich auf jeden Fall mit Informationen aus. Das hat sie uns gerade bewiesen. Sie hat zwar mit Informationen über sich selbst angefangen, hat mir dann aber zu verstehen gegeben, dass sie über mich auch genau Bescheid weiß. Dass sie teilweise sogar Dinge weiß, die mir nicht bewusst sind“, erklärte Tanya nachdenklich. Wahrscheinlich analysierte sie das Gespräch in diesem Moment noch weiter.
„Na, sie hatte auf jeden Fall Recht mit dem, was sie zu dir gesagt hat, Nytra“, sagte ich und faltete meine Sachen noch einmal ordentlich. „Wir sind zum Lernen an der Akademie. Dazu gehört, das zu tun, was die Lehrer uns sagen. Wer dazu nicht bereit ist, der hätte nie herkommen brauchen.“
„Das ist wahr. Alles, was sie gesagt hat, ist wahr“, murmelte Nytra nur als Antwort. Sie schien schon wieder an Boden zerstört, das machte mir Sorgen. Sie war immer so angespannt und wechselte ihre Stimmung so schnell, da wurde ich nicht ganz schlau draus.
Das Aufräumen verlief dann ohne Probleme. Risa kontrollierte unser Zimmer, sodass wir der komischen Amaya nicht noch einmal begegneten. Ich musste jedoch wieder an diesen Zwischenfall denken, als ich am Sonntag mit Zora und Inaga draußen vor dem Tor in der Sonne saß. Tanya und Nytra schliefen in unserem Zimmer und schonten ihren Muskelkater für morgen, und Inaga brauchte mal eine Pause von Sala. Die war nämlich mindestens so anstrengend wie Nytra.
„Sag mal, Inaga?“, begann ich. „Du warst ja letztes Jahr schon im ersten Jahrgang, richtig?“
„Jap, in der 1-A, wieso fragst du?“, sie wirkte etwas irritiert, als ich sie erschreckt anschaute.
„Dann warst du in Amayas Klasse?“, fragte Zora, die in etwa so geschockt war wie ich.
Zu unserer Überraschung schüttelte Inaga jedoch den Kopf. „Nein, letztes Jahr hatte Helen Müller, die Frau von Mikk von der 3-1, die 1-A. Sie ist aber jetzt schwanger, deshalb mussten die die Klassen teilweise neu verteilen. Dasselbe bei Heike Dreher, der Frau von Hiko. Deswegen haben wir jetzt die Kazu-Schwestern.“
„Dann sind die beiden wirklich ganz neu? Das erklärt einiges“, murmelte ich und dachte an das ganze Chaos, das die beiden schon verursacht hatten.
„Die beiden sind erst 18 und 19. Wir sind deren erster Jahrgang als Lehrerinnen.“
„Sicher, dass du nicht bei Amaya warst? Die wusste heute auch alles“, grinste Zora.
„Ganz sicher. Ich habe zwar nicht viel von ihr mitbekommen, weil sie letztes Jahr eine Dritte Klasse hatte, aber das bisschen reicht. Die Frau muss echt seltsam sein“, Inaga schüttelte den Kopf.
„Seltsam ist eine Untertreibung. Die stand heute einfach bei uns in der Tür, hat Nytra zurechtgewiesen, sich vorgestellt und dann einen Schwall an Informationen über Tanya abgelassen“, Zora schüttelte den Kopf.
„Ich hatte teilweise echt Angst. Die hatte etwas sehr bedrohliches an sich...“, murmelte ich.
„Ach, für deine eigene Informationssammlung: Die ist seit 1503 hier an der Akademie“, fügte Zora noch hinzu, woraufhin Inaga nachdenklich nickte.
„Das ist gut zu wissen“, murmelte sie. Dann lächelte sie breit, als wollte sie uns ablenken und fragte: „Gibt es denn sonst etwas, was ihr wissen wollt? Ich weiß noch so einiges über die Lehrer...“
„Ach wirklich?“, grinste Zora. „Gibt es denn noch irgendwelche anderen Pärchen außer den Schwangeren?“ Ich schüttelte zwar den Kopf, da ich nie selbst auf die Idee gekommen wäre, das zu fragen, hörte aber gespannt zu, als Inaga erzählte.
„Also untereinander verheiratet sind sonst keine. Waro ist dieses Jahr Vater geworden, aber seine Frau lebt nicht hier. Aber Maike Weaver und Finn Ahorn von 2-C und 2-D sind seit zwei Jahren zusammen. Ich meine gehört zu haben, dass sie in diesem Schuljahr heiraten wollen. Ansonsten leider nichts. Raiga ist so verschwiegen und rätselhaft wie er streng ist, die Kazus erst seit diesem Jahr hier, von Kim Smith oder Kayla Yohko weiß ich nichts und Finja Poll und Jim Sachek haben irgendwie so eine Freundschaftsbeziehung miteinander.“
Ich hatte die meisten Namen noch nie gehört, auch wenn ich die Personen schon mal gesehen hatte. Während Zora versuchte, Inaga noch mehr Informationen zu entlocken, schaltete ich auf Durchzug. Ich würde mir eh nichts davon merken können. Das einzige, worüber ich mich freute, war, dass wir vielleicht eine Hochzeit erleben würden. Die letzte Hochzeit im Tal war so lange her, dass ich mich nicht daran erinnern konnte, weil ich zu klein gewesen war. Aber es muss ein gigantisches Fest gewesen sein.
„Hey, Arisa, hörst du überhaupt noch zu?“, riss Zora mich aus meinen Gedanken und stupste mich an.
