ZORA
Ich streckte mich und schaute in die Runde. Es war ein Morgen wie jeder andere, hätte ich gesagt, doch das war es nicht. Heute würde der erste Jahrgang seine Sprecher wählen und zu meiner Überraschung schienen die meisten meiner Stufe wirklich aufgeregt zu sein. Tanya schien auf jeden Fall ziemlich nervös zu sein. Ich klopfte ihr leicht auf die Schulter und sagte aufmunternd: „Jetzt mach dir mal keine Sorgen. Die wählen dich bestimmt.“
„Das glaube ich auch“, lächelte Arisa. „Alle haben mitbekommen, dass du dazu bereit bist, die Werte, die uns versprochen wurden, durchzusetzen. Du kannst dafür sorgen, dass Ruhe herrscht und alle mit einander auskommen.“ Nytra neben ihr blieb zwar stumm, nickte aber zustimmend.
„Da haben deine Freundinnen recht“, mischte sich jetzt Naro ein und Tanya wurde sofort rot. Ich grinste in mich hinein. Von Naro unterstützt zu werden, würde ihre Laune heben und ihr Selbstvertrauen wieder herstellen. „Ich drücke dir die Daumen, aber ich bin auch sicher, dass du es werden wirst.“
„Wer tritt den überhaupt noch an?“, fragte Gawen dann.
„Für die Mädchen sind es noch Maja aus der B und Amelie aus der D, für die Jungs Elin aus der A, Luca aus der C und Riley aus der D“, antwortete Inaga, die sich neben Tanya am meisten für die Wahl interessierte.
„Warum hast du dich nicht selbst bemüht, Inaga?“, fragte Jiro verwundert. „Vielleicht hättest du ja dieses Jahr gewonnen.“
„Gegen Tanya? Keine Chance“, grinste sie und zwinkerte. „Nee, ich hab festgestellt, dass mir die unterstützende Arbeit mehr Spaß macht. Ich steh da hinter Tanya und helfe ihr lieber bei kleineren Sachen, als die gesamte Verantwortung zu übernehmen.“
„Na, jeder wie er mag“, lächelte Naro dann. Er war vom zweiten Jahrgang bereits wiedergewählt worden und zeigte wie immer Verständnis für alle. Er war einfach unfassbar offen und freundlich. Doch er hatte seine Prinzipien, denen Tanya scheinbar nacheiferte und das wiederum schien gut bei den anderen Schülern anzukommen. Das wäre doch mal eine Geschichte, wenn die beiden Jahrgangssprecher zusammenkommen würden... Ich grinste in mich hinein, als ich mir das vorstellte.
„Und? Schon irgendwelche Wünsche, wer von den Jungs gewinnen soll?“
Tanya verzog das Gesicht bei Naros Frage. „Hauptsache nicht Luca. Die anderen beiden sind ganz in Ordnung, mit denen kann man klarkommen. Aber Luca hat mich ja gefressen.“ Sie verdrehte die Augen und dachte wohl an den Tag, an dem Luca und seine Freunde versucht hatten, ihr einzureden, dass sie nie den dritten Jahrgang erreichen könne. Außerdem war der Spitzname 'lahme Tanya' sein Werk. Nur verständlich, dass sie da nicht besonders begeistert war.
„Da würde ich mir keine Sorgen machen“, warf Zeo ein. „Die meisten wissen, dass Luca ein Idiot ist. Von dem, was ich weiß, wird es eher eng zwischen Elin und Riley. Die beiden sind schließlich auch bei den Mädchen beliebter.“
„Willst du damit behaupten, wir würden nur nach Äußerlichkeiten aussuchen, wen wir wählen?“, fragte Arisa drohend.
„Natürlich nicht!“, ruderte er sofort zurück.
Am Tisch erklang ein allgemein belustigtes Seufzen, angesichts dieser alltäglichen Szene.
