Ich knote das Seil mit steifen Fingern um meine Hüfte zusammen. Probeweise rucke ich an dem Seil, ob es auch wirklich hält. Mein Mund ist trocken, der Morgen ist kalt.
Misa bindet in der Zwischenzeit die andere Seite des Seils um einen Mauerpfosten. Das Seil ist um mehrere Hindernisse geschlungen, um Baumstämme und weitere Mauerteile. Misa behauptet, dass dies mein Gewicht so verteilen würde, dass sie mich spielerisch ablassen könnte. Ich sehe eher sehr viele Möglichkeiten, wie das Seil durch raue Baumrinde zersägt werden könnte.
Wir stehen an einer verfallenen Mauer, am Rand der Klippen, wo verwilderte Kirschbäume über dem Abgrund wachsen. Es ist ein kleiner, versteckter Ort, blumenbewachsen und im Sommer durch die dichten Blätter vor allen Blicken verborgen. Dieser Ort ist so etwas wie Misas Version von meinem Versteck auf den Klippen. Jetzt ist es ebenfalls eine Schwachstelle in der Mauer, die Aitlyn-LaKitan umgibt und somit mein Weg nach unten.
Ich bin nervös. Nicht nur, weil wir einem Entführer auf der Spur sind und nicht nur, weil ich davor stehe, mich viele Kilometer in die Tiefe zu stürzen, nur mit einem Seil gesichert. Sondern auch, weil ich zum ersten Mal seit langer Zeit nach Hause gehe.
„So, das muss reichen!“, Misa überprüft die Knoten, die sie gemacht hat und nochmals meinen eigenen, ungeschickten Knoten. Dann sieht sie mir in die Augen: „Du brauchst keine Angst haben, Wolf. Ich halte dich.“
Ich nicke, unfähig, viel zu sagen. Mit weichen Knien trete ich an den Rand der Klippen. „Ich beeile mich.“, verspreche ich. Ein Zog um meine Hüfte kündigt an, dass Misa das Seil auf Spannung bringt. Ich gehe rückwärts an die Klippen heran und lehne mich zurück, bis ich in der Schräge an dem höchsten Punkt der Klippen stehe, nur von dem Seil vor dem Absturz bewahrt. Ich stehe unsicher, von oben habe ich noch keinen Halt. Der wird erst kommen, wenn ich tiefer bin und das Seil auf dem Boden aufliegt. Ich fasse mit schweißnassen Händen das Seil und löse den ersten Fuß von der Klippe.
„Viel Glück.“, sagt Misa zu mir.
Ich mache einen Schritt nach unten und suche nach Halt an dem Stein. Das Seil spannt sich und legt sich dann langsam auf die obersten Felsen, während ich einen zweiten Schritt in die Tiefe mache. Misa stemmt sich mit aller Kraft in das Seil und lässt es nur langsam durch die Finger gleiten. Mit den Füßen an der Felswand arbeite ich mich immer weiter nach unten vor.
Ich bin noch nicht weit gekommen, als ich neben mir im Felsen eine Art Höhle entdecke. Ich gehe ein paar Schritte nach rechts, um sie mir anzusehen, doch einen wirklich guten Blick erhalte ich nicht. Es ist ein großer, dunkler Eingang, der tief in den Stein hineinzugehen scheint. Das Seltsame ist, dass die Höhle so hoch oben am Felsen liegt, nur einen Steinwurf unter Aitlyn-LaKitan. Mir weht ein Geruch entgegen: Cereceri! Dazwischen Fäulnis und Blut. Ich schaudere und entferne mich hastig von dem Loch, indem ich weiter nach unten klettere.
Seit wann gibt es Höhlen so weit oben? Ich hoffe, dass ich das niemals herausfinden muss, während tief unter mir die Holzschindeln der Ruinenhütten näher kommen.
