Venedig, Juni 1256
Mit dem ersten Grau der Dämmerung vertäute Joran sein Boot neben Jacopos Sandolo am Kai, stieg an Land und machte sich auf den Weg zum Haus seines Dieners.
Jacopo bewohnte das ehemalige Haus der Familie Ferroni auf dem Lido. Ordelaf Ferroni hatte immer davon geträumt, ein Grundstück am Rialto zu erwerben und dort den neuen Stammsitz der Familie zu errichten. Was er mit zähem Willen und eiserner Entschlossenheit auch geschafft hatte. Wie stolz er gewesen war, als er Frau und Tochter über die Schwelle der Ca´Ferroni hatte führen können! Joran hatte dieses Ereignis verpasst, was ihm zu dem Zeitpunkt nicht sonderlich tragisch erschienen war. Wie hätte er auch ahnen sollen, welches Unheil ihm bevorstand?
Er war vollauf damit beschäftigt gewesen, seine Habe zu packen. Ordelaf Ferroni hatte ihm erlaubt, nach Akkon überzusiedeln, um dort eine Zweigniederlassung für den Handel mit der Levante zu errichten, die allein seiner Verantwortung unterstehen sollte. Er hatte in eine Zukunft geblickt, die sich glänzend und verführerisch vor ihm erstreckt hatte. Bis er Lucca begegnet war und seine Träume in tausend Splitter zerborsten waren.
Joran schnaubte. Lucca war tot und stellte kein Problem mehr da.
In seiner Schultertasche trug er die Reliquie aus Akkon. Er war sich noch nicht ganz sicher, welchen Preis er dafür verlangen sollte. Der Diebstahl war riskant gewesen und hätte ihn beinahe das Leben gekostet. Bis heute wusste er nicht, welchem glücklichen Zufall er die Gelegenheit zur Flucht verdankte. Im Grunde war ihm das Warum auch gleichgültig, einzig der Erfolg zählte. Allerdings hatte der Vorfall dazu geführt, dass ihm die Lust auf weitere Abenteuer dieser Art erst einmal gründlich vergangen war. Das Dumme daran war nur, dass alles, womit er sich bisher beschäftigt hatte, weit weniger profitabel war, als er es sich gewünscht hätte. In einer Stadt wie Venedig, wo die Handelsrouten der ganzen bekannten Welt zusammenliefen, war er nichts weiter als eine winzige Ameise im großen Volk der Händler und Kaufleute. Sicher, er war jung für einen Händler, aber weder hatte er ein Vermögen im Rücken, noch verfügte er über die Ressourcen und Kredite alteingesessener Handelshäuser.
Folglich musste er aus dem Verkauf genügend Profit herausschlagen, um einerseits freies Kapital zu haben, mit dem er sich in lukrative Unternehmungen einkaufen konnte und andererseits den Unterhalt seiner Schwester zu sichern. Leocadia lebte auf der Burg seines Halbbruders Renier, ein Arrangement, über das sie keineswegs glücklich war. Aber daran ließ sich nichts ändern, bevor er nicht als Kaufmann Fuß gefasst hatte. Gleich morgen würde er den Kommissionär seines Auftraggebers aufsuchen und dann - dann begann sein neues Leben.
Langsam schritt er den Trampelpfad entlang, um auf die dem Meer zugewandte Seite des Hauses zu gelangen. Eine hüfthohe Mauer aus Ziegelsteinen umschloss das Grundstück und Joran stemmte sich kurzerhand auf die Mauerkrone hoch. Zuerst konnte er seinen Arm kaum belasten, doch er begrüßte den Schmerz in der kaum verheilten Wunde, weil er seine Gedanken beschäftigte, die sonst anderswo gewesen wären. Ein wenig vorsichtiger ließ er sich auf der anderen Seite ins Gras gleiten und sah sich um.
Das Haus erschien ihm kleiner, als er es in Erinnerung hatte, niedriger und gedrungener, mehr wie ein Arbeiterhaus. Dafür war der Feigenbaum, auf halbem Weg zur Hintertür, jetzt so hoch gewachsen, dass er den halben Garten überschattete.
Es war kein Licht zu sehen. Doch Jacopo würde sicher schon aufgestanden sein und seine Morgensuppe verzehren, bevor er wie gewöhnlich seinen Rundgang machte, um die Schweine, Hühner und Gänse in den Gehegen entlang der Mauer zu füttern.
Jorans Herz raste und sein Atem ging schneller, während er zwischen den sorgfältig gejäteten Gemüsebeeten hindurch zur Hintertür des Hauses schritt. Was würde ihn erwarten?
Er drückte mit dem Unterarm gegen die Tür und diese wich knarrend zurück.