Der Unterricht verlief erst mal wie immer. Wir machten ein paar Aufgaben in Sprache, dann ein paar Rechenübungen. Dann unterbrach Hiko gegen elf Uhr den Unterricht und verkündete: „So, einmal alle aufpassen. Ich werde jetzt gleich jedem von euch einen Stimmzettel geben. Auf diesen schreibt ihr bitte die zwei Namen, derjenigen, die ihr als Jahrgangssprecher und Jahrgangssprecherin wählen wollt. Ich werde jetzt gleich an die Tafel schreiben, wen ihr wählen könnt, auch wenn ihr das mittlerweile selbst wissen solltet. Ihr könnt ein Mädchen und einen Jungen aufschreiben. Wer möchte, kann auch nur einen oder keinen Namen aufschreiben. Da jeder pro Wahl jedoch nur eine Stimme hat und die Wahl von Jahrgangssprecher und Jahrgangssprecherin unabhängig voneinander sind, könnt ihr nicht zweimal für einen Jungen oder ein Mädchen stimmen. In dem Fall wäre euer Stimmzettel ungültig. Gibt es noch Fragen zur Wahl?“
„Was passiert mit den Stimmzetteln, wenn wir sie geschrieben haben?“, fragte Klaris.
„Ich sammele sie wieder ein und übergebe sie dann den Schülern des dritten Jahrgangs. Die zählen sie dann aus und gegen zwölf Uhr wird dann das Ergebnis auf dem Schulhof verkündet.“
Das hatten wir schon bei den großen gesehen. Ich hatte jedoch nicht gewusst, dass der dritte Jahrgang die Stimmen auswertete. Das klang spannend und ich ertappte mich dabei, wie ich darüber nachdachte, doch in den dritten Jahrgang zu wollen. Meine Noten wären bestimmt gut genug... Aber das würde bedeuten, ein weiteres Jahr nicht nach Hause zu kommen, also verwarf ich den Gedanken schnell wieder.
Die letzte halbe Stunde, nachdem die Stimmzettel wieder eingesammelt worden waren zog sich zäh in die Länge. Wir machten eine Leseübung, die gefielen mir von allen Unterrichtsformen am wenigsten. Anstatt aufzupassen schaute ich also aus dem Fenster und wartete darauf, dass die Drittklässlerin, die die Zettel eingesammelt hatte, wieder über den Schulhof kam. Und tatsächlich tauchte sie etwa um 11:45 Uhr auf.
Hiko beeilte sich noch, zu sagen, dass wir als Hausaufgabe eine halbe Stunde lesen sollten und ging dann mit uns nach draußen auf den Hof. Wir waren die zweite Klasse, die ankam. Raigas C war natürlich als erste fertig gewesen und stand schon in geordneten Reihen da. Bei uns sah es ein bisschen lockerer aus. Dann kam die A, Arisa und Nytra winkten mir vergnügt zu, während Risa sich bemühte, ihre Klasse halbwegs in Ordnung zu halten. Als letztes kam natürlich die D. Die Schüler kamen halb wild aus dem Gebäude gestürmt, Andra lief verzweifelt und mit Tränen in den Augen hinterher. Ich fragte mich mal wieder, wie diese Frau hier Lehrerin werden konnte.
Raiga sprach jedoch ein Machtwort und trat dann nach vorne. Er rief die Kandidaten zu sich und sprach noch einmal kurz darüber, wie wichtig die Wahl doch war und dass er hoffte, wir hätten uns gut überlegt, wen wir wählten. Dann reichte ihm die Drittklässlerin einen kleinen Zettel und er begann damit, die Ergebnisse zu verkünden.
„Wir beginnen mit der Wahl der Jahrgangssprecherin. Kandidatinnen waren: Klasse B, Maja Werning; Klasse C, Tanya Akiraka und Klasse D, Amelie Grimmer. Maja hat mit 14 Stimmen, die wenigsten. Amelie erhielt 22 Stimmen und Tanya gewinnt mit 41 Stimmen. 3 Enthaltungen.“
Er erklärte das noch ruhig und die meisten Schüler wagten es nicht, ihm ins Wort zu fallen. Sobald er jedoch geendet hatte, erklang lauter Jubel und ich musste mich sehr zurückhalten, um nicht zu Tanya zu laufen und ihr in die Arme zu fallen.
