Die beiden gingen nun am Haupthaus und den Stallungen vorbei. Links und recht befanden sich Koppeln mit den unterschiedlichsten Pferden. Die meisten von ihnen waren eher gedrungen, allerdings sehr kräftig gebaut. Mit dichtem Fell und vom Wind zerzausten Mähnen. Es gab alle Farbschattierungen von dunkel bis hell, mit Flecken oder einfarbig. Immer wieder begegneten ihnen andere Ranchmitarbeiter, die sie jeweils freundlich grüssten. Jonathan schien beliebt zu sein, denn er wechselte mehrmals einige Worte mit den Leuten, oder rief ihnen etwas Nettes zu. Das wurde natürlich erwidert. Auch ein paar Indianer kreuzten ihren Weg, doch keiner von ihnen konnte Schwarzes Pferd von Aussehen und Ausstrahlung her das Wasser reichen fand Nathalie. War das vielleicht, weil ihre Wahrnehmung im Bezug auf ihn schon von einer rosa Brille getrübt wurde? „Der einzige...der es vielleicht mit ihm hätte aufnehmen können ist Marc,“ ging es ihr plötzlich durch den Kopf. „Er ist zwar kein Indianer, aber... doch was denke ich noch über ihn nach? Dieses Thema ist für mich erledigt!“ Jonathan meinte jetzt: „Blackfeet ist in einer separaten Koppel. Ich habe ihn heute früh morgens von seiner Herde getrennt, damit ihr euch ganz in Ruhe miteinander bekannt machen könnt.“
Sein Blick wurde auf einmal ernst und er meinte: „Bei uns ist es üblich... dass das Pferd sich seinen Menschen erwählt. Sollte dich Blackfeet, wider erwarten ablehnen, dann müssen wir eine andere Lösung suchen.“ Dieser Gedanke behagte dem Mädchen nicht, doch sie war optimistisch. Voller Spannung folgte sie deshalb Jonathan zu einem kleineren Gehege, hinter einem der Ställe.
Als sie Blackfeet schliesslich auf der Weide grasen sah, hielt sie verdutzt inne. Dies war das Pferd aus ihrem Traum!! Völlig entgeistert musterte sie den Mustang. Der Indianer sah das und fragte besorgt: „Was ist mit dir? Gefällt er dir nicht?“ Eine plötzliche Rührung ergriff das Mädchen und sie meinte mit erstickter Stimme: „Doch, doch! Er...ist das schönste Pferd auf der ganzen Welt! Ich habe die letzte Nacht genau von diesem Mustang geträumt! Ich fasse es einfach nicht!!“ „Du... hattest einen Traum von Blackfeet?“ „Ja!“ sprach Nathalie nun mit Tränen in den Augen. „Er war es, genau dieses Pferd mit dem weissen Fell, den beiden schwarzen Vorderläufen und dem schwarzen Fleck auf der Stirn.“
Nathalie war nun nicht mehr zu halten. Sie lief zu dem Gehege und streckte ihre Hand aus. Blackfeet hörte sogleich auf zu grasen und hob seinen edlen Kopf mit den warmen, braunen Augen. Er spitzte seine Ohren und blickte unverwandt in ihre Richtung. Seine weichen Nüstern blähten sich dabei ganz leicht. Nathalie sandte ihm Gedanken der Zuneigung und der Freude. Auf einmal, als hätte das Pferd ihre Gedanken aufgenommen, setzte er sich in Bewegung und trottete an den hohen, aus Baumstämmen gefertigten Zaun. Vertrauensvoll schnupperte er an ihren Hand, seine Nasenhaare kitzelten sie dabei leicht. Nathalie war zutiefst bewegt. Es war als würde ihr Herz weit aufgehen und ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchströmte sie. Blackfeet hatte sie angenommen! Er war wirklich ihr Pferd!
Jonathan schaute erstaunt und berührt zu, wie schnell Blackfeet sich mit diesem Mädchen angefreundet hatte, obwohl er eigentlich noch gar nicht richtig zahm war. Ob er wohl das Zeichen der Animal Rider an ihr wahrgenommen hatte? Jedenfalls merkte der Indianer, dass etwas ganz Besonderes zwischen dem Pferd und dem Mädchen stattgefunden hatte. Nathalie sagte, sie habe von Blackfeet geträumt, das musste ja ein Zeichen sein.