Schließlich setze ich die Füße aufatmend in das Gras auf meinem kleinen Vorsprung in der Klippe. Misas Lieblingsplatz liegt zufälligerweise direkt über meinem Regenversteck. Das Gras ist höher geworden und die Brombeeren noch weiter gewuchert als bei meinem letzten Besuch. Zum Glück kann ich den Ligermenschen nirgendwo sehen. Ich löse das Seil um meine Hüfte und rucke zweimal daran, um Misa zu signalisieren, dass ich wohlbehalten angekommen bin. Das Seil ruckt zweimal als Antwort. Ich lasse es hängen, wo es ist und mache mich auf den Weg in die Ruinen.
Es ist seltsam, den Weg nach drei Monaten zurück zu laufen. Noch immer ist mir jede Biegung, jede Steigung und jede gefährliche Stelle vertraut. Gleichzeitig hat sich einiges verändert. Pflanzen sind stärker gewachsen und ohne meine regelmäßigen Besuche ist der Weg verwildert und mit Löwenzahn überwachsen. Pusteblumensamen wehen bereits durch die Luft.
Im Gehen pflücke ich ein paar wilde Brombeeren und sammele sie in einer kleinen Tasche, um sie Misa mitzubringen. Ein oder zwei...na gut, ziemlich viele esse ich auch selbst.
Als ich endlich die Ruinen betrete, überwältigt mich der Gestank nach Tieren und Menschen. Ich taumele ein wenig zurück und wäre beinahe vom Dach der Hütte gerutscht, über die ich den Weg auf die Klippen erreichen konnte. Die moosbewachsenen Holzschindeln sind rutschiger, als ich sie in Erinnerung habe.
Nach ein paar Schritten meldet sich meine Übung jedoch zurück, und ich trabe leichtfüßig über den Straßen dahin. Ich trage einen schwarzen Baumwollmantel über meiner normalen Kleidung, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Wie ein kleines Phantom husche ich im Licht der Vormittagssonne dahin. Es ist beinahe, als sei keine Zeit vergangen. Natürlich haben die ständig bewegten Ruinen ihr Gesicht verändert: Erdrutsche im nassen Schlamm haben Hütten einstürzen lassen und andere sind an ihrer Stelle aus dem Boden gewachsen. Die Lehmmauer ist noch ein bisschen tiefer in die Erde gesackt, und manche Häuser stehen krumm und schief, dass ich über die ehemals geraden Dächer rutsche. Doch mein Geschick hatte mich nicht verlassen und die Straßen sind immer noch die Gleichen. Schon nach wenigen Minuten habe ich das alte Steinfundament des Hafens erreicht, die Stelle, wo früher stolze Handelsschiffe angelegt haben.
Ich klettere die rutschige Erde hinauf, bis ich auf den faulenden Holzplanken stehe, auf denen früher ein Markt gewesen ist.
Eine alte Steintreppe führt noch immer in Richtung Aitlyn-LaKitan, doch sie ist durch Geröll unwegsam gemacht und mit Gittern abgesperrt. Unter der Treppe ist ein Hohlraum, den sich jemand mit einem Holzhammer geöffnet hat.
Ich ducke mich durch den unregelmäßig geformten Eingang und klopfe an den Stein: „Hallo?“
In dem Raum dahinter gibt es eine schräge Decke, die Unterseite der Treppen. Eine Matte liegt auf dem Boden und eine zusammengefaltete Decke daneben, eine alte Holzkiste und zwei Teller, einer flach, der andere eine Holzschale mit Tierfutter, bilden das restliche Mobiliar. Das Licht, das durch den Eingang fällt, beleuchtet Spinnweben, Staub und trockene Erde.
Eine Katze hebt den Kopf, als ich durch den Eingang gucke. Ihre grünen Augen fixierten mich für einen Moment, dann fährt sie damit fort, sich zu putzen. Sie ist auffällig gefärbt, größtenteils weiß, mit schwarzen Flecken um die Schnauze und am Schwanz, sowie einem dunkelbraunem Streifen auf dem Rücken. Als einzige Hauskatze interessiert es sie wenig, dass ich ein Hund bin.
