So betrat sie den Wald neben den vereisten Weihern und rief laut: „Wandernder Bär, wandernder Bär,“ in die Stille des Winters hinein. Eine Weile passierte nichts. Nathalie liess ihren Blick suchend herumschweifen. Die mit frisch gefallenem Schnee bedeckten, schwarzen Baumgerippe erhoben sich wie stille Wächter einer andren Welt über ihr. Nasskalter Schnee fiel vom grauen Himmel über den Wipfeln und die Schatten zwischen den kahlen Stämmen wirkten unergründlich.
Dann auf einmal der Schrei einer Krähe in unmittelbarer Nähe… und dann trat Wandernder Bär aus dem Unterholz. Er trug noch immer die gleichen Kleider und kam nun gemessenen Schrittes auf das Mädchen zu. „Du hast dich also entschieden Suna,“ sprach er mit ruhiger Gelassenheit. „Ja, das hab ich. Aber nenn mich bitte nicht bei diesem Namen. Ich bin Nathalie. Das Leben als Suna liegt in weiter Vergangenheit.“ Ein Leuchten erschien in den dunklen Augen des Indianers. „Du glaubst mir also?“ „Sagen wir mal so: Ich will es gerne glauben, doch noch habe ich zu viele Zweifel.“ „Zweifel sind da, um beseitigt zu werden.“ „Das sagt sich leichter als es ist. Ausserdem gehören auch Zweifel zum Leben.“ Der Indianer lächelte still in sich hinein, sagte aber nichts dazu. So sprach das Mädchen: „Jedenfalls will ich der Wahrheit auf den Grund gehen. Darum beschloss ich mit dir nach Amerika zu reisen. Erstmal nur für einen Monat, denn ich kann nicht einfach alles hier von heute auf Morgen aufgeben. Sollte ich das eines Tages tun, dann will ich ganz sicher sein, dass ich den richtigen Weg einschlage.“ „Das respektiere ich natürlich vollkommen,“ erwiderte Wandernder Bär mit freudiger Stimme.
Dann aber wurde er auf einmal ernst. „Du hast eine schwere Zeit hinter dir, nicht wahr?“ „Ja das kann man so sagen. Doch ich wusste auch lange nicht wirklich was zu tun war. Zum Glück hat mir meiner Urgrossmutter geholfen...“ Sie schaute den Indianer prüfend an, wusste er wohl etwas von ihrem Indianerblut?“ „Sie ist dir also begegnet?“ fragte er. „Ja, weisst du etwas über sie, wusstest du, das ich Indianerblut habe?“ „Ja. Ich kenne deine Urgrossmutter. Wir nennen sie „Mondblume“. Sie hat einst deine Grossmutter geboren, die in England aufwuchs und dann in der Schweiz ein neues Leben begann, als sie einen Schweizer heiratete. Du bist also schon die dritte Generation die hier lebt. Dennoch hast du stets gespürt, dass da noch mehr ist. Das war dein Indianerblut, das nun zwar etwas verwaschen wurde, aber immer noch besteht. Alles wird von einer höheren Macht- wir nennen sie auch die „geheimnisvolle Macht“ gesteuert. Das Blut der indianischen Ahnen fliesst durch deine Adern, das Blut der Animal Rider...“
„Das klingt wundervoll Wandernder Bär, aber ich muss erst noch von dieser Tatsache überzeugt werden. Darum komme ich mit dir nach Amerika. Vielleicht treffe ich sogar meine Urgrossmutter an. „Wir können sie besuchen, wenn du willst.“ „Wirklich!