„Nicht wirklich. Ich kenne die ganzen Lehrer eh nicht und ohne ein Gesicht, kann ich mir die ganzen Sachen schlecht merken“, gab ich zu.
„Na dann, lasst uns über Leute reden, deren Gesichter du kennst“, grinste Inaga. „Es gibt schließlich auch in unserem engeren Kreis ein paar interessante Entwicklungen.“
Ich warf ihr einen genervten Blick zu. „Jetzt kommt aber nicht wieder irgendwas mit Zeo. Das ist immer noch nicht so, wie ihr denkt. Zumindest meinerseits.“
„Keine Sorge. Aus zuverlässiger Quelle habe ich etwas, das viel interessanter und neuer ist“, erklärte sie triumphierend. Zora starrte sie gebannt an, während ich eher skeptisch war. „Sukira hat heute Morgen von sich aus mit den Jungs gesprochen. Mit Milan, Riley und Elin, um genau zu sein. Und wie es scheint, galt ihre Aufmerksamkeit besonders letzterem.“
„Na und?“, fragte ich verwundert. Elin war auch bei uns in der A. Er war ganz nett und ich freute mich für Sukira, wenn sie es schaffte, von sich aus mal mit jemandem zu reden. Normalerweise versteckte sie sich fast schon ein bisschen hinter Nytra, was diese nur allzu gerne unterstützte.
„Arisa! Das ist doch spannend“, lachte Zora, die das Ganze offenbar deutlich mehr interessierte als mich.
„Total spannend. Sukira redet mit Jungs. Freut mich für sie“, ich verdrehte die Augen. „Wer von den Jungs hat dir eigentlich davon erzählt?“, fragte ich dann Inaga.
„Riley hat's mir erzählt. Er wollte meine Hausaufgaben abschreiben, das gibt’s aber nur gegen Informationen“, grinste sie.
„Dass du ihm die überhaupt gegeben hast...“, entgegnete ich nur und zog die Augenbrauen hoch. „Sicher, dass du da nicht eher eine Schwäche gezeigt hast?“
„Blödsinn!“, lachte sie laut auf. „Die Jungs in unserem Jahrgang sind mir zu klein.“
Gut, das war auch wieder ein Argument. Inaga war schließlich nicht nur älter, sondern auch ein ganzes Stück größer als die meisten in unserem Jahrgang.
„Na, die Ausrede wird aber nicht mehr lange ziehen“, wandte Zora ein, die ihr das wohl nicht ganz so leicht abnahm wie ich. „Wenn ich mir die älteren Jungs so angucke, scheinen die meisten spätestens im zweiten Jahr ein ganzes Stück zu wachsen.“
„Ach, jetzt redet doch keinen Stuss. Was nächstes Jahr ist, sehen wir dann. Jetzt ist es aber noch so. Gibt's eigentlich irgendwas neues von Tanya?“, wechselte Inaga das Thema, nachdem es ihr scheinbar etwas zu brenzlig wurde.
„Was meinst du? Sie und Naro oder die Jahrgangssprecherwahl?“, fragte Zora.
„Ausnahmsweise letzteres. Außer du hast was richtig spannendes zum ersten.“
„Leider nein. Aber das mit der Wahl sieht gut aus. Amaya meinte sogar heute, dass sie wahrscheinlich gewinnen würde.“
„Das hat sie einfach so gesagt?“, fragte Inaga verwundert.
„Ja“, antwortete ich. „Aber das macht doch nichts, oder? Die Lehrer haben keinen Einfluss darauf, weil jeder selbst entscheiden darf, wen er wählt. Und gehört hat es außer uns auch keiner.“
„Da hast du zwar recht, aber das ist schon wichtig. Wenn die Lehrer schon von so etwas ausgehen, dann stehen ihre Chancen echt gut. Da könnt ihr euch dann auf einiges gefasst machen“, grinste sie.
Ich runzelte die Stirn. „Was meinst du damit?“
„Na, da wird unsere liebe Tanya dann einiges mehr zu tun haben. Aber damit sollte sie klarkommen. Allerdings kann das Amt der Jahrgangssprecherin auch für die Zimmernachbarinnen anstrengend werden. Kann sein, dass sie euch um Hilfe bitten wird oder teilweise sogar muss. Es ist nicht immer einfach, für die gesamte Stufe verantwortlich zu sein.“
Danach schwiegen wir eine Weile. Ich war beeindruckt, weil ich mir das ganze gar nicht so groß und verantwortungsvoll vorgestellt hatte. Da würde Tanya wirklich einiges zu tun haben. Aber vor allem deshalb war sie wahrscheinlich mit am besten für diese Aufgabe geeignet. Sie konnte schon sehr gut und schnell lesen und schreiben und es würde ihr wahrscheinlich auch nichts machen, mal etwas länger an etwas wichtigem zu sitzen. Sie würde die Aufgabe auf jeden Fall ernst nehmen.
Und ich glaubte auch, dass ihr der Kontakt zu allen Schülern auch selbst gut tun könnte. Sie war so schon sehr nett, freundlich, höflich und hilfsbereit, doch sie war in einem sehr engen Umfeld aufgewachsen, weshalb es für sie manchmal schwer war, andere zu verstehen oder zu akzeptieren, wie bei Nytra. Wenn sie mit vielen verschiedenen Schülern sprechen und ihre unterschiedlichen Geschichten erfahren würde, würde sie vielleicht auch ein besseres Verständnis für andere entwickeln. Die Möglichkeit bestand auf jeden Fall, so fest wie sie an das Motto der Akademie glaubte.
Ich wünschte ihr, dass sie die Wahl gewinnen würde. Doch bis dahin war noch etwas Zeit.