Ganz vorsichtig, als wolle er um keinen Preis die wunderschöne Atmosphäre zerstören, fragte er: „Du sagtest du kennst Blackfeet bereits?“ „Ja,“ erwiderte Nathalie, mit weit entrückter Stimme. „Ich sah genau diesen Mustang... letzte Nacht in meinem Traum.“ Sie tätschelte liebevoll den weichen, muskulösen Hals des Tieres. „Ich bin auf ihm geritten, ohne Sattel und ohne Trense. Wir waren auf einer wunderschönen Blumenwiese und da war… dieser Schmetterling.“ „Ein Schmetterling?“ „Ja. Er fragte mich seltsame Dinge...“ „Willst du es erzählen?“ „Ja klar. Er fragte mich, was ich sei, ob Ei, Raupe, Puppe oder gar Schmetterling.“ „Was hast du geantwortet?“ „Dass ich sicher noch kein Schmetterling bin. Danach war der Traum fertig. Ich weiss nicht genau was das bedeuten sollte. Ich dachte dann darüber nach und kam zum Schluss, dass ich wohl erst erkennen muss, wo ich überhaupt stehe und was die nächsten Schritte sind. Doch das liegt irgendwie noch im Dunkel.“ „Du solltest diesen Traum ernst nehmen,“ meinte Schwarzes Pferd nachdenklich. „Er hat für dich eine wichtige Aussage. Ich glaube das du deinem ersten Totem begegnet bist.“ „Einem Totem?“ „Ja ein Helfer der dir den Weg weist. Kimimala- der Schmetterling steht für die Seele, den Wandel, die Eneuerung und die Weiblichkeit. Begegnet Kimimala einer Frau, so sagen wir Lakota, kann diese Medizinfrau des Körpers und des Geistes werden. Ich finde das passt zu dir. Kimimala will dir etwas Besonderes mitteilen, lausche auf seine Worte, seine Kraft ist für dich von grosser Bedeutung!“ Nathalie schaute zu Blackfeet herüber. „Er war es eigentlich, der mich zu diesem ersten Totem geführt hat. Was mag das bedeuten?“ „Es bedeutet wohl, dass ihr euch schon, bevor ihr euch getroffen habt kanntet. Das ist auf jeden Fall eine sehr gute Voraussetzung, wenn du mit Blackfeet arbeiten willst.“ Nathalies Interesse war nun wieder geweckt und sie fragte. „Was tun wir als erstes?“ „Als erstes werden wir mal schauen wie Blackfeet auf dich reagiert, wenn du zu ihm ins Gehege hinein gehst. Ich komme mit, denn er kennt mich schon etwas. Allerdings werde ich mich etwas zurückhalten, dass ihr euch ganz in Ruhe beschnuppern könnt. Danach wirst du mal einen ganzen Tag und eine ganze Nacht lang mit deinem Pferd verbringen, damit du es richtig kennen lernst. Das ist die erste vielleicht sogar wichtigste Übung. Komm!“
Jonathan öffnete die Tür der Koppel und trat langsam mit Nathalie ein. Blackfeet wurde nun etwas nervös. Er trabte einen Weile dem Zaun entlang und umkreiste die beiden Menschen stets mit dem Blick auf sie gerichtet. Nathalie wusste instinktiv, dass sie dem Tier durch Gedanken und Gebaren das Gefühl des Vertrauens vermitteln musste. „Komm nur zu mir,“ rief sie ihm in Gedanken zu. „Ich bin dein Freund. Hab keine Angst!“ Auf einmal, als hätte es erneut ihre Gedanken aufgenommen, hielt das Pferd in seiner Bewegung inne und fixierte das Mädchen. Seine Ohren waren dabei gespitzt, ab und zu legte es eins seiner samtigen, weichen Lauscher etwas nach hinten. Das, so wusste sie von ihrer Reiterzeit war ein Zeichen der positiven Haltung des Pferdes. Wenn es beide Ohren nach hinten gelegt hätte, steif dagestanden wäre und sie misstrauisch gemustert hätte, wäre das wohl ein Zeichen gewesen, dass Blackfeet sie nicht mochte, oder ihr zu sehr misstraute. Das aber war zum Glück nicht der Fall. Er war sehr interessiert an ihr, aber noch war da seine angeborene Vorsicht, der viele sogenannte Fluchttiere auszeichnete. Sie streckte nun erneut ihre Hand aus und spach mit sanfter Stimme: „Komm nur, ich tu dir nichts.“ Jonathan hielt sich etwas im Hintergrund und beobachtete die beiden. Er schien zufrieden zu sein, denn er erteilte Natahalie keine Anweisungen. Langsam ging das Mädchen nun einen Schritt nach vorn, hielt dann wieder inne. Blackfeet blieb noch immer stehen. Erneut sprach sie mit ihm und steckte ihm ihre Hand entgegen. Und dann auf einmal geschah es! Blackfeet setzte sich in Bewegung und trottete auf sie zu. Immer noch vorsichtig schnupperte er an ihrer Hand. Ging dann jedoch erneut einen Schritt zurück. Nathalie wusste, dass es noch etwas Geduld brauchte, behielt ihre Hand aber ausgestreckt. Erneut wagte das Pferd daran zu schnuppern. Jonathan trat nun ebenfalls langsam näher und steckte dem Mädchen einen Belohnungswürfel aus gepresstem Hafer hin. Sie nahm ihn und bot ihn Blackfeet an. Dieser nahm ihn und entspannte sich nun immer mehr. „Versuche ihm jetzt mal den Hals zu streicheln!“ wies sie Schwarzes Pferd an. Das Mädchen tat wie ihr geheissen. Blackfeet liess es geschehen. Erneut ergriff sie grosse Freude. Bestimmt würde alles gut werden. Der Indianer holte nun ein Halfter, das am Zaun hing, währen Nathalie und das Pferd in der Mitte des Geheges stehen blieben. Das Mädchen streichelte immer wieder die samtenen Nüster, die Nase und den Hals des Tieres. Anfangs hatte dieses noch leicht unter ihrer Berührung gezittert, doch nun war es ganz ruhig geworden. Es spitze seine Ohren und senkte etwas verträumt seine Augenlider, was Zufriedenheit ausdrückte. Nathalie war wie in Trance. Sie betrachtete traumbefangen das schneeweisse, weiche Fell von Blackfeet, das im Sonnenlicht wie Bergschnee glänzte und strich immer wieder über die schwarze Blesse auf seiner Stirn. Auf einmal erklangen in ihrem Herzen die Worte ihres Lehrers Wandernder Bär: Schwarzer Hengst kommt von da wo die Leere wohnt, Weisser Hengst aber ist der Bote aller Pferde, die Verkörperung des ausgewogenen Medizinschilds... War es Zufall, dass Jonathan gerade diesen Mustang für sie ausgesucht hatte, ein weisser Mustang mit schwarzer Zeichnung? Was sollte ihr das sagen?...