Die Freude währte jedoch nur kurz, ehe Raiga wieder alle zum Verstummen brachte. „Nun zur Wahl des Jahrgangssprechers. Kandidaten: Klasse A, Elin Graman; Klasse C, Luca Kolka; Klasse D, Riley Kirena. Luca Kolka hat mit 6 Stimmen die wenigsten. Elin und Riley kommen auf jeweils 36 Stimmen. 2 Enthaltungen. Es muss also eine Stichwahl stattfinden.“
Jetzt mussten erneut Zettel verteilt und Stimmen ausgezählt werden. Wir blieben währenddessen jedoch draußen. Der zweite Jahrgang hatte um 12 Uhr ganz normal Schluss und Gawen und Jiro streckten uns frech die Zunge raus, weil wir hier noch herumstehen mussten. Ich erwiderte lieber Keiros nettes Lächeln, anstatt mich mit den beiden Blödis zu ärgern. Das übernahm Nytra natürlich, während Arisa Zeo davon abhalten musste, einfach mit den größeren abzuhauen. Ich schaute in die andere Richtung und sah, dass Tanya den dreien böse Blicke zuwarf.
„Die können sich gleich wieder was anhören“, grinste Dorina neben mir.
„Sie haben es nicht anders verdient“, lachte ich. „Nur müssen wir uns dann Tanyas Geschimpfe dann mit anhören.“
„Aber diese älteren Jungs, mit denen ihr immer rumhängt... Die haben schon was...“, murmelte sie dann mit roten Wangen.
Ich hakte mich bei ihr unter und grinste. „Was soll das denn heißen, 'ihr'? Du hängst doch mit uns rum. Gibt es denn da jemanden bestimmten?“
„Och, Zora... Ich hätte gar nichts sagen dürfen“, lachte sie dann verlegen.
„War ja klar, dass du wieder nachbohrst“, mischte Klaris sich jetzt in das Gespräch ein.
„Hey, was soll ich machen? Ich bin halt neugierig“, verteidigte ich mich und musste auch lachen.
Unser Gespräch wurde kurz darauf beendet, als Raiga wieder einen Zettel bekam und sich räusperte. „So, das Ergebnis der Stichwahl steht fest. Riley hat in diesem Durchgang 38 Stimmen erhalten und Elin 41. Eine Enthaltung.“
Wieder brandete Applaus auf, den Raiga jedoch nach kurzer Zeit beendete. „Unsere neuen Jahrgangssprecher heißen also Tanya Akiraka und Elin Graman. Sie werden euch von jetzt an neben euren Klassenlehrern und Risa als weitere Vertrauenspersonen und Vermittler zur Verfügung stehen. Heute Nachmittag vor dem Training werden die beiden Zeit bekommen, sich euch noch einmal vorzustellen und ein paar persönliche Worte an euch zu richten.
Für's erste, bitte ich die beiden jedoch einmal mit mir zu kommen, damit der Leiter euch gratulieren und euch eure neuen Rechte und Pflichten erklären kann.
Die restlichen Schüler und Schülerinnen können nun zum Mittagessen gehen. Der Vormittagsunterricht ist hiermit offiziell beendet.“
Er wandte sich ab und ging mit Tanya, Elin und den anderen Lehrern zum Lehrergebäude hinüber. Ich fragte mich, was sie da wohl jetzt besprechen würden, aber das würde Tanya mir nachher schon erzählen. Für mich ging es jetzt erst mal darum, meinen Magen zu füllen und Dorina weiter auszuquetschen. Ihre Andeutungen hatten vielversprechend geklungen.
DIE LEITUNG
Die beiden Schüler folgten Raiga in das halbdunkle Büro des Leiters. Die Luft war frisch, das Fenster zum Hof geöffnet. Die dichten grauen Wolken ließen jedoch nur wenig Licht durch, sodass Leiter Granik die Lampe auf seinem Tisch eingeschaltet hatte. Er musterte die beiden Erstklässler eingehend.
Das Mädchen, eher groß, blond, schlank, wirkte etwas eingeschüchtert. Er erinnerte sich schwach daran, dass sie mit der Kutsche angekommen war und demnach eher aus einer reichen Familie stammen musste. Trotz ihrer leichten Verunsicherung, merkte man ihr doch die Freude über ihre neue Position an.
Der Junge war etwa genauso groß wie sie, hatte kurzes Haar und klare grau-grüne Augen, mit denen er selbstbewusst zurückschaute. Er war von einem Späher entdeckt worden und schien sich an der Akademie von Anfang an gut eingebracht zu haben.
Als Sprecher des ersten Jahrgangs waren sie also beide durchaus geeignet.