Das ist Ziaz, das Haustier von Kento. Nur von Kento selbst ist keine Spur zu entdecken. Ich trete aus dem muffigen Raum nach draußen und setze mich auf einen alten Holzbalken, der wie eine Bank neben dem Eingang liegt. Um mich herum blühen Gänseblümchen.
Ich rieche Kento, bevor ich ihn sehe. Ich habe nur wenige Minuten gewartet, als er schon die Treppe hinunter gesprungen kommt. Er trägt schwarze Kleidung, einen weiten Mantel ohne Kapuze. Seine langen, weißen Haare fallen im frei über beide Schultern. Er lüftet einen breitkrempigen Hut und grinst mich schon von Weitem an: „Phosphor! Alle Welt hält dich für tot!“
Ich streife meine Kapuze ab, ohne mich zu fragen, wie er mich erkannt hat. Kento fasst mich lachen an den Schultern und zieht mich für einen Moment in eine feste Umarmung, die ich vollkommen perplex nicht erwidere: „Wo kommst du her, Streuner?“ Er betrachtet mein neues Halsband.
„Aus der Oberstadt.“, sage ich zögerlich. „Ich habe jemanden kennengelernt und wohne jetzt dort.“
„Ach, wir haben ein Mädchen gefunden?“, Kento zwinkert mir zu: „Nein, du brauchst nichts sagen. Es geht mich nichts an. Aber für einen Pyron hast du es hoch gebracht!“
Ich lächele schief. „Danke... denke ich.“
Kento lässt einen Beutel von der Schulter auf den Boden gleiten, den ich erst jetzt bemerke. Es scheppert leicht, als die Tasche auf dem Boden aufschlägt. Aus dem Versteck unter der Treppe erscheint Ziaz, streckt sich und schnuppert dann an dem Leinenstoff.
„Noch nicht, meine Liebe!“, Kento kniet sich neben die Katze und krault ihr den Kopf, bevor er zu mir hoch blinzelt: „Die Ehre deines Besuchs ist doch sicherlich nicht unserer tiefen Freundschaft geschuldet, Phosphor?“
Die grünen Augen von Kento verengen sich und seine Stimme werden plötzlich eine Nuance schärfer. Seine plötzlichen Gefühlswechsel erwischen mich immer noch unerwartet.
„Nein. Eigentlich brauche ich deine Hilfe.“, stammele ich aufrichtig.
Kento verschränkt die Arme: „Meine Hilfe, soso. Und was kriege ich dafür?“
Ich greife in meine Tasche und fische mit einer Hand etwa die Hälfte meiner gesammelten Brombeeren hervor. „Wie wäre es mit den hier? Frisch von den Klippen!“
Kento reißt mir die Beeren aus der Hand und grinst sie breit an. Ich säubere vorsichtig meine rot verfärbte Hand an meiner Hose. Die ersten fünf Beeren verschwinden, bevor ich blinzeln kann, aus Kentos Handfläche. Genießerisch kaut er: „Die sind perfekt! Es ist so ungerecht, dass die einzigen Brombeeren, die im Sommer schon wachsen, oben auf den Klippen sind. Du könntest ein Vermögen verdienen, wenn du sie verkaufst!“
„Vielleicht...“, murmelte ich. „Immerhin könnte jeder dort hinauf klettern, wenn er nur mutig genug ist.“
„Das hast du auch wieder recht. Das ist außer mir so ziemlich jeder.“, Kento ist ernst geworden. Er packt die Brombeeren sorgfältig in ein weißes Taschentuch und setzt sich auf den Holzstamm. Er klopft mit der Hand neben sich auf den Stamm: „Jetzt zu deiner Frage!“
Ich setze mich neben ihn und erzähle ihm in knappen Worten, jedoch ohne Namen zu nennen, wie Misas Vater entführt wurde und die Spur zu einem nach Lilien riechenden Mann führt.