“ fragte Nathalie begeistert. „Ja. Sie und ich leben nicht weit weg voneinander. Wir haben uns auch schon öfters am Pow Wow getroffen. Dieses ist ein traditionelles Indianderfest. Man trifft dort auf Vertreter aller Indianerstämme, es werden alte Traditionen gepflegt, getanzt und über so manches ausgetauscht. Das Pow Wow ist schon bei vielen bekannt und immer wieder zieht es indianerbegeisterte Touristen dorthin. Mondblume ist eine Schamanin der Lakota Sioux, so wie ich ein Schamane selbiger bin. Wir erleben wieder ein richtiges Comeback in der Welt. Es gibt viele die sich für unsere Kultur interessieren. Manche meiner Brüder sagen zwar, all diese Indianerfreunde seien Sahneabschöpfer, die nur das Gute, die Romantik in der Indianerkultur sehen. Doch ich sage immer, dass dieses Interesse uns nur nützen kann, um eines Tages wieder aufzusteigen. Wir brauchen die Unterstützung der Welt, um unsere Anliegen unters Volk zu bringen. Auch wenn es eine gewisse Anpassung bedeuten mag. Doch unser Geist wird dennoch immer frei bleiben. Wir müssen einige Änderungen in Kauf nehmen, wenn wir die restliche Menschheit erreichen wollen. Die Indianer sind anders als die Weissen. Doch wenn wir uns alle bemühen, können wir uns vielleicht auf wunderbare Weise ergänzen lernen. Es gibt schon ein erwachendes Bewusstsein in der Welt, auch wenn einige pessimistische Stimmen das anders sehen. Doch ich bin nun mal ein unverbesserlicher Optimist. Ich glaube an die Worte, die einst vor unendlich langer Zeit Vater Krähe zu mir sprach: Eines Tages, nach einer Zeit grossen Leidens, werden die Allessehenden- die Animal Rider wieder aufsteigen und man wird ihrem Volk die Ehre erweisen. Das passiert bereits. Darum ist es nun auch an der Zeit alle vom Geschlecht der Animal Rider zusammen zu rufen, damit sie zu Lehrern für das Menschenvolk werden...“
Als Wandernder Bär das sagte, schien er weit entrück, wie in einem Traum gefangen. „Und du..,“ fragte Nathalie leise „glaubst also wirklich das ich zu diesen Allessehenden gehöre?“ Der Angesprochene erwachte aus seinen Träumereien und blickte das Mädchen nun ernst an. „Ich glaube es nicht nur, ich weiss es.“ „Aber woher nimmst du diese Sicherheit? Ich bin doch eigentlich ein ganz normales Mädchen. Ich habe keine besonderen Begabungen und Fähigkeiten.“ „Du hast sehr wohl grosse Fähigkeiten, aber sie liegen im Augenblick grösstenteils noch brach. Darum ist es sehr schön, dass du mit mir kommen willst. Ich werde dich in sehr Vieles einweihen und dir Dinge zeigen, die du dir nicht vorstellen kannst.“ „Warum vertraue ich dir eigentlich? Ich kenne dich ja kaum.“ „Oh doch, Cunksi (Tocher). Du kennst mich wohl, seit tausenden von Jahren.“ „Aber das könnte mir ja jeder erzählen.“ „Du spürst, dass es wahr ist, darum vertraust du mir.“
Nun gut, mag sein...,“ wich das Mädchen aus. „ich komme jedenfalls nach Amerika. Soll ich gleich für uns beide einen Flug buchen?“ „Mach dir um mich keine Sorgen, ich reise auf meine Weise. Ich habe dir hier einen Zettel, der dir die Reiseroute beschreibt. Am besten du fliegst nach New York und dann mit einer Innlandmaschine nach South Dakota. Ich werde dich dann im richtigen Moment wieder treffen.Vertrau mir und vertraue vor allem auch dir selbst! Bis bald!“ Mit diesen Worten verschwand der alte Indianer wieder dort wo er hergekommen war. Nathalie stand einen Moment lang etwas ratlos da und schalt sich selbst eine Verrückte, weil sie sich einfach so auf dieses Abenteuer einliess...