„Herzlichen Glückwunsch, ihr zwei“, lächelte er dann freundlich und bot den beiden an, sich zu setzen. „Ihr seid wahrscheinlich noch ganz überwältigt, hm? Es ist eine große Ehre, zum Jahrgangssprecher gewählt zu werden. Ich wünschte, ich müsste das jetzt nicht sagen, aber einer muss ja der Spaßverderber sein.“ In seiner Stimme schwang ehrliches Bedauern mit. „Aber natürlich bringt dieses Amt auch eine große Verantwortung mit sich. Ihr seid von nun an Vermittler zwischen der Akademie und eurem Jahrgang.
Das bedeutet, dass ihr von uns bestimmte Informationen bekommen werdet, wie die Dinge zu laufen haben und dafür verantwortlich seid, dass diese umgesetzt werden. Ein Beispiel, das euch ab sofort betreffen wird, ist die Nachtwache. Wir werden euch den Plan auf dem steht, welches Zimmer, wann dran ist, später separat aushändigen, sodass ihr kontrollieren könnt, wie die jeweiligen Zimmer ihrer Aufgabe nachkommen. Ohne jede Woche auf den Plan im Speisesaal schauen zu müssen, versteht sich.
Eine weitere Pflicht ist natürlich auch die Mitbetreuung eurer Mitschüler. Sollten Probleme im Schülergebäude auftreten, habt ihr das Recht einzuschreiten oder gegebenenfalls die Lehrer zu informieren. Auch in nächtlichen Notsituationen, die ich ja bereits in meiner Begrüßungsrede angerissen hatte, seid ihr die ersten Ansprechpersonen.
Eure letzte Pflicht ist es, diese Informationen an eure Mitschüler weiterzuleiten. Als fähige Jahrgangssprecher solltet ihr dazu selbstverständlich in der Lage sein.
Das soll dann auch genug sein, mit den Pflichten. Kommen wir zu den ganzen Dingen, um die ihr euch nicht kümmern braucht. Ihr seid nicht dafür verantwortlich, dass die anderen die Nachtruhe einhalten, ihre Hausaufgaben vernünftig machen, am Wochenende aufräumen, pünktlich zum Training erscheinen, sich angemessen kleiden, nach dem Training duschen oder das Gelände nicht unerlaubt verlassen. Diese Dinge setzen wir als selbstverständlich und allgemein bekannt voraus. Des Weiteren seid ihr natürlich auch nicht für das Verhalten der Zweitklässler verantwortlich.
Abgesehen davon habt ihr freie Hand, den Alltag im Schülergebäude zu gestalten. Ihr könnt Nachhilfe und Trainingsgruppen bilden, nach Absprache auch Jahrgangsübergreifend, ihr könnt die Abende frei gestalten... Ihr könnt, solange ihr die anderen Akademieregeln befolgt, tun, was ihr wollt. Dauerhafte Veränderungen des Gebäudes oder der Möblierung sollten allerdings vorher von mir genehmigt werden, sonst droht den Verantwortlichen ein Schulverweis“, schloss er. Die lockere Stimmung, die er durch seine vorherigen humorvollen Ausführen geschaffen hatte, war schlagartig wieder verschwunden. Er lächelte dann jedoch beruhigend und sagte: „Keine Sorge. Normalerweise kommt das nicht vor und ihr wisst ja jetzt Bescheid.“
Dann wurde er jedoch ernst und schaute den beiden fest in die Augen. „Eine letzte Pflicht habt ihr noch, die jedoch nur euch offiziell bekannt ist. Bei Verletzungen oder Gefährdung der Schüler durch sich selbst oder andere, seid ihr je nach Schwere dazu verpflichtet die Lehrer oder im Notfall auch den dritten Jahrgang zu informieren. Das bedeutet natürlich nicht, dass ihr bei jedem Papierschnitt zu uns laufen müsst, doch bei heftigen körperlichen Auseinandersetzungen oder Alkoholmissbrauch müsst ihr uns informieren. Das geschieht zur Sicherheit der Beteiligten.“
Eine Weile herrschte Stille. Die beiden Schüler versuchten, sich zu merken, was der Leiter ihnen gerade alles eingeschärft hatte, während dieser durchging, ob er auch nichts vergessen hatte und die Reaktion der beiden beobachtete. Das Mädchen hatte sich anscheinend gefangen und schaute jetzt entschlossener als zuvor. Der Junge zeigte sich eher unbeeindruckt, zeigte jedoch auch den nötigen Ernst. „Habt ihr noch Fragen?“
Die beiden schüttelten den Kopf und verneinten höflich. „Gut“, lächelte Leiter Granik, um die Stimmung wieder etwas aufzulockern. „Dann will ich euch nicht länger aufhalten. Geht Essen und lasst euch von euren Freunden feiern. Und vergesst nicht, euch etwas für eure Reden zu überlegen.“
Die Kinder lächelten und verabschiedeten sich. Waro und Raiga blieben im Büro zurück.