»Jesus!«
Jacopo schoss von seinem Schemel hoch und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Eindringling. »Joran! Va all´inferno! Könnt Ihr nicht klopfen?«
Joran trat in die Küche und schloss die Tür. »Ich habe dir doch geschrieben, dass ich komme.«
»Oh ja, das habt Ihr. In der Tat. Ohne Datum und so vage, dass ich nicht einmal wusste, ob Ihr dieses Jahr meint oder vielleicht erst das Nächste.«
Joran zuckte die Schultern, schlenderte betont lässig zum Herd und inspizierte den Topf mit Suppe, der dort leise vor sich hin köchelte. Er nahm eine Schale vom Wandbord, füllte sie mit Suppe und trug sie zum Tisch. »Sei so gut und gib mir ein Stück von deinem Brot. Ich bin hungrig.«
Jacopos Blick sprach Bände. Doch er griff nach dem halben Laib Brot auf dem Tisch und schnitt mehrere dicke Scheiben davon ab, die er Joran zuschob.
»Ihr seht aus, wie ein Pirat«, bemerkte er gallig. »Und Ihr riecht auch so.«
»Ich war vier Wochen auf See.«
Jacopo schnaubte. »Euer Vater würde sich in seinem Grab herumdrehen, könnte er Euch so sehen.«
Joran griff nach einer Brotscheibe. »Lucca? Wohl kaum.«
»Ich rede nicht von Lucca, wie Ihr sehr wohl wisst. Ihr solltet Euch wirklich abgewöhnen, den Bastard zu erwähnen. Ganz besonders in Gegenwart von Monna Marliana. Es wäre ihrer Gesundheit nicht zuträglich.«
Joran starrte auf seine Finger hinunter, die kaum merklich zitterten. Eilig legte er den Löffel in die Schale und versteckte die Hände im Schoß. »Wo ist meine Mutter?«
»Oben. Ich habe sie in ihrer alten Kammer untergebracht. Sie schläft noch.«
Joran sprang auf. »Ich muss zu ihr.«
»Halt!« Jacopo griff nach seinem Arm und hinderte ihn daran, die Treppe ins obere Stockwerk hinaufzustürmen. »So könnt Ihr Euch bei Eurer Mutter unmöglich sehen lassen, Messèr Joran. Eure verwilderte Erscheinung würde sie nur unnötig in Aufregung versetzen. Was Ihr besser nicht riskieren solltet.«
Joran erstarrte. »Was willst du damit sagen, Jacopo?«
Der Alte seufzte. »Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.«
»Jacopo! Raus mit der Sprache! Was ist mit meiner Mutter?«
Der Diener wies mit einer Handbewegung Richtung Tisch. »Setzt Euch und esst Eure Suppe, bevor sie kalt wird. Ich werde inzwischen Wasser heißmachen, damit ihr Euch waschen und rasieren könnt.«
»Du weichst mir aus. Seid wann bist du ein solcher Feigling?«
»Es besteht keine Veranlassung, mich zu beleidigen«, gab der Alte zurück. »Messèr Contarini konnte mir für den Fall Eurer Rückkehr keine Empfehlung gegeben und hat mir geraten, einfach meinem Gefühl zu folgen.«
Wütend machte Joran einen Schritt auf ihn zu. »Was soll das bedeuten?«
Jacopo musterte ihn kühl. »Es bedeute, dass ich versuche, Monna Marliana vor dem Schock zu bewahren, den sie zweifellos erleiden würde, bekäme sie Euch so zu Gesicht«, antwortete er. »Ihre Gesundheit ist angegriffen. Sie fürchtet sich entsetzlich vor allem Fremden und dieses Ziegenfell, das Ihr Euch habt stehen lassen, macht Euer Gesicht nahezu unkenntlich. Sie müsste nur einen Blick auf Euch werfen und der Tag wäre für sie verloren, bevor er auch nur begonnen hätte. Das kann ich nicht zulassen.«
»Mit anderen Worten, sie hat den Verstand verloren.«
»So würde ich es nicht bezeichnen«, widersprach Jacopo. »Es ist nur sehr leicht, sie aus der Fassung zu bringen. Sie weint dann sehr oft und weigert sich zu essen.«
»Weigert sich, zu essen ...« Joran fand, er müsse erschüttert sein, doch er stellte fest, dass er für Erschütterung zu erschöpft war. Er ging zum Tisch und ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Wie hast du sie gefunden?«
Jacopo ging zum Herd, schürte das Feuer und setzte einen Kessel mit Wasser auf.
»Das war nicht mein Verdienst«, sagte er. »Diese Ehre gebührt Renier Contarini.«
»So, so.«
»Über die nähern Umstände weiß ich nichts. Messèr Renier hat einen Brief für Euch hinterlassen, der erklärt, was Ihr wissen müsst. Ich hole ihn gleich. Esst derweil Eure Suppe.«