Nathalie hatte in der Nacht einen seltsamen Traum: Sie ritt auf dem Rücken einen weissen Pferdes, das nur zwei schwarze Vorderläufe und einen dunklen Fleck auf der Stirn hatte. Sie besass keinen Sattel und lenkte das Pferd nur mit einem Halfter ohne Mundstück. Es war als wären sie und das Pferd eine Einheit. Es folgte jedem ihren Kommandos ohne Schwierigkeiten. Sein Gang war wiegend und sie fühlte sich wunderbar leicht, so als hätte sie kaum ein Gewicht.
Sie überquerten eine Wiese mit vielen tausend Blumen. Schmetterlinge gaukelten von Blüte zu Blüte. Einer von ihnen war besonders schön, er schillerte in allen Farben, als wäre ein Regenbogen in seinen Schwingen gefangen. Ohne ihr Dazutun, schritt ihr Pferd auf diesen Schmetterling zu. Dieser hielt in seinem Fluge inne und setzte sich dann zwischen die Ohren ihres Reittiers.
Auf einmal begann er zu sprechen: Seid gegrüsst, es ist schön dass ihr mich besucht.“ Nathalie erwiderte erstaunt: „Wer bist du?“ „Ich bin ein Bote der Verwandlung. Wie weit bist du schon verwandelt?“ „Was meinst du damit?“ „Ich werde es dir zeigen, komm!“ Der Schmetterling erhob sich nun wieder in die Lüfte und zeigte Nathalie eine Blume. „Ich hab hier meine Eier gelegt,“ sprach der Schmetterling und das Mädchen sah die weissen Eier auf den Blättern der königsblauen Blume. „Wie schnell werden sie wohl ausgebrütet sein? „Das weiss ich nicht,“ gab Nathalie zurück. „Doch du weisst es. Du als einzige weisst es.“ „Nein ich habe keine Ahnung.“ „Das ist eben dein Problem. Du willst es gar nicht herausfinden.“ „Ich würde schon gerne, aber ich weiss es wirklich nicht.“ „Weisst du denn was passiert, wenn die Eier reif sind?“ „Dann werden natürlich Raupen daraus schlüpfen, diese verpuppen sich dann und dann schlüpft der Schmetterling aus. Aber warum fragst du mich das alles?“ „Weil es damit zu tun hat was für dich im Augenblick von Bedeutung ist. Was bist du? Bist du Ei, Raupe, Puppe, oder gar...“ „Also ein Schmetterling sicher noch nicht,“ gab Nathalie zur Antwort. „Was aber bist du dann?“...
Das Mädchen hatte keine Zeit mehr zu antworten, den es erwachte nun aus seinem Traum.
Noch ganz in der Atmosphäre desselbigen gefangen, blickte sie hinauf zum Dachfenster über sich. Dieses war als helleres Viereck auszumachen, das den Blick auf einen wolkenlosen Sternenhimmel freigab. Nathalie war es ganz seltsam zu Mute. Sie lauschte in die Stille der Nacht hinein. Unter sich hörte sie die regelmässigen Atemzüge von Weisse Feder, deren Vater und von Wandernder Bär, der diese Nacht auch hier verbrachte. Die drei schliefen tief. Sie hörte das Feuer im Kamin knistern und weit in der Ferne glaubte sie ein Pferd schnauben zu hören. Was nur hatte dieser Traum zu bedeuten, was wollte er ihr mitteilen? Der Schmetterling hatte gefragt was sie sei. Was also war sie? Also ein Ei, so glaubte sie war sie wohl doch nicht mehr. Sie sah sich eher als eine Raupe, die bereits viel aktiver war. Sie frass viel, damit sie die Kraft der Verwandlung aufbringen konnte. Nathalie nahm ebenfalls immens viel an Nahrung zu sich, allerdings war ihre Nahrung geistiger Natur. Sie wurde gerade sehr Vieles inne und damit war es noch nicht vorbei. Sie wusste, dass da noch mehr auf sie wartete. Sie war auf dem Weg zur Puppe, doch bis sie ein Schmetterling war, würde es noch eine ganze Weile dauern. Denn, wurde sie zum Schmetterling, war ihre Verwandlung vollendet. Davon war sie aber noch weit entfernt...
Jedenfalls besass dieser Traum eine sehr wichtige Aussage. Vielleicht sprach sie ja mal mit Wandernder Bär darüber, oder... vielleicht sogar mit Schwarzes Pferd?
Wieder begann ihr Herz schneller zu schlagen, als sie an ihn dachte. Er hatte es ihr sehr angetan und sie wurde ganz kribbelig wenn sie daran dachte, dass er nun eine ganze Weile mit ihr arbeiten würde... Mit dem Gedanken an ihn schlief sie schliesslich wieder ein.
Am nächstnen Tag wurde sie von hellem Sonnenlicht geweckt. Gerade als sie aus dem Bett steigen wollte, kam Weisse Feder die Leiter hoch. Als sie sah, dass Nathalie bereits wach war, meinte sie fröhlich: „Guten Morgen! Das Frühstück ist fertig.Vater will bald mit dir auf die Weide. Er hat ein wunderschönes Pferd für dich ausgesucht, einen Mustang. Er wird dir gefallen.“ Mit diesen Worten ging das Indianermädchen wieder hinunter ins Wohnzimmer. Voll freudiger Erwartung, die von so manchem ausgelöst wurde, zog Nathalie alte, blaue Jeans und dazu ein ebenfalls ziemlich alten Pullover aus verschiedenfarbiger Wolle an. Es würde trotz Sonnenschein kalt da draussen sein. Immerhin waren die Winter hier noch strenger als in der Schweiz. Sie würde vermutlich so ziemlich den ganzen Tag im Freien sein und auch ziemlich schmutzig werden, wenn sie mit Pferden arbeitete. Sie kannte das noch von der Zeit als sie geritten war. Hoffentlich war sie noch in Form und machte sich nicht allzu lächerlich. Bestimmt hatte sie schon so manches vergessen... Noch über diese Dinge nachgrübelnd, kletterte sie die Leiter hinunter ins Wohnzimmer. Die andren drei sassen bereits am Tisch. Es gab ein schlichtes Frühstück mit fein duftendem Kaffee dazu.