„Wer waren die beiden?“, fragte Waro dann, der natürlich noch nicht jeden einzelnen Namen aus dem ersten Jahrgang kannte.
„Tanya Akiraka und Elin Graman. Sie ist eine kleine, reiche Göre, die sich jedoch das Motto der Akademie zu Herzen nehmen will; er ist von den Spähern hergeschickt worden und ist ein aussichtsreicher Kandidat für den dritten Jahrgang.“
„Gut. Dann können wir mit ihm schon mal für die nächsten Jahre rechnen. Das Mädchen... sie ist nur durch Spenden hier und hat wahrscheinlich schlechte Noten in der Ausdauer, richtig?“
„Richtig. Sie wird niemals den dritten Jahrgang erreichen“, erklärte Raiga felsenfest.
„Akiraka war der Name, nicht? Nein, sie wird nicht in den dritten Jahrgang kommen, selbst wenn sie könnte“, stimmte Waro düster zu. Charakterlich wäre sie eine Bereicherung gewesen, vor allem in dieser Stufe. Wahrscheinlich würden ihre Noten sie aber ohnehin disqualifizieren und die Leitung konnte sich schlecht über die Grundsätze der Akademie hinwegsetzen und eine Schülerin bevorzugen, die nicht gut genug war.
TANYA
Als Elin und ich den Speisesaal betraten wurden wir von den anderen mit Lächeln und Glückwünschen begrüßt. Es war mir schon unangenehm, was für eine große Sache daraus gemacht wurde. Andererseits war das vielleicht nur angemessen. Der Leiter hatte uns ja gerade noch erklärt, wie wichtig und umfassend unsere Aufgabe in Wirklichkeit war. Also lächelten wir zurück und bedankten uns.
Langsam kehrte wieder Ruhe ein und wir schafften es zum Tisch meiner Freundinnen hinüber, an dem komischerweise auch Elins Freunde bereits warteten.
„Wir dachten uns schon, dass ihr heute vielleicht zusammen sitzen wollt. Ihr habt bestimmt etwas zu besprechen“, lächelte Paul, ein ruhiger Junge aus der A.
„Das ist sehr nett von euch“, lächelte Elin zurück. Dann verengte er die Augen und grinste breit. „Auch wenn ich sicher bin, dass das für einige von euch nicht der einzige Grund war, sich hierher zu setzten.“ Er schaute in die Richtung von Aki, einem anderen Jungen aus der A.
Der lief natürlich sofort rot an und verteidigte sich. „Stimmt doch gar nicht! Ich weiß gar nicht, was du willst! Ich bin nur hier, weil ihr auch hier seid...“ Einen Moment funkelte er Elin noch an, dann zuckte sein Blick nervös zu Nytra hinüber.
Die nahm jedoch keinerlei Notiz von ihm, sondern war schon wieder dabei, Arisa aufzuziehen. Ich seufzte und zuckte die Schultern. Tat mir zwar irgendwo ein bisschen Leid für Aki, aber sie schien entweder gar kein Interesse an ihm zu haben oder in diesen Dingen blind, wenn es um sie selbst ging. Bei anderen war das erwiesener Maßen nicht so, weshalb ich froh war, dass sie abgelenkt war.
So bekam sie nämlich nicht mit wie Sukira ihren Mut zusammen nahm und Elin persönlich gratulierte. Sie schien mich erst gar nicht zu bemerken, gratulierte dann jedoch auch mir und lief natürlich ebenfalls rot an. „Alles gut“, zwinkerte ich ihr zu und ließ die beiden alleine, in der Hoffnung, dass sie sich gut unterhalten könnten. Es freute mich für Sukira, dass sie so aus sich heraus kam und wünschte ihr nur das Beste.