5. Kapitel
Nathalie hatte erstaunliches Glück. Sie erwischte gerade noch ein Last Minute Angebot. Natürlich musste sie auch noch ihre Eltern von ihrer kurzfristigen Reise überzeugen, denn diese waren immer sehr besorgt um ihre einzige Tochter. Doch der grosse Geist schien ihr gut gesinnt, ihre Eltern willigten ohne viel Aufheben ein.
Das Mädchen wurde nun immer aufgeregter und packte sogleich alles zusammen, was sie brauchte. Der Indianer hatte ihr geraten genug warme Kleider mitzunehmen, denn es konnte dort wo er lebte, recht kalt werden. Nathalie packte also mehrere dicke Pullis und wollene Strumpfhosen ein. Doch auch für schöneres, wärmeres Wetter war sie gerüstet.
Ein Tag, nachdem sie mit ihrem Lehrer Wandernder Bär gesprochen hatte, flog sie los.
Sie war sehr aufgeregt und gespannt was sie erwartete.
Es war für sie nich das erste mal, dass die flog, aber sie war bisher noch nie so weit gereist. Der Flug dauerte insgesamt acht Stunden. Es kam ihr doch sehr lange vor. Doch dann endlich entdeckte sie unter sich die Vereinigten Staaten. Sie kam in der Nacht an, wegen der Zeitverschiebung. Deshalb sah sie nicht sehr viel von dem fremden Kontinent unter sich. Es gab nur hellere und dunklere Flecken, einige mit Lichtern beleuchtet, einige nachtschwarz. Den Notizen, die ihr Wandernder Bär gegeben hatte nach zu urteilen, lag ihr Ziel im Staate South Dakota. Dieser befand sich in den Great Plains (den grossen Ebenen), die einst von den nomadisierenden Stämmen der Sioux bewohnt worden waren. Damals gab es noch etwa eine viertel Million Lakota, doch um 1900 herum nur noch etwa 100'000. Wandernde Bär lebte scheinbar nicht sehr fern der Black Hills, einer Gebirgskette inmitten weiter Prärie. Diese Gegend war Schauplatz der Schlacht am Little Big Horn und des Massakers von Wounded Knee, wo die Weissen einst am 29. Sept. 1890, 300 wehrlose Indianer abgeschlachtet hatten, gewesen. Eine heute für Touristen sehr beliebte Gegend, wie Nathalie durch einen Reiseführer erfuhr, den sie noch schnell gekauft hatte. Sogar ein Wörterbuch über die Lakota Sprache hatte sie dabei. Man wusste ja nie...
Sie wollte in einem preisgünstigen Motel in New York übernachten und dann am nächsten Tag den Innlandflug nach Rapid City, einer der grösseren Städte von South Dakota antreten. Dort würde sie ihr neuer- alter Lehrer wieder in richtigen Moment treffen. Nun mal sehen, wann dieser Moment war...
Sie wusste dass es in jener Rapid City viele Motels gab. Wandernder Bär hatte ihr sogar noch den Namen eines Motels aufgeschrieben, das scheinbar leicht zu finden war. Zum Glück konnte Nathalie Englisch, so musste sie wenigstens keine Verständigungsprobleme fürchten.
So verbrachte Nathalie also ihre erste Nacht im Big Apple(New York) von Amerika, der stets pulsierenden, niemals schlafenden Stadt. Fasziniert blickte sie aus dem Fenster ihres einfachen Motels auf ein gewaltiges Hochhaus mit etwas 40 Stockwerken. Die vielen tausend Lichter schienen trüb durch den Regen hindurch, der vom Himmel fiel. Das Wetter hier war kaum besser als daheim, nur dass es gerade nicht schneite. Nathalie bedauerte eigentlich etwas, dass sie diese weltberümte Stadt nicht näher besichtigen konnte, doch sie freute sich auch sehr mal die Great Plains zu sehen, wo die von ihr stets so bewunderten Indianer lebten.