Als Schwarzes Pferd sie freundlich anlächelte, verflogen ihre Ängste schlagartig. Er würde sich sicher als sehr verständnisvoll erweisen, wenn er ihr den Umgang mit den Pferden näher brachte. Sie konnte sicher viel von ihm lernen.
Die drei begrüssten Nathalie alle sehr herzlich. Sie baten sie Platz zu nehmen und bewirteten sie wie einen hohen Gast. Es war dem Mädchen fast peinlich. Womit hatte sie das bloss verdient?
„Heute werde ich dir dein Pferd vorstellen,“ sprach Jonathan schliesslich mit einem Leuchten in den Augen. „Es wird dir gefallen. Ich finde es passt sehr gut zu dir. Ich habe schon ein wenig mit ihm gearbeitet, doch es gibt da noch viel zu lernen. Er muss sich schliesslich auch noch an dich gewöhnen. Damit er dich mal als itancan anerkennt. Das ist, wie ich dir schon mal sagte das sogenannte Leitpferd. Jede Herde hat bei den Mustangs diesen itancan. Alle Mitglieder der Herde folgen ihm, denn sie wissen, dass er immer ihr bestes im Sinn hat. Wenn du dich mit einem Pferd zusammentust ist es als ob ihr eine kleine Zweierherde bilden würdet. Stimmt dieses Verhältnis, dann wird dein Pferd dir überall und bei allem folgen. Ich habe Blackfeet (Schwarzfuss), wie wir dein Pferd nennen aus einer der neuen Mustang Herden die wir gerade eingefangen haben. Es ist also ein Er?“ fragte Nathalie. „Ein Hengst?“ „Nein, er ist ein Wallach. Wallache sind etwas ruhiger, als Hengste. Blackfeet hat einen guten, eher ausgewogenen Charakter. Wenn du erst sein Vertrauen gewonnen hast, ist er sehr lernwillig. Aber natürlich braucht es Zeit bis aus einem Wildpferd ein Rettier wird. Darum habe ich bereits begonnen ihn an gewisse Dinge wie das Halfter, die Satteldecke und die andern Hilfsmittel zu gewöhnen. Er akzeptiert noch nicht alles, aber hat schon Fortschritte gemacht. Nach dem Essen beginnen wir gleich mit dem Training!“
Es dauerte nicht lange und Nathalie trat in Begleitung von Schwarzes Pferd hinaus in die kalte Morgenluft. Es war jetzt sieben Uhr. Nathalie trug eine warme, braune Winter-Lederjacke mit hellem Innenfutter ein Paar schwarze, lederne Handschuhe und ein wärmendes Stirnband um den Kopf. Jonathan war heute auch ganz anders gekleidet. Anstatt dem Festgewand mit den Fransen und Stickereien, trug er nun eine dunkelbraune, abgewetzte Lederjacke und einen hellen Cowboy Hut mit einem einfach bestickten Zierband. Reiter- Handschuhe schützen seine Hände vor der Kälte und lederne Beinschützer sein Jeans vor übermässiger Abnutzung.
Er wirkte sehr männlich und stattlich, fand Nathalie bewundernd. Sie blickte ihn von der Seite her an, als sie über eine zerzauste Wiese Richtung Haupthaus schritten. Er wirkte heute ernster, in sich gekehrter als gestern. Es war, als würde er über manches nachgrübeln. Vielleicht darüber wie er Nathalie den Umgang mit Pferden am besten näherbringen konnte, vielleicht aber auch... über das... was ihn und Nathalie sonst noch verband. Bei diesem Gedanken zogen sich ihre Bauchmuskeln erneut zusammen. Als sie sich verlegen abwenden wollte, schaute der Indianer gerade in ihre Richtung. Erneut erhellte ein Leuchten sein Gesicht und er meinte freundlich: „Ich hoffe ich kann meine Aufgabe gut erfüllen. Immerhin... habe ich eine „Animal riderin“ als Schülerin. Das ist schon etwas eigenartig. Ich soll dich Dinge lehren, die du doch eigentlich bereits beherrscht, den Dialog zu führen mit den Tieren...“ „Ich beherrsche das noch nicht wirklich,“ erwiderte das Mädchen. „Auch sehe ich mich noch keineswegs als Animal riderin, auch wenn dies mein Erbe sein soll. Du kannst mich sicher eine ganze Menge lehren, mit den Erfahrungen die du schon hast. Ich bin jedenfalls sehr froh, dass du mein Lehrmeister bist. Ich hätte nie gedacht, dass ich es so gut treffen würde. Ihr habt euch meiner so nett angenommen. Pilamaya ye!(Vielen Dank, von Frauen gesprochen). Jonathan lächelte warm und erwiderte: „Pilamaya yelo (Vielen Dank, von Männern gesprochen), dass Du hier bist. Es ist eine Ehre für uns.“ Nathalie wurde erneut verlegen und lief rot an. Sie mochte es nicht, wenn man sowas sagte. Sie war nun wirklich nichts Besonderes.