Ich setzte mich zu den älteren Jungs. Ich wollte mir von Naro ein paar Tipps holen, was die Arbeit als Jahrgangssprecher anging. Natürlich war ich aber auch überglücklich, als er mir dann gratulierte. Er sah so stolz aus, aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein, weil ich es mir so wünschte. Nach außen hin blieb ich jedoch möglichst gelassen, ich hätte keinen dieser Gedanken je zugegeben. Gut, zumindest nicht, währen Nytra in der Nähe war.
„Ach, weißt du, eigentlich ist es gar nicht so schwer, wie es am Anfang vielleicht scheint“, erklärte Naro lächelnd. „Das Wichtigste ist eigentlich, dass du dich mit allen aus der Stufe ganz gut verstehst. Bleib zugänglich und offen, setz dich für ihre Wünsche und Ideen ein, hilf denen, die Hilfe brauchen... Solange du dich vorbildlich verhältst, werden die meisten auch tun, was du ihnen sagst. Dabei darfst du nur nicht vergessen, dass du auch mal Schwäche zeigen darfst. Wenn jemand zu perfekt ist, wird er unnahbar. Oh, und du musst immer daran denken, du bist hier nicht allein. Auch nicht bei deiner Aufgabe. Elin ist mit dir für die Stufe verantwortlich und Hilda und ich sind auch noch da. Wenn du also jemals Probleme haben solltest, komm zu uns. Und auf deine Freundinnen kannst du dich sicher auch immer verlassen.“
Das Gespräch mit Naro hatte mir sehr dabei geholfen, mich in meine neue Rolle hinein zu versetzen. Ich schrieb mir seine Tipps sofort auf, als wir in unser Zimmer zurückkehrten.
„Na, schreibst du an deiner Rede, Frau Jahrgangssprecherin?“, grinste Zora mich an.
Ein leichter Anflug von Panik überkam mich. Das hatte ich schon fast vollkommen vergessen. Warum sagten die uns das nur so kurz vorher erst?!
„Oh? Was ist los, hattest du das schon wieder vergessen?“, grinste Nytra fies.
„Nytra!“, fuhr Arisa sie statt mir an. „Heute ist ein wichtiger Tag für Tanya, ich wäre stolz auf dich, wenn du dich heute einmal zurückhalten würdest.“
„'Stolz auf mich'? Wer bist du, meine Mutter?“ Ungläubig schüttelte Nytra den Kopf, zog sich dann aber auf ihr Bett zurück und würde mich an dem Tag kein einziges Mal mehr ärgern.
„Aber sie hat schon recht. Ich hatte das bis gerade schon vollkommen vergessen...“, gab ich schuldbewusst zu. Die Freude über den Sieg war einfach zu überwältigend gewesen und dann hatte ich so viele neue Informationen verarbeiten müssen, da war das einfach untergegangen.
„Das macht doch nichts. Hör mal, keiner von uns erwartet da gleich irgendeine Meisterleistung von dir“, lächelte Arisa aufmunternd.
„Dir fällt schon etwas ein“, meinte auch Zora, die schon dabei war, sich umzuziehen.
„Sonst mach es doch einfach spontan“, kam es von Nytras Bett. „Deine Ansage an Luca und die anderen damals muss echt gut gewesen sein und die war doch auch nicht vorbereitet, oder?“
Es verwunderte mich, etwas so Nettes von ihr zu hören. Aber sie hatte schon recht. Im Notfall konnte ich mir auch einfach in dem Moment etwas überlegen. Mir wäre es trotzdem lieber gewesen, wenn ich etwas vorbereitet hätte, doch dafür blieb keine Zeit mehr. „Nein, war sie nicht. Du hast recht, danke.“
Auf dem Platz war es kühl in unseren Sportsachen. Die grauen Wolken von heute Mittag hingen immer noch drohend über uns und ich fürchtete, dass es jeden Moment anfangen könnte zu regnen. Das war eklig und unangenehm. Der Weg um die Akademie wurde dann immer schlammig und man war am Ende des Tages vollkommen verdreckt.