„Kannst du mir irgendetwas über ihn sagen? Kennst du ihn?“, frage ich, als ich fertig bin.
Kento nickt düster. Die Haare fallen ihm in Strähnen ins Gesicht. „Ein Mann in langem Schwarz, mit einem Duft nach Lilien? Das muss der Geiger sein."
„Der Geiger?“
„Klappe, Phosphor.“
„Entschuldigung.“
„Also. Ja, der Geigenspieler. Kian Jecri. Ich kenne ihn zu meinem Leidwesen besser, als mir lieb wäre. Er ist ein Magier, und ein mächtiger noch dazu. Er ist oft in ähnliche Fälle verwickelt, bisher konnte man ihm jedoch nichts nachweisen. Jecri ist wendig wie ein Aal.“
Ich kann mein Glück nicht fassen. Nicht nur, dass Kento von dem Mann gehört hat - er kennt ihn sogar mit Namen! „Was weißt du sonst noch?“
„Er sitzt auf einem Haufen Silber. Angeblich hat er seine Finger in dubiosen Geschäften und stellt politische Bestechungsgelder. Manchmal nennt man ihn deshalb den Puppenspieler. Er hasst alle Cereceri, allerdings ist einer von uns sein Leibwächter, ein schwarzer Liger namens Comodos.“
Ich versteife mich: „Ein Liger? Schwarz mit roten Streifen?“
Kento nickt und betrachtet mich scharf aus seinen intelligenten Augen: „Kennst du ihn?“
Ich sehe ihn an: „Er hat bereits versucht, mich umzubringen, falls du das meinst.“
Kento schnaubt: „Das sieht ihm ähnlich. Nimm dich vor ihm in Acht, und vor Kian Jecri auch. Am besten, du läufst so weit fort, wie du nur kannst, wenn Comodos auf deiner Spur ist!“
Ich verschränke die Arme: „Ich werde nicht den Schwanz einziehen!“
Kento zuckt mit den Schultern: „Deine Beerdigung. Du findest Kian Jecris Geheimversteck in der alten Kathedrale. Aber ich warne dich ein letztes Mal, er ist mächtig. Er kann im Bruchteil einer Sekunde deinen Geist brechen und dich tun lassen, was er will.“
„Warum erzählst du mir dann, wo ich ihn finde?“, frage ich spöttisch. Kento zuckt mit einer Schulter, dann lächelt er plötzlich selig wie ein Kind und pfeift die Katze heran, die sofort auf seinen Schoß springt: „Willst du wissen, warum ich sie Ziaz genannt habe?“, fragt Kento.
„Was?“, entfährt es mir. Aber Kento hört mir nicht zu und erzählt weiter: „Im Mondlicht schimmert ihr Fell wie Silber, aber tagsüber hat der braune Streifen einen Goldstich. ››Ziz<< ist Silber, ››Zaz‹‹ ist Gold. ››Ziaz‹‹ ist Silbergold. Eigentlich müsste es ››Zizzaz‹‹ heißen, aber das klingt doof. ››Ziaz‹‹ gefiel uns besser. Es passt zu ihr, oder?“
„Ähm. Ja. Sehr schöner Name.“, ich stehe auf und klopfe den Staub aus meiner Kleidung.
Kento lächelt und winkt mir mit weiten Bewegungen: „Grüß deine neue Freundin von mir, Phosphor Pyron. Ich wünsche dir Glück!“
Ich nicke, winke zurück und beeile mich, wieder auf die Dächer zu kommen, erneut unter der Kapuze verborgen.
Kento war schon immer ein seltsamer Kauz, aber er kennt wirklich alles und jeden. Mir schwirrt der Kopf von den neuen Informationen.