Flucht:
Tobias hasste es, getragen zu werden. In Momenten wie diesen, da Amy ihn keuchend durch den Wald trug, wurde ihm wieder deutlich bewusst, dass er niemals normal sein würde. Es würde immer nur eine Last sein, der Junge, der nicht rennen konnte, auf den alle Rücksicht nehmen mussten und den man nicht alleine lassen konnte.
Jetzt bremste sein Gewicht Amy aus. Er klammerte sich an das rothaarige Mädchen und konnte über ihre Schulter nach hinten sehen, wo die Finsternis zwischen den Baumstämmen lauerte.
Plötzlich zuckte er zusammen. Da hatte sich etwas bewegt! Etwas Großes folgte ihnen zwischen den Stämmen hindurch. Oder war es vielleicht doch nur eine Täuschung?
„Da vorne!“, rief Luca irgendwo vor ihnen. Tobias wusste, dass der Junge Samstag trug und sich offenbar an den Weg zu einem bestimmten Baum erinnerte. Tobias wusste nicht genau, um was für einen Baum es sich handelte.
Er spürte, wie Amy stolperte und nach Luft schnappte. Angestrengt verdrehte er seinen Hals, um nach hinten zu sehen.
Er konnte einen Blick auf einen Baum erhaschen, eine mächtige alte Eiche. Doch war von ihr nur wenig mehr als ein Baumstumpf geblieben, dessen gesplitterte Enden in den schwarzen Himmel ragten.
„Scheiße! Wir sitzen in der Falle!“, fluchte Luca.
Tobias landete unsanft auf dem Boden, als die erschöpfte Amy ihn fallen ließ. Karo und Luca ließen Sam auf den Boden gleiten. Luca und Amy sahen mit blassen Gesichtern zu dem Baum hin, der vielleicht noch hundert Meter entfernt war.
Die drei, die noch standen, wischten sich Schweiß von der Stirn.
„Luca, was machen wir jetzt?“, fragte Amy mit verzweifelter Stimme.
„Ich weiß es nicht“, Luca kniete sich neben Sam und rüttelte an dem schlafenden Mann.
„Sam! Sam, wach auf! Bitte!“
Doch Sam war offenbar endgültig ohnmächtig geworden. Tobias zitterte. Als er nach oben sah, trudelten Schneeflocken im Wind.
Amy spähte zurück in den Wald. „Der Baum ist ja wohl kein sicherer Ort mehr.“
Luca schüttelte den Kopf. „Wir müssen einen anderen Ort finden. Auf dem Boden sind wir zu angreifbar. Verdammt, Sam, lass uns nicht hängen!“
Amy schluckte, bevor sie fragte: „Lebt er überhaupt noch?“
Luca berührte vorsichtig Sams Hals, dann nickte er. „Aber er ist verflucht heiß!“
Tobias drehte sich zum Wald um, als er das Brechen eines Astes unter schwerem Gewicht hörte.
„Seid still!“, rief er. „Und hört auf zu fluchen, bitte! Ich habe das Gefühl, dass es sie nur anlockt!“
„Sie sind schon längst hier“, sagte Karo mit tonloser Stimme. „Dies ist ihr Reich, wir können ihnen nicht entkommen.“
Amy trat neben Karo. „Woher weißt du das denn so plötzlich? Und überhaupt, wir geben nicht auf, verstanden?“
Alle zuckten zusammen, als ganz in der Nähe ein lautes Heulen erklang.
„Der rote Wolf!“, rief Amy und hob einen Ast vom Boden auf, der allerdings so morsch war, dass er sofort auseinander fiel.
Karo schüttelte den Kopf. Sie sprach jetzt, als wäre sie in eine Trance gefallen. „Es ist ein schwarzer Wolf. Jason – oder Brandon. Er ist der schwarze Wolf.“
Karo machte ein paar Schritte von dem Baum weg. Amy fasste sie am Arm. „Karo. Karo, hörst du mich?“
Amys Stimme zitterte vor Angst.
Karo streckte einen Hand nach der Dunkelheit aus und murmelte wie im Traum: „Er ruft mich!“
Tobias musste den dreien den Rücken zukehren, denn jetzt knackten viele Äste im Wald. Mit weit aufgerissenen Augen sah er zu dem riesigen, pechschwarzen Wolf auf, der jetzt zwischen den Bäumen erschien. Zitternd vor Angst robbte Tobias rückwärts, während die großen, gelben Augen sich auf ihn, Sam, Amy, Luca und Karo richteten.
Dann, den Blick auf Karo ruhend, öffnete der Wolf das riesige Maul und sprach. Seine Stimme klang fast wie die eines Menschen, war aber unnatürlich tief und dunkel.
„Karo“, sagte der Wolf und wandte den Blick nicht mehr von ihr ab.