Ich seufzte. Das war keine schöne Aussicht. Ebenso wenig, wie gleich unvorbereitet vor dem ganzen Jahrgang sprechen zu müssen. Nervös schaute ich mich um und entdeckte in der Gruppe meiner Klasse, nur wenige Meter von mir entfernt, Luca. Er machte schon wieder Witze mit seinen Freunden und schaute immer wieder fies grinsend zu mir herüber. Ich fragte mich, was er wohl für ein Problem mit mir hatte. Ich hatte ihm nichts getan, er hatte die ganze Sache angefangen mit seinen blöden Namen und dem Streit wegen des dritten Jahrgangs.
„Hey, jetzt guck doch nicht so grimmig“, Annika stieß mir grinsend ihren Ellenbogen in die Seite. „Da vergraulst du deine ganzen Unterstützer gleich wieder. Was ist los?“
Ich erwiderte ihren besorgten Blick und zwang mich zu lächeln. „Ach, ich bin nur nervös wegen der Rede gleich. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll und hatte keine Zeit mehr etwas vorzubereiten...“ Es fiel mir weiterhin schwer, das zuzugeben, aber Annika vertraute ich.
„Mach dir darum mal keine Sorgen. Du kannst das schon. Vertrau auf dein Gefühl und denk an deine Grundsätze. Dann fallen dir schon die passenden Worte ein“, lächelte sie. Sie brachte die gleichen Argumente wie die anderen. Es fühlte sich gut an, zu wissen, dass sie mir so sehr vertrauten, auch wenn ich das gerade nicht tat.
Dann war es auch schon soweit. Die Lehrer traten auf den Platz und stellten sich bei ihren Klassen auf. Auf einen Blick von Raiga kam ich nach vorne. Elin und ich trafen uns etwa in der Mitte zwischen der B und C. Ich bemühte mich, festen Schrittes zu gehen und mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen.
„Möchtest du zuerst, oder soll ich?“, flüsterte Elin mir zu.
Ich wollte es nicht weiter herauszögern. Je schneller ich es hinter mir hatte, desto besser. „Ich fange an.“ Er nickte verständnisvoll. Ich atmete noch einmal tief durch.
„Liebe Mitschülerinnen und Mitschüler, lieber erster Jahrgang. Mein Name ist Tanya Akiraka“, begann ich, wurde jedoch durch einen Ruf unterbrochen. Ein paar Jungs aus meiner Klasse brüllten 'lahme Tanya', doch ich sah, wie Raiga blitzschnell bei ihnen war und sie vom Rest der Schüler trennte.
Ich musste heftig schlucken und begann zu zittern. Ich hätte es mir denken können, dass sie mich irgendwie sabotieren und bloßstellen würden. Eine unangenehme Stille breitete sich aus.
'Du darfst nicht vergessen, dass du auch Schwäche zeigen darfst', fielen mir dann Naros Worte wieder ein.
Elin drückte mir die Schulter und fragte: „Hey, soll ich erst mal übernehmen?“ Doch da hatte ich mich bereits wieder gefangen und schüttelte den Kopf. Überraschenderweise musste ich sogar lächeln. Sollten sie es doch alle wissen, ich war nicht perfekt. Genauso wenig wie sie alle. Aber ich würde mich nicht so einfach unterkriegen lassen.
„Ja, ich bin die 'lahme Tanya', wie einige von euch bestimmt schon mitbekommen hatten. Ein passender Name, nicht? Ich gebe es ja zu, ich kann noch nicht sonderlich gut oder lange oder schnell laufen. Aber ich gebe trotzdem jeden Tag beim Training mein bestes und habe nicht vor, aufzugeben.
Und deshalb stehe ich heute hier. Denn ich glaube fest an das Motto der Akademie. Daran, dass jeder dieselbe Chance hat, egal, was man kann und was nicht oder wie gut man in etwas ist. Egal, wo man herkommt und was man bisher im Leben für ein Schicksal hatte. Die Akademie ist für uns alle ein Neuanfang. Ein Anfang, bei dem wir alle dieselben Chancen haben.
Für die meisten ist so ein Neuanfang jedoch schwer. Deshalb muss man sich in einer solchen Situation eigentlich für Zusammenhalt einsetzen.“ Ich war versucht, etwas gegen die Jungs zu sagen, die mich unterbrochen hatten, doch sie vor allen zu verurteilen wäre übertrieben gewesen. Außerdem hätte das eben diesen wichtigen Zusammenhalt weiter gestört. „Und genau das will ich tun. Darum wollte ich Jahrgangssprecherin werden.
