Er achtete nicht auf seine Umgebung. Wie ferngesteuert sprang er über Mauerreste hinweg und schlängelte sich durch zerfallene, mit Moos und Unkräutern überwucherte Gebäude und tückisches Unterholz. Alles was ihn trieb, war der Gedanke möglichst viel Abstand zwischen sich und diese gefährliche Verrückte zu bringen, bevor sie noch von einem psychotischen Schub gepackt wurde und ihm ein Messer in den Hals rammte.
Er hatte bereits das zweite längst verlassene Gehöft passiert, als er langsamer wurde und sich zum ersten Mal richtig umsah. Diese Umwelt war für Shane nicht ungewöhnlich. Er hatte schon zahllose Häuser, Dörfer, ja ganze Städte in diesem Zustand gesehen. Sie wurden nicht mehr gebraucht und so nicht instand gehalten. Früher musste es unglaubliche viele Menschen gegeben haben, wenn es eine Zeit gab, als diese Massen an Beherbergung einmal nötig waren. Doch die Krankheit hatte den Großteil dahin gerafft.
Es hieß, die Zivilisation hätte sich seit damals zurück entwickelt. Shane kam es manchmal so vor. Er lebte mit seiner Familie nie lange am selben Ort, oder im selben Haus. Herum streifende Banden und paramilitärische Gruppierungen terrorisierten alle, die es taten und zwangen sie für sich zu arbeiten oder zu Abgaben, wie Nahrung, im Tausch gegen Sicherheit. So waren die Ó Sheas und ihre Freunde zu Nomaden geworden.
Shane hatte bereits viel von der Welt gesehen. Das meiste tot, verlassen oder verrostet, doch er war fasziniert von den Technologien der Vergangenheit. Er streift durch Großstädte, die nur noch von wilden Tieren bewohnt waren, über aufgerissenen Asphalt, aus dem Gräser und Blumen wuchsen und versuchte sich vorzustellen, wie diese Stadt in allen Farben strahlte. Taghell erleuchtet in der Nacht, die Wege überfüllt von tausenden Menschen und die Straßen von Autos. Er fragte sich, was über diese riesigen Monitore flimmerte, die noch immer an den Außenwänden von Gebäuden hingen und was in den imposanten und kunstvoll konstruierten Theatern gespielte wurde.
Obwohl es noch immer fahrtüchtige Fahrzeuge gab, waren sie doch eine Seltenheit. Der Aufwand sie zu betreiben und betanken zu können, was so groß, dass es nur wenige Orte oder Organisationen gab, die welche besaßen. Es gab auch noch immer Strom, jedoch nicht in diesem Überfluss und nicht um jeden mit diesen kleinen Kommunikationsgeräten auszustatten, wie es einmal Gang und Gebe gewesen war. Shane hatte riesige Kraftwerke verrotten sehen, für die einfach die nötige Manpower fehlte. Doch in den fast allen größeren bewohnten Orten, hatte er Photovoltaikanlagen auf den Dächern oder in der Nähe auf Wiesen gesehen. Sogar Windmühlen und Wasserkraftwerke an Talsperren wurden gelegentlich noch betrieben, wenn sich die Siedlung drum herum hielt oder sogar eine Zuwanderung verzeichnete. Das war kam auch gar nicht so selten vor. Den Mensch zog es stets zu Seinesgleichen. Und kurz nach dem großen Sterben hatten die wenigen, die eine natürliche Immunität besaßen versucht einander zu finden. So hatten sie überlebt.
Doch es waren wenige. Noch immer. Und mit der Zahl der Menschen sank auch der Bedarf nach all diesen kleinen Gütern, die einmal selbstverständlich und bald unverzichtbar waren. Heute dagegen zählte es nur die elementaren Nöte zu befriedigen: Nahrung, Wasser, Wärme.
Ja... die Welt hat sich zurück entwickelt.
Erschöpft und außer Atem stolperte Shane durch das Gestrüpp. Er war schweißgebadet und immer wieder zerrten dornige Zweige an seinen Beinen, als wollten sie ihn zu Fall bringen. Er zog sich die Mütze vom Kopf, knöpfte das Hemd auf und wischte sich mit einem Zipfel das Gesicht trocken. Seine Lederjacke lag zurück gelassen noch immer am Bach, wie auch seine Fesseln. Nicht das er auch nur eines von beiden im Moment gebraucht hätte, doch sein Herz hing an der Jacke. Sie war uralt und hatte seinem Großvater gehört. Im Gehen krempelte er die Ärmel bis über die Ellenbogen und zupfte das Unterhemd aus der Hose. Es war klatschnass und klebte an der Haut.
Die Hitze und seine panische Flucht erschöpften ihn. Wie konnte ein Mädchen, das höchsten 18 Jahre alt und somit um einiges jünger als er selbst war, eine so irrationale Angst bei ihm auslösen? Er war locker einen Kopf größer als sie und so dünn wie sie war, konnte sie es in puncto Körperkraft auf keinem Fall mit ihm aufnehmen. Aber sie war flink, bewegte sich so leise und geschmeidig wie ein Luchs und hatte sich als ebenso skrupellos herausgestellt. Er hatte es bereits am eigenen Leib erfahren.
Doch vorhin, als sich ihr Gesicht nur Zentimeter entfernt von seinem eigenen befunden hatte, war kein Wahnsinn in ihren goldgelben Augen zu entdecken gewesen. Unwillig und zögerlich hatte sie sich hinter ihm versteckt und seinen Körper zum Schutz gebraucht. In dem Moment war nur Angst in ihrem Blick. Argwohn und Angst. Vor ihm und dem Jäger - den sie am Ende selbst zur Strecke gebracht hatte.
Vielleicht in eine Art Blutrausch?
Der Jäger hatte zuerst nach ihr gesucht. Sie hatte sich berechtigt bedroht gefühlt. Shane jedoch war nie Bedrohung gewesen, sie hatte dafür gesorgt. Sie hätte ihn sofort umbringen können, statt ihn nur bewusstlos zu schlagen. Doch das hatte sie nicht getan.
Dennoch war Shane nicht bereit das Risiko einzugehen, Opfer eines Blutrausches zu werden, wenn es denn einer war. Oder eines verrückten Killers.
Unvermittelt kam Shane zum Stillstand und starrte frustriert durch die Buchen vor sich.
"Scheiße."
Ein hoher Zaun aus dickem metallischem Draht versperrte ihm den Weg. Kreuz und quer war, zwischen mächtigen, vier meterhohen Betonpfeilern, dichter Stacheldraht verspannt.
Langsam trat er auf das Hindernis zu und entdeckte noch einen dritten Draht, der sich so regelmäßig wie die anderen, zwischen den Pfosten spannte. Er war so fein, dass er ihn erst auf kurze Distanz erkannte und sah gefährlich elektrisch geladen aus.