Ich will, dass ihr wisst, dass ich immer ein offenes Ohr für euch haben werde. Ihr werdet immer und mit jedem Problem zu mir kommen können. Dann werden wir gemeinsam nach Lösungen suchen können. Ich hoffe, dass wir ein gutes Vertrauensverhältnis aufbauen können und gute zwei oder drei Jahre hier an der Akademie verbringen werden.
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit.“
Damit übergab ich an Elin. Mein Puls raste, doch ich hatte das Gefühl gar nicht so schlecht gewesen zu sein. Die anderen aus dem Jahrgang wirkten auch ganz normal, wenn nicht sogar ein bisschen beeindruckt. Zumindest lachte keiner mehr, wie am Anfang. Ich zwang mich, ruhig durchzuatmen und Elin zuzuhören. Er wirkte etwas ruhiger als ich, doch als ich genau hinsah, merkte ich, dass auch seine Hände zitterten. Das war dann irgendwie doch beruhigend.
Nachdem auch Elin mit seiner Rede fertig war, begannen wir mit dem ganz normalen Training. Ich lief wie immer mit Nytra und Sukira als Schlusslicht des Jahrgangs, doch wir waren schon längst nicht mehr so schlecht wie am Anfang. Trotz vielem Gemurre von Nytra hatten wir drei weiter samstags trainiert. Die Drittklässler schienen uns kaum noch zu beachten, wie sie schon gesagt hatten, schien das wohl öfter vorzukommen und erlaubt zu sein. Wir blieben ja auf dem Gelände und standen trotz ihrer scheinbaren Unaufmerksamkeit unter ständiger Bewachung durch die Drittklässler.
„Das war echt gut, vorhin“, gab Nytra, wenn auch etwas widerstrebend zu. „Dass du deine Schwäche mit dem 'lahme Tanya' so zu deiner Stärke gemacht hast.“
„Ja, es war gut, zu zeigen, dass du auch Humor hast“, fügte Sukira hinzu. „Ich meine das nicht böse, aber du wirktest immer so unnahbar bevor ich dich kennengelernt habe... Ich glaube, das war ein wichtiger Schritt in die Richtung, dass der ganze Jahrgang dich kennenlernt.“
Ich dachte über das nach, was sie gesagt hatten. Sie hatten beide recht, Nytra hatte sogar überraschenderweise genau verstanden, was ich getan hatte. Und Sukira hatte definitiv recht. Ich wusste, dass ich oft unnahbar wirkte. Ich war grundsätzlich eher ernst und Fremden gegenüber eher misstrauisch. Auch war meine strenge Erziehung schon öfter als Arroganz oder ähnliches interpretiert worden. Diese Erfahrung hatte ich schon Zuhause gemacht, wenn wir Kinder mal in die Stadt ausgegangen waren.
„Danke, Leute“, lächelte ich offen. Ich sollte von jetzt an versuchen, öfter zu lächeln. Auch das half sicher. „Ich werde weiter daran arbeiten, etwas zugänglicher rüber zu kommen“, versprach ich.
„Das machst du schon ganz gut“, rief mir Annika lachend zu, die uns mit ein paar anderen Mädchen aus unserer Klasse überholte. Auch die anderen lächelten aufmunternd. Verlegen lief ich ein bisschen rot an. So viel Lob zu bekommen war mir dann doch etwas unangenehm. Dass Annika es aussprach, machte das ganze sogar noch ein bisschen schlimmer.
Nytras Ellenbogen riss mich aus meiner Verlegenheit. Es war das Zeichen, dass wir wieder vom Gehen zum Laufen wechselten. Ich schaute zu Sukira, die nickte.
Und als wir so ein bisschen hinter den anderen Mädchen herjagten, wurde ich von einem wunderbaren Hochgefühl erfasst. Ich hatte heute einen großen Schritt in Richtung meines Traumes gemacht und war verdammt stolz darauf. Ich hatte die Rede gut gehalten und war dem Jahrgang etwas näher gekommen. Und ich bemerkte den Erfolg unseres Trainings. Alles sah so aus, als ob es gut werden könnte.
Heute Abend würde ich noch einmal mit Elin vor dem ganzen Jahrgang sprechen, um Waros Informationen weiterzugeben, doch auch das würden wir gut